DFB-All-Stars
Schürrle: "Innere Freude und Seligkeit hängen nicht immer an den großen Erfolgen"

Flanke Schürrle, Tor Götze, Weltmeister Deutschland. Im Finale der WM 2014 hatte André Schürrle seinen wichtigsten Ballkontakt, die WM in Brasilien war für ihn der Höhepunkt seiner Karriere. In Brasilien hat Schürrle viele gute Spiele absolviert, sein bestes Länderspiel allerdings ist nicht dabei. Im Rahmen der Serie "Mein bestes Länderspiel", spricht der heute 34-Jährige über ein Spiel gegen Schweden, über seine Karriere und über sein aktuelles Leben, in dem der Sport noch immer eine große Rolle spielt.
DFB.de: Wie datensicher sind Sie, Herr Schürrle? Haben Sie Ihre Statistiken in der Nationalmannschaft parat?
André Schürrle: Gar nicht.
DFB.de: Sie wissen nicht, wie viele Länderspiele Sie absolviert und wie viele Tore Sie geschossen haben?
Schürrle: Tatsächlich nicht, nein. Ich weiß es nur grob. Mehr als 50 Länderspiele sind es auf jeden Fall. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen: 55 oder 56, vielleicht 57. Auch bei der Zahl meiner Tore bin ich nicht sicher, 22 oder 23.
DFB.de: 57 stimmt, und 22 ist richtig. Spiel Nummer 28 davon fand am 15. Oktober 2013 in Solna gegen Schweden statt – es sollte Ihr bestes Länderspiel werden. Hat man als Spieler vor Spielen eine Ahnung, ein Gespür – heute läuft's gut?
Schürrle: Jain, ein bisschen, aber irgendwie auch nicht wirklich. Man spürt grundsätzlich, ob man fit und gut drauf ist, ob die Routinen und Abläufe passen. Beim Aufwärmen auf dem Platz kann man ein gutes Gefühl für das Stadion und die Stimmung bekommen. Aber ich habe in meiner Karriere auch erlebt, dass die Eindrücke täuschen können. Manchmal fühlte ich mich vor dem Spiel leicht und im Spiel schwer, umgekehrt genauso. Auf dieses Vor-Spiel-Gefühl war nie Verlass.
DFB.de: Wie wichtig ist die erste Aktion, der erste Ballkontakt für die Leistung im Spiel?
Schürrle: Auch das lässt sich nicht pauschal sagen. Es kommt immer auf die mentale Tagesform an. Wenn man zu 100 Prozent da ist, spielt eine misslungene Aktion zu Beginn keine große Rolle. Ein erster Fehlpass oder ein Ballverlust beim Dribbling sind unwichtig, wenn die Überzeugung in die eigene Stärke groß genug ist. Dann gibt es auf dem Platz wenig, das einen erschüttern kann.
DFB.de: Wie war das am 15. Oktober 2013? Wie konkret sind Ihre Erinnerungen noch an die Stunden vor dem Spiel?
Schürrle: Es waren damals die gewohnten Abläufe: Frühstück, Mittagsschlaf, Anschwitzen, die Besprechungen. Ich weiß noch, dass ich mich am Spieltag behandeln ließ. Ich war bei einem der Physios, der meine Verspannung im Nacken löste. Aber ich war gut drauf, in dieser Phase grundsätzlich und auch an diesem Tag. Ich erinnere mich auch noch an die Musik, die ich damals gehört habe. Vor dem Spiel lief bei mir Martin Garrix' "Animals", Techno. Ich weiß es noch, weil ich diesen Track danach immer wieder vor Spielen gehört habe, in der Hoffnung, dass sich "Schweden" wiederholen könnte.
DFB.de: Sie haben von Beginn an gespielt. Wann hat Joachim Löw Sie und die Mannschaft über die Startformation informiert?
