EM über den Kontinent verteilt

Für die 16. Ausrichtung der Europameisterschaft hatte sich die UEFA etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Präziser gesagt entsprang die Idee dem Verbandspräsidenten Michel Platini an Nikolaus 2012 und trug dem Umstand Rechnung, dass die EM-Endrunde 60 Jahre alt wurde. Die Jubiläumsausgabe 2020 sollte möglichst viel Europa enthalten, was sich nicht nur auf die Teilnehmerzahl bezog. Wie schon 2016 war es gar nicht so einfach, das Turnier zu verpassen - es wurde mit 24 Mannschaften gespielt.

Die EM sollte sich diesmal aber auch über den ganzen Kontinent erstrecken und in 13 Städten aus 13 Ländern stattfinden. Ganz so kam es nicht und überhaupt kam es ganz anders als geplant. Denn eine Pandemie befiel die Welt und machte weit mehr kaputt als Spielpläne. COVID 19, im Volksmund Corona genannt, schränkte das Leben auf allen Kontinenten ein und forderte Millionen Todesopfer. Im März 2020 kam die in China ausgebrochene Seuche nach Westeuropa, füllte Krankenhäuser und Friedhöfe. Weil es zunächst noch keinen Impfