Titelverteidiger Portugal früh raus

Mit acht ehemaligen Europameistern ging das Turnier ins Achtelfinale. Nur zwei, Niederlande und Tschechien, trafen aufeinander. In Budapest endeten dabei die Hoffnungen von "Oranje" wegen eines unglücklichen Handspiels des heutigen Bayern-Spielers Mathijs de Ligt. Der VAR schickte ihn vom Platz. Die rund 40minütige Überzahl nutzten die Tschechen zu zwei Toren (2:0) und der Trainer der Niederländer, Frank de Boer, trat umgehend zurück. Nicht gerade zum Leidwesen der Presse: "Oranje bezahlt für die Dummheit von de Boer. Es ist eine EM, für die sich Trainer und Spieler schämen müssen", kritisierte De Telegraaf.

Für die Waliser galt das nicht. Sie kassierten zwar die höchste Niederlage im Achtelfinale, aber das Abschneiden bei ihrer zweiten EM übertraf die meisten Erwartungen. Außerdem trafen sie auf regelrecht entfesselte Dänen, bei denen das Schicksal Schulden abzutragen hatte. Jeder Torschuss war ein Treffer, am Ende stand in Amsterdam ein 4:0 und die Ministerpräsidentin im roten Trikot war auf ihrem Sitzplatz kaum zu halten. Ein Kuriosum brachte diese Partie: beide Torhüter spielten beim selben Klub - Leicester City. Im Verein die Nummer zwei, durfte Danny Ward das Tor der Waliser hüten und traf auf Teamkollege Kasper Schmeichel. Am selben Tag gab es die erste Verlängerung und nach 1168 Minuten wieder ein Gegentor für Italien, das sich dennoch gegen Österreich durch setzte (2:1). Alle Treffer fielen in der Verlängerung durch "Joker". Einer war Sasa Kalajdzic, der von "einem der grausamsten Spiele in der Geschichte Österreichs" sprach, in Anspielung auf ein vom VAR annulliertes Tor von Marko Arnautovic. Nur wenige Zentimeter war er im Abseits, sein Verständnis für die neue Technik förderte das nicht: "Das hat nur wenig mit Fußball zu tun."

Am nächsten Tag verabschiedete sich auch der Titelverteidiger, Portugal unterlag dem ewigen Geheimfavoriten Belgien in Sevilla vor nur 11504 Zuschauern unglücklich mit 0:1. "Keine Mannschaft kann sagen, dass sie besser als Portugal ist", sagte Trainer Fernando Santos aus einer Mischung aus Pathos und Trotz. Das Tor des Tages glückte dem Dortmunder Thorgan Hazard aus 22 Metern, es war ein Schuss der Kategorie "Flatterball" und der einzige, der in 90 Minuten auf das portugiesische Tor kam. Während Italien bei dieser EM das Toreschießen entdeckte, wurden die einst so spielfreudigen Belgier die neuen Italiener.

Einen Tag später stieg das packendste Spiel der EM, wieder rückte Kopenhagen in den Blickpunkt. Für die große Show sorgten allerdings nicht die Dänen, sondern zwei Mittelmeerländer. Spanien schlug Vize-Weltmeister Kroatien in der Verlängerung mit 5:3. Schon in der regulären Spielzeit wähnten sie sich am Ziel, verspielten aber in den letzten fünf Minuten eine 3:1-Führung. Die Torflut begann mit einem Eigentor aus der Rubrik "Slapstick", Spaniens Torwart Unai Simon ließ sich durch einen harmlosen Rückpass von Pedri überraschen. Danach machte er ein Superspiel und Trainer Luis Enrique applaudierte: "Unai war heute ein Vorbild für alle jungen Spieler, die einmal Profi werden wollen. Die Botschaft ist: mach Dir keine Sorgen wegen Deiner Fehler und konzentriere dich auf Dein Ziel." Ein Beispiel an Moral gab auch Stürmer Alvaro Morata, in der Vorrunde auf widerliche Weise angefeindet von eigenen "Fans". Sein Tor zum 4:3 mitten hinein in Kroatiens Drangphase brachte die Wende in diesem "wunderbaren Duell" (La Vanguardia). Für die Kroaten mag es ein kleiner Trost gewesen sein, dass am selben Tag auch der Weltmeister ausschied. In Bukarest erbrachte ein ähnliches Spektakel die größte Sensation der EM - die kleine Schweiz warf Frankreich raus. Dazu bedurfte es nach 120 Minuten und sechs Toren des ersten Elfmeterschießens. Nach neun verwandelten Schüssen scheiterte ausgerechnet Weltstar Kylian Mbappé als einziger, denn mit der Parade von Gladbach-Keeper Yann Sommer war der Showdown beendet. Die Franzosen mussten mit Spott und Häme leben, Arroganz war der Hauptvorwurf. Hatten sie doch nach 75 Minuten durch Paul Pogbas Treffer zum 3:1 schon mehr als einen Fuß in der Tür zum Viertelfinale, versäumten es aber, hindurchzugehen. "In der Vergangenheit wussten wir, wie man solche Spiele gut zu Ende bringt", knurrte Weltmeistertorwart Hugo Lloris. Späte Tore der Ex-Bundesligaspieler Haris Seferovic und Mario Gavranovic erteilten den Franzosen eine Lektion in Sachen Seriosität. Für die L’Equipe war das Ausscheiden von Les Bleus ein "monumentales Fiasko".

England beendet deutsche Viertelfinalträume

Welt- und Europameister raus, da war aus der Todesgruppe F nur noch Deutschland übrig. Dank des Spielplans, der die DFB-Elf auf den letzten Tag gesetzt hatte. Am 29. Juni sollte in London die Ära des Bundestrainers Joachim Löw enden - im mythischen Wembley-Stadion bei einem Auswärtsspiel gegen die englische Mannschaft.

Es hätte nicht sein müssen. Alle Kritiker bestätigten den Deutschen, besser ins Spiel gefunden zu haben und dass Timo Werner die größte Chance der ersten Hälfte auf dem Fuß hatte. "In so einem Spiel bekommst Du nur wenige Chancen - die musst Du nutzen", sagte Löw im letzten Interview als Bundestrainer. Da hatte er allerdings vor allem eine Szene im Sinn: in Minute 81, England war kurz zuvor durch Raheem Sterling in Führung gegangen, stürmte Thomas Müller nach einem Havertz-Zuspiel allein auf das englische Tor zu. Die Verfolger konnten ihn nicht mehr erreichen, es wäre leicht möglich gewesen, Torwart Jordan Pickford zu umspielen. Doch der Bayern-Star entschloss sich aus 17 Metern zum Abschluss. Der Ball zischte am Pfosten vorbei und Deutschland stöhnte auf, 27,36 Millionen litten an den Bildschirmen mit - es war die meist gesehene TV-Übertragung des Jahres. Und es war eine bittere Ironie der Geschichte, dass die beiden Rückkehrer nicht unwesentlich an Löws Ende beteiligt waren, trotz passabler Leistungen. Hummels‘ Eigentor stand am Anfang der EM, Müllers Fehlschuss am Ende der letzten Reise. Das 2:0 durch Harry Kane brachte die endgültige Entscheidung und Löw nahm alle Schuld auf sich. In einem wegen der Einstiegsfrage von ARD-Reporterin Jessy Wellmer ("Ende gut, alles gut - oder doch nicht gut?") denkwürdigen Interview zum Abschied zeigte er Größe: "Es liegt in meiner Verantwortung und ich übernehme natürlich auch die volle Verantwortung für dieses Ausscheiden - ohne Wenn und Aber." Er wünschte Nachfolger Hansi Flick alles Gute und verhieß der Nationalmannschaft "eine sehr, sehr gute Zukunft". Damit verhob er sich etwas, wie sich zeigen sollte.

In England träumten sie nun vom Titel, viele Favoriten waren nicht mehr im Rennen. "Nein, ihr träumt nicht. Kommt er jetzt nach Hause?", fragte die Daily Mail und meinte den EM-Pokal.

Von dessen Gewinn verabschiedete sich im letzten Achtelfinale Schweden, das der Ukraine in Glasgow 1:2 unterlag - Joker Artem Dobryk köpfte unmittelbar vor Ende der Verlängerung ein. Erstmals stand die Ukraine in einem Viertelfinale. Den historischen Moment verfolgten nur 9221 Zuschauer, denn ein Teilnehmer dieser EM war nicht zu schlagen: COVID 19.