Schürrle: Üblicherweise war es so, dass Jogi vor der Mannschaftssitzung am Spieltag die Gespräche mit den Spielern geführt hat. Nicht mit allen, aber mit denen, bei denen ein Einsatz in der Startelf nicht sicher war. So war es in dieser Phase bei mir. Und so wird Jogi auch vor dem Spiel gegen Schweden mit mir gesprochen haben. Wir hatten immer einen guten Kontakt, grundsätzlich, aber in dieser Zeit war es noch mehr als sonst. Nach meinem Wechsel nach Chelsea hat er sich gerade zu Beginn oft bei mir gemeldet. Für mich war es wichtig, dieses Band zu haben.
DFB.de: Sie hatten eine gute Phase damals. Das Spiel gegen Schweden folgte auf die Partie gegen Irland, in der Sie beim 3:0 einen Treffer erzielten und viel Lob bekamen.
Schürrle: Ich erinnere mich noch an diese Wochen, bei mir lief es damals auf vielen Ebenen sehr gut. Dann fliegt man ein bisschen, das Selbstbewusstsein ist riesig. Ich habe unter José Mourinho bei Chelsea viele Spiele gemacht, dadurch steigt auch das Standing in der Nationalmannschaft. Dann treffe ich gegen Irland, irgendwie passte alles, meine Brust war breit in diesen Tagen.
DFB.de: Sie waren wenige Monate zuvor aus Leverkusen zum FC Chelsea gewechselt. Über den Druck, mit dem Trainer Mourinho dort gearbeitet hat, haben Sie mehrfach kritisch gesprochen.
Schürrle: Er hat viel mit Druck gearbeitet, mit Angst. Ich habe das oft kritisiert, das stimmt. Aber mit noch mehr Abstand sehe ich es differenzierter und spreche anders darüber. Denn: Wie soll es anders sein, im Spitzensport, bei einer Mannschaft mit der Qualität und den Ambitionen von Chelsea London? Wer sich dort durchsetzen will, muss mit Druck umgehen und Ängste aushalten können. Dort, wo die Besten aufeinandertreffen, wird es immer Druck geben. Und das muss auch so sein. Wenn man Leistung auf diesem Niveau steigern will, halte ich es nicht mehr für verwerflich, bewusst mit Druck zu arbeiten. Ich hatte damals noch nicht die Werkzeuge, das komplett zu verstehen und für mich zu nutzen. Gerade in schwierigen Phasen fiel es mir schwer, damit umzugehen. Es gab aber auch die Konstellation, dass ich den Druck in guten Phasen für mich nutzen konnte. Trainer haben für eine Leistungssteigerung ihrer Spieler unterschiedliche Hebel, Druck gehört dazu, und ich verteufele das nicht mehr. Außerdem weiß ich: Ohne das Ganze hätte ich nicht die Karriere gehabt, wie ich sie hatte. Daher bin ich dankbar, auch José Mourinho und seinen Methoden. Der Druck hat mich manchmal fast zerbrechen lassen, aber genauso hat er für die Momente gesorgt, in denen ich am meisten gewachsen bin.
DFB.de: Druck gab es auch in der Nationalmannschaft. Sie und andere haben das DFB-Team dennoch gerne als Wohlfühloase bezeichnet. Worin genau liegt der Unterschied zum Verein und konkret bei Ihnen zum FC Chelsea?
Schürrle: Die Welten lassen sich nicht vergleichen, aus vielen Gründen. In meiner gesamten Karriere hat es mir immer sehr geholfen und gutgetan, zur Nationalmannschaft zu gehen. Dort gab es gewachsene Verbindungen, enge Vertrauensverhältnisse, auch Freundschaften. Zu Jogi hatte ich immer ein großartiges Verhältnis, genauso zu Hansi und zu vielen der Betreuer. Außerdem war es so, dass bei der Nationalmannschaft andere mehr im Fokus standen. Wir hatten Stützen in der Mannschaft, große Spieler, die die Last getragen haben. Was man auch sehen muss: Wir waren damals fast durchgehend im Flow, wir waren einfach sehr stark und haben fast alle Spiele überzeugend gewonnen. In dieser Mannschaft hatte ich meine Rolle gefunden, konnte dem Team immer wieder mit meinen Fähigkeiten helfen, ohne dass die gesamte Last auf meinen Schultern gelegen hätte. Das war bei Chelsea auch so, dennoch ist die Perspektive im Verein eine andere. Vielleicht kann man es so sagen: In der Nationalmannschaft sind Spieler weniger Individualisten, die Ich-Bezogenheit im Verein ist größer.
DFB.de: Das Spiel gegen Schweden stand auch unter dem Vorzeichen des 4:4 aus dem Hinspiel, in dem das DFB-Team binnen 30 Minuten aus einem 4:0 ein 4:4 werden ließ. Inwieweit war diese Partie Thema in der Mannschaft und in den Köpfen der Spieler? Wie war es bei Ihnen?
Schürrle: Detailliert weiß ich das nicht mehr. Ich glaube, dass wir uns davon freigemacht haben, zu viel an dieses Spiel zu denken. Ganz sicher wird es im Vorfeld medial eine Rolle gespielt haben, aber soweit ich mich erinnere, haben wir das intern nicht groß thematisiert.
DFB.de: Das Spiel begann alles andere als gut. Deutschland dominierte, Schweden traf, nach 42 Minuten stand es 0:2. Wie haben Sie die ersten 42 Minuten wahrgenommen?
Schürrle: Ich weiß noch, dass wir nicht so richtig verstanden haben, warum wir jetzt mit 0:2 zurückliegen. Eigentlich haben wir als Mannschaft ein gutes Spiel gemacht und auch ich persönlich hatte schon in der ersten Halbzeit einige gelungene Aktionen. Aber wir haben uns nicht belohnt und dann ist es im Fußball ja häufig so, dass dies bestraft wird. So war es auch in diesem Spiel, zwei Mal nicht aufgepasst und zack, steht es 0:2.
DFB.de: Mesut Özil verkürzte damals kurz vor der Pause zum 1:2. Welchen Anteil hatte dieser Treffer am weiteren Spielverlauf?
Schürrle: Die Floskel vom psychologisch günstigen Zeitpunkt trägt viel Wahrheit in sich. Wenn man kurz vor der Pause ein Erfolgserlebnis hat und den Anschluss markiert, dann nimmt man diese Energie, dieses Positive mit. Das Tor war daher superwichtig.
DFB.de: Die Konstellation war damals, dass Deutschland das Ticket für Brasilien schon sicher hatte und als Gruppensieger feststand. Auf dem Spiel standen aber diverse Bestmarken und Serien. Der Mannschaft fehlten noch zwei Tore bis zur Bestmarke von 33 Toren aus der Qualifikation für die WM 1982. Auch galt es, die erste Auswärtsniederlage in einem Qualifikationsspiel seit 1934 zu verhindern. Wie relevant ist so etwas für die Spieler?
Schürrle: Eine kleine Rolle spielt so etwas schon. Man will nicht zu der Mannschaft gehören, die die erste Quali-Niederlage kassiert, man will zur Mannschaft gehören, die die meisten Tore innerhalb einer Quali geschafft hat. Es ist nicht so, dass solche Themen überragend wichtig sind, aber im Hinterkopf hat man so etwas.
DFB.de: Dann mal rein in Halbzeit zwei und damit in die Schürrle-Show. Sie sind beteiligt am 2:2 durch Ihren Kumpel Mario Götze (53.), indem Sie auf der linken Außenbahn einen Angriff initiieren und zwei Spieler ins Leere laufen. Vier Minuten später schießen Sie Deutschland in Führung. Haben Sie diese Sequenz noch im Kopf?
