Mit dem Juli kam das Viertelfinale. Nur in einer von vier Städten fieberte die Bevölkerung noch mit ganzem Herzen mit: Rom! Allerdings spielten die Italiener am 2. Juli in München, wo es zum von der Papierform spannendsten Treffen kam. Italien oder Belgien - ein Favorit musste ausscheiden. Es traf wieder mal die Belgier, die nur durch einen zweifelhaften Lukaku-Elfmeter zu einem Treffer kamen. Das war Sekunden vor dem Pausenpfiff und markierte bereits den 1:2-Endstand. Die ganz in Weiß gewandeten Italiener behielten ihre weiße Weste, die letztmals im September 2018 bekleckert worden war und blieben auch nach 32 Spielen ungeschlagen. Die Heimat feierte eine Mannschaft der Namenlosen, besonders verzückt war sie von Lorenzo Insignes Solo vor dem 2:0, das er an der Mittellinie antrat. "Italien, du bist großartig, großartig, großartig", titelte die Gazzetta dello Sport und Trainer Roberto Mancini lobte: "Meine Spieler waren außerordentlich." Sie verkrafteten auch den Ausfall von Verteidiger Leonardo Spinazzola (Achillessehnenriss), der den Rest der EM an Krücken lief.

Dänemark überraschend unter den letzten Vier

In Belgien nahm man indes allmählich Abschied von dem Gedanken, dass die "Goldene Generation" um Kevin de Bruyne jemals Gold in Händen halten würde.

In St. Petersburg endete auch der Traum der Schweiz, aber das Urteil fiel weit gnädiger aus. "Ihr seid unsere Europameister der Herzen", schrieb der "Blick" nach einer Niederlage im Elfmeterschießen gegen die Fußballmacht Spanien. Die Schweizer hatten einen frühen Rückstand durch das bereits zehnte Eigentor des Turniers (Denis Zakaria) aufgeholt und über 45 Minuten in Unterzahl überstehen müssen. Beim bemerkenswert schwachen Elfmeterschießen - fünf von acht Schützen versagten - waren die Spanier die etwas sicheren Vollstrecker. Sie feierten ihren Keeper Unai Simon, der zwei Bälle hielt, Kollege Yann Sommer nur einen. Das Spiel seines Lebens hatte er dennoch gemacht und Simon wollte die Auszeichnung für den Man of the match deshalb gar nicht annehmen: "Ehrlich gesagt, ich hätte sie Sommer gegeben." Trotz des Zittersiegs gab Trainer Luis Enrique die Parole aus: "Wir alle wollen ins Finale und gewinnen."

Mit diesem Anspruch waren die Dänen gewiss nicht angetreten, aber ihr Fußballmärchen erhielt im fernen Baku, das formal zu Asien gehört, ein neues Kapitel. Von 1500 Fans in die 3200 Kilometer von Kopenhagen entfernte Hauptstadt Aserbaidschans begleitet, feierten sie bei 30 Grad am 3. Juli einen weiteren Sieg: 2:1 gegen aufopferungsvoll kämpfende Tschechen, die hoch erhobenen Hauptes abtraten. "Keiner hat mit uns gerechnet, aber wir haben uns großen Respekt erarbeitet", sagte Leverkusens Patrick Schick, der mit seinem Anschlusstor den EM-Rekord seines Landsmanns Milan Baros (sechs Treffer) einstellte. Mehr kamen nicht dazu, weil vor ihm schon Thomas Delaney, damals Borussia Dortmund, und Kasper Dolberg trafen. Delaney, dessen 1:0 nach einer unberechtigten Ecke fiel, drückte aus, was alle empfanden, die den Weg der Dänen verfolgten: "Was ist das für eine verrückte Reise!" Erstmals stand eine Mannschaft nach zwei Auftaktniederlagen im Halbfinale einer EM.

Dort hatte man seit 1996 auch keine englische Mannschaft mehr gesehen. Die von 2021 schien unaufhaltsam, die Ukraine wurde in Rom mit 4:0 vom Platz gefegt und hatte noch immer kein Tor kassiert. Die Weichen wurden in den fünf Minuten nach der Pause gestellt, als die beiden Harrys, Maguire und Kane, aus einem knappen 1:0 ein beruhigendes 3:0 machten - jeweils per Kopf. Auch der Endstand durch Jordan Henderson war Kopfsache und sorgte für den Torrekord Englands bei einer EM. Harry Kane: "Ein großer Tag für uns als Nation." Mit der Ukraine schied der letzte Vertreter Ost-Europas aus.

Drei ehemalige Europameister und ein Ex-Weltmeister spielten den Champion aus und viel sprach für England. Denn die letzten drei Partien dieser EM fanden alle in Wembley statt - und vor vollen Rängen.

Rekordpaarung im Halbfinale

Italien und Spanien ermittelten den ersten Finalisten, zum siebten Mal trafen sie sich bei einer EM - es ist die Rekordpaarung dieser Veranstaltung. Mit der Entscheidung ließen sie sich viel Zeit. Die um 21 Uhr angepfiffene Partie musste nach Treffern von Federico Chiesa (60.) und Alvaro Morata (80.) in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen. Es ging auf Mitternacht zu, als es zum Showdown kam. Die ersten beiden Schützen versagten, danach trafen alle bis auf Morata. Seinen Schuss hielt Italiens Wundertorwart Gianluigi Donnarumma und Verteidiger Jorginho, ein Mann mit brasilianischen Wurzeln, schoss die Azzurri ins Finale. Was für eine Genugtuung für die stolze Fußballnation nach dem Verpassen der WM 2018. Und Spanien? Der Europameister von 2008 und 2012 konnte an seine große Ära nicht anknüpfen, aber eine Niederlage in der Fußballlotterie vom Kreidepunkt wird leichter verziehen. "Spanien weint mit Würde", schrieb Marca und Coach Luis Enrique war stolz: "Meine Spieler waren wunderbar, ich kann ihnen keine Vorwürfe machen."