Schürrle: Ich meine, dass ich den Pass eines Schweden antizipiert und so den Ball gewonnen habe. Ich bin dann mit Tempo in den Strafraum gezogen, wurde bedrängt, fiel fast, blieb aber stehen und konnte den Ball einschieben. So in etwa?
DFB.de: So ziemlich, ja. Über dieses Tor wurde danach in den Medien gesagt, dass es gezeigt habe, wie richtig Ihr Wechsel nach Chelsea war, weil Sie dort und in der Premier League an Robustheit und Stabilität zugelegt hätten.
Schürrle: Falsch ist das nicht. Schon in den letzten Wochen in Leverkusen habe ich einiges mehr trainiert, vor allem im Kraftraum. Durch die Premier League und das Training bei Chelsea war ich eine andere Körperlichkeit gewöhnt, man nimmt dort weniger Fouls an. Insofern ja, diesen Zusammenhang kann man sehen.
DFB.de: Beim 4:2 in der 66. Spielminute geht das Kompliment an Mario Götze, richtig? Ähnlich wie bei Ihrem 3:2 ist es diesmal Götze, der - zusammen mit Max Kruse - ins Pressing geht und den Ball gewinnt. Er dreht einmal auf, verzögert, hat den Blick für Sie. Ein kurzer Pass, ein schneller Schuss: 4:2. Deckt sich das mit Ihren Erinnerungen?
Schürrle: Kann man sagen. Das sind die Situationen, die man als Spieler gerne hat. Frei vorm Tor, kein großer Gegnerdruck, der Ball liegt auf dem richtigen Fuß. Man kann in so einer Situation auch viel falsch machen, aber wenn man im Flow ist und Selbstbewusstsein hat, dann war es keine sonderlich schwere Aufgabe. Mario macht es halt gut, er sieht mich und legt den Ball perfekt in meinen Lauf.
DFB.de: Entschieden ist das Spiel mit dem 4:2 nicht. Denn die Schweden schlagen wieder zu. Ein Freistoß wird in den Rücken der Abwehr gehoben, Tobias Hysen nimmt den Ball aus der Luft und trifft spektakulär zum 3:4. Auf einmal ist es wieder eng. Waren nun 4:4-Vibes auf dem Platz?
Schürrle: Ich glaube immer noch nicht, nein. Wenn ich mich richtig erinnere, hat das 4:4 auch nach dem 4:3 in unseren Köpfen keine große Rolle gespielt. Für mich kann ich das sagen, wobei das auch damit zusammenhängen kann, dass ich beim Spiel in Berlin nicht gespielt habe. Aber grundsätzlich kann ich sagen, dass wir in der Nationalmannschaft dermaßen von uns überzeugt waren, dass die positiven Gedanken immer dominiert haben. Wir haben weniger an ein 4:4 geglaubt, sondern hatten vielmehr die Überzeugung, dass wir noch das 5:3 machen.
DFB.de: Bei Schweden fehlte Zlatan Ibrahimovic wegen einer Gelben Karte aus dem Spiel gegen Österreich. Wie relevant war das? Haben Sie sich darüber gefreut oder geärgert?
Schürrle: Es ist beides. Eigentlich will man immer gegen die Besten spielen. Und gerade gegen Zlatan ist es immer cool, weil auf dem Platz auf vielen Ebenen etwas passiert, wenn Zlatan dabei ist. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn der Ausfall des besten Gegenspielers hilft, ein Spiel zu gewinnen oder eine Runde weiterzukommen, dann ist darüber auch kein Spieler traurig. Und wahrscheinlich hätten wir mit Zlatan auf dem Platz nach dem 3:4 dann doch ein wenig größere Sorgen gehabt.
DFB.de: Aber nur bis zur 76. Minute, bis zu Ihrem dritten Streich, einem echten Traumtor aus 17 Metern. Beschreiben Sie diese Szene mal mit Ihren Worten.