Vorwürfe machte auch dem Verlierer des zweiten Halbfinales niemand, dafür stand der Schiedsrichter im Kreuzfeuer der Kritik. In der 103. Minute der Partie England-Dänemark entschied der Niederländer Danny Makelie nach einer Flugeinlage von Englands bis dato bestem Spieler des Turniers, Raheem Sterling, auf Elfmeter. Nur der "Gefoulte" selbst fand es sei "ein klarer Elfmeter" gewesen. Von Jose Mourinho bis Arséne Wenger schwor die versammelte Prominenz: "Niemals ein Elfmeter!" Der VAR aber griff nicht ein und Harry Kane trat beim Stand von 1:1 zum Schuss an. Englands legendären Elfmeterkomplex womöglich im Hinterkopf, scheiterte er zwar an Kasper Schmeichel, traf aber im Nachschuss. Es war der Treffer zum glücklichen und doch zweifellos verdienten Sieg der Gastgeber, die zuvor von einem Eigentor Kjaers profitiert hatten - aber er hatte einen bitteren Beigeschmack. Dänemark brauchte keinen Finaleinzug, um einen Titel zu gewinnen: sie waren ja schon Europameister der Herzen und Ministerpräsidentin Mette Frederiksen betonte: "Selten sind wir stolzer gewesen! Danke für die Reise."

Italien lässt Fußball-England trauern

Vier Tage später empfingen die Engländer in ihrem Wohnzimmer, in dem sie fünf der sieben Spiele austragen durften, Italien. Der zweite englische Titel nach dem WM-Triumph 1966 an gleicher Stätte, wenn sie auch nach dem Abriss des alten Wembley-Stadions ganz anders aussah, war programmiert. 67.000 füllten die Ränge. Nicht alle zahlten Eintritt, es gab chaotische Szenen beim Einlass. Alle wollten England endlich siegen sehen. Die Menschen in Londons Straßen sangen wieder ihren EM-Hit von 1996, "Football's coming home!", und diesmal sah es wirklich danach aus. Wer ein zähes Ballgeschiebe befürchtete, wurde angenehm enttäuscht. Schon nach 117 Sekunden brachte Luke Shaw mit seinem ersten Länderspieltor die Engländer in Führung und lockte Italien damit aus der Reserve. Erstmals bei dieser EM war die Mannschaft von Roberto Mancini in Rückstand geraten und das verkraftete sie zunächst schwer. Erst nach der Pause wurde Jordan Pickford im englischen Tor beschäftigt und nach 67 Minuten war er plötzlich geschlagen. Nach einer Ecke staubte Abwehrchef Leonardo Bonucci ab und avancierte mit 34 Jahren zum ältesten Torschützen in einem EM-Finale.

Das kippte nun zunehmend auf die italienische Seite, nach 90 Minuten wurden 14:4 Torschüsse und 66 Prozent Ballbesitz für die Azzurri gezählt und die Engländer begriffen, dass man auch zu früh in Führung gehen kann. Ihre Stars Kane und Sterling hatten keinen einzigen Abschluss, erst beim Elfmeterschießen durfte wenigstens der spätere Bayern-Star auf den italienischen Kasten feuern. Was ihm noch gelang, war gleich drei Engländern zu schwer. Warum Trainer Gareth Southgate, selbst als Elfmeterversager (Halbfinale 1996 gegen Deutschland) gebrandmarkt, ausgerechnet seine Jüngsten in die Verantwortung nahm, verstand im Nachhinein niemand. Der Reihe nach verschossen Marcus Rashford (23, Pfosten), Jadon Sancho (21, gehalten) und Bukayo Sako (19, gehalten), zudem wurden sie alle eingewechselt. So triumphierten die Italiener, die nach Andrea Belottis Fehlschuss zunächst in Rückstand geraten waren. Für England war es die siebte Niederlage im neunten Elfmeterschießen bei WM- oder EM-Endrunden. Southgate nahm die Schuld auf sich: "Wir haben als Team gewonnen und verlieren gemeinsam. Wenn es um das Elfmeterschießen geht, liegt es alleine an mir." Was die allesamt dunkelhäutigen Fehlschützen nicht vor rassistischen Anfeindungen bewahrte - ein Schandfleck auf dieser so besonderen EM. Die Italien nach 1968 ein zweites Mal gewann mit einer Mannschaft, die das Verlieren verlernt hatte (34 Spiele ungeschlagen) und vor einer großen Zukunft zu stehen schien. "Die Realität ist noch süßer als die Träume. Das Dunkel von 2018 ohne WM und ohne Hoffnung ist eine entfernte Erinnerung. Die Nationalmannschaft blüht in Wembley wieder auf", jubilierte Tuttosport. Niemand ahnte, dass es nur ein Zwischenhoch war, die WM in Katar fand wieder ohne Italien statt. Die EM 2020 (2021) prägten sie trotzdem. Es war die torreichste seit Einführung der Gruppenspiele 1980 (2,78 im Schnitt), obwohl nur 53 % der Elfmeter im Spiel (Minusrekord) verwandelt wurden. Am Eigentorrekord (elf) beteiligten sich die Italiener allerdings nicht.