Schürrle: Es sind genau die Situationen und die Position, die ich immer wieder gesucht habe, weil ich weiß, dass ich mit meinem rechten Fuß dann etwas anstellen kann. Ich weiß noch, der Ball kommt von der Mitte nach außen, es ist eher ruhig, es ist nicht so, dass ich großen Gegnerdruck habe. Ich kann mir den Ball mit einem Kontakt hinlegen und habe ihn dann auf dem rechten Fuß.
DFB.de: Und dann? Was genau passiert im Moment des Schusses?
Schürrle: Letztlich geht man unbewusst seine Routinen durch, wie man es 200.000 Mal im Training gemacht hat. Das läuft dann automatisch, man weiß, wie man den Fuß zu halten hat, wo man den Ball zu treffen hat, welche Energie man ihm geben muss. Und dann zieht man einfach ab und schaut, was der Ball macht.
DFB.de: Wie schnell wussten Sie, dass der Ball in den Winkel fliegt? Spürt man das als Spieler?
Schürrle: Man weiß nicht, ob er reingeht, aber man weiß sofort, ob Tempo und Richtung stimmen, ob man ihn gut getroffen hat.
DFB.de: Sie waren in einer guten Position, es gab aber auch andere Optionen, als zu schießen. Haben Sie den Schuss auch deswegen genommen, weil Sie zuvor schon zwei Tore erzielt hatten? Hängt das zusammen?
Schürrle: Definitiv spielt es eine Rolle. Wenn in den 76 Minuten zuvor gar nichts funktioniert hätte, dann nimmt man so einen Schuss eher nicht, sondern sucht einen Pass zum Mitspieler und versucht, die Situation auszuspielen. Dann schiebt man die Verantwortung eher weiter. Aber mit zwei Toren im Rücken hätte ich wahrscheinlich auch aus schlechteren Positionen geschossen.
DFB.de: Sie haben sich damals den Spielball gekrallt und wollten ihn Ihrer Mutter schenken. Haben Sie das Vorhaben umgesetzt? Wissen Sie, wo der Ball heute ist?
Schürrle: Stimmt, den Ball habe ich mir damals geschnappt und noch von meinen Mitspielern unterschreiben lassen. Und ja, bekommen hat ihn dann meine Mutter, beziehungsweise meine Eltern. Bei ihnen in Ludwigshafen wird der Ball auch noch irgendwo sein, zusammen mit vielen anderen Erinnerungsstücken, die sich im Laufe meiner Karriere angesammelt haben. Wahrscheinlich auch der Medaille für das Tor des Monats, zu dem der Treffer zum 5:3 später gewählt wurde. Im Laufe der vielen Umzüge sind die meisten dieser Sachen irgendwann bei meinen Eltern gelandet.
DFB.de: Die Partie war Länderspiel Nummer 100 von Bastian Schweinsteiger. Gab es von ihm einen speziellen Dank?
Schürrle: Nein. Da werde ich ihn bei Gelegenheit mal drauf ansprechen und ihm aufs Brot schmieren, dass ich sein 100. Länderspiel gerettet habe. Ich finde schon, dass er sich dafür auch im Nachhinein noch erkenntlich zeigen könnte. (lacht)
DFB.de: Welchen Stellenwert würden Sie diesem Spiel auf dem Weg zum WM-Titel 2014 geben? Nach dem 4:4 waren ja Zweifel aufgekommen, dass die Mannschaft fähig ist, unter Druck mit Rückschlägen umzugehen. War das 5:3 wichtig im Reifeprozess dieses Teams?
Schürrle: Ein kleiner Schritt war es schon, aber auch nicht viel mehr als jedes andere Länderspiel auch. Vielleicht kann man es umgekehrt sagen: dass wir durch das 5:3 einen Rückschritt in unserem Prozess verhindert haben.
DFB.de: Sind Sie zufrieden damit, in welcher Partie Sie Ihr bestes Länderspiel gemacht haben? Oder wünschten Sie, Ihr bestes Länderspiel hätte einen anderen Rahmen und eine andere Bedeutung gehabt?
Schürrle: Ich bin komplett einverstanden damit. Mit meiner Karriere bin ich einfach nur glücklich. Ich weiß einzuschätzen, dass es ein Privileg ist, überhaupt Länderspiele gemacht zu haben und über mein bestes Länderspiel reden zu können. Da will ich nicht wählerisch sein, was den Zeitpunkt des Spiels betrifft.
DFB.de: Zumal Sie durchaus auch in den Superlativ-Spielen Ihrer Karriere individuelle Superlative erreicht haben.
Schürrle: Ist das so?
DFB.de: Wir können es ja mal durchgehen. Das 5:3 gegen Schweden war ein Traumtor, war es auch Ihr schönstes Länderspieltor?
Schürrle: Das Tor war schon ziemlich schön. Ansonsten? Mein zweites Tor im WM-Halbfinale gegen Brasilien, der Volley aus spitzem Winkel unter die Latte, war auch sehr besonders. Gegen Brasilien habe ich noch ein anderes Traumtor erzielt, das war bei einem Spiel in Stuttgart. Noch schönere Tore fallen mir spontan nicht ein.
DFB.de: Nicht das 1:0 mit der Hacke im Achtelfinale der WM 2014 gegen Algerien?
Schürrle: Doch, stimmt, das war auch spektakulär. Zumal es sehr wichtig war. Wir haben uns gegen Algerien schwergetan, mussten in die Verlängerung. Mein Tor war dann eine kleine Erlösung, wobei das Spiel damit noch nicht zu Ende war. Das Tor war schön, und wenn Bedeutung ein Teil von Schönheit ist, dann steht dieses Tor wahrscheinlich ganz oben.
DFB.de: Sie haben 57 Mal für Deutschland gespielt, Ihr persönlich bestes Spiel war das gegen Schweden. In welchem der 57 Spiele hat Ihrer Meinung nach die Nationalmannschaft den besten Fußball gespielt?
Schürrle: Von 2012 bis 2014 hatten wir eine wahnsinnig gute Phase. In den meisten Spielen waren wir extrem dominant, extrem überzeugt, für unsere Gegner war es fast unmöglich, dem Stand zu halten. Aber trotz dieser vielen guten Spiele ragt das WM-Halbfinale gegen Brasilien noch einmal heraus. Es war das verrückteste Spiel, und, ja, es war das beste Spiel, wir waren einfach sensationell. Es war kein normales Fußballspiel, eigentlich fällt es aus allen Rastern. Aber unter dem Strich waren wir nie besser als in den 90 Minuten von Belo Horizonte.
DFB.de: Über die WM 2014 haben Sie kurz danach gesagt: "Beim WM-Finale war ich erst 23 Jahre alt. Und es wird für mich in Zukunft schwer bis unmöglich, diese Art Hochgefühl jemals wieder zu erreichen." Hatten Sie recht mit dieser Prognose?
Schürrle: Ich weiß, was ich damals meinte, und auf eine Art trifft die Vermutung zu. Einen WM-Titel zu gewinnen, ist das Größte, was man erreichen kann. Die Bedeutung, die Aufmerksamkeit, danach war nichts mehr so groß. Aber das ist die Sicht von außen. Was die Glücksgefühle und die innere Zufriedenheit betrifft, gab es danach noch viele vergleichbare Momente. Auf anderen Ebenen vielleicht oder in anderen Rahmen, aber nicht mit weniger Endorphinen. Für den Aufwand, den ich betrieben habe, bin ich auch nach 2014 noch häufig belohnt worden. Die innere Freude und die Seligkeit hängen nicht immer an den großen Erfolgen, manchmal sind es kleine Momente, die Vergleichbares auslösen können. Als 23-Jähriger habe ich das noch nicht gewusst – heute weiß ich es.
DFB.de: Ihre Fußballkarriere haben Sie vor fünf Jahren beendet. Zu Ihrem neuen Leben gehören Extremsport-Events, an denen Sie teilnehmen. Bergsteigen in extremer Kälte, verschiedene Extremläufe, Marathons, bald steht ein Triathlon an. Können Sie definieren, welche Motivation Sie treibt, sich diesen Extremen zu stellen?
Schürrle: Im Endeffekt geht es darum, mir selbst Fragen zu beantworten. Ich habe gemerkt, dass ich, wenn ich in Situationen komme, die für mich schwierig sind – vor allem mental, aber auch körperlich – ganz ruhig werde und zu mir komme. Dann erkenne ich, wer ich sein kann. Das gibt mir viel. In diesen existenziellen Momenten werden für mich essenzielle Fragen beantwortet. In diesen Momenten spüre ich außerdem eine extreme Dankbarkeit für alles, was ich erreicht habe und dafür, welches Leben ich führen kann. Diese Dankbarkeit zu erleben, ist auch eine Motivation. Genauso reizt es mich zu schauen, wie weit ich gehen kann. Welche Grenzen habe ich, was ist möglich, aus was ist man geschnitzt? Ich mag es sehr, mich dadurch zu erkennen.
DFB.de: Erleben Sie im Extremsport Glücksgefühle, die mit denen aus Ihrem Leben als Fußballer vergleichbar sind?
Schürrle: Es kommt dem schon nah, ja. Auf jeden Fall gibt es Parallelen. Wenn man ein Tor geschossen oder ein wichtiges Spiel gewonnen hat, dann ist es eine ähnliche Bestätigung. Weil man weiß, was man dafür im Training gegeben und insgesamt investiert hat, um in diesen Momenten wirklich da zu sein. Vergleichbar ist es, wenn man 60 Kilometer durch die Alpen läuft und es dann am Ende nach zehn Stunden schafft. Auch das ist superemotional, zwar nicht 1:1 wie beim Fußball. Aber das Gefühl, etwas erreicht zu haben, ist sehr ähnlich. Der größte Unterschied besteht darin, dass ich jetzt alles nur für mich mache. Es gibt keinen externen und keine öffentlichen Erwartungen, denen ich entsprechen muss. Genau das gefällt mir. Es geht nur um mich. Diese Geschichte ist ziemlich rein, und das macht es für mich nochmal schöner.
DFB.de: Haben Sie in Ihrem Leben nach dem Fußball ein 5:3, ein bestes Länderspiel, also ein Extremsportereignis, bei dem alles passte?
Schürrle: Es sind unterschiedliche Kategorien. Bei den Ultraläufen oder den Marathons geht man für ein paar Stunden eine Reise ein, auf der viele unterschiedliche und verrückte Dinge passieren. Es geht immer auch gegen sich selbst, gegen den eigenen Kopf. Es geht darum, diesen Widerstand zu überwinden und nicht darum, möglichst wenig Widerstand zu haben.
DFB.de: Vor ein paar Jahren haben Sie gesagt: "Ich habe immer deutlicher vor Augen, welche Person ich in 20 oder 30 Jahren sein möchte." Wie soll diese Person aussehen?
Schürrle: Mein Ziel ist es, die beste Version von mir zu werden. Ich finde, dass es im Leben genau darum geht. Man jagt das Idealbild von sich selbst. Man sollte das Jetzt und den Moment nutzen, um die Prinzipien und Werte, die ich für mich als erstrebenswert definiert habe, zu erreichen. Das bedeutet aber auch, dass man niemals ankommen wird, denn die beste Version von sich selbst entwickelt sich immer weiter.
DFB.de: Der Weg ist das Ziel.
Schürrle: Wenn man es vereinfachen will, ja. Es geht nicht darum, anzukommen, es geht darum, die Reise zu genießen. Enjoy the journey. Das will ich, und es gelingt mir immer besser.
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Kategorien: DFB-All-Stars
Autor: sl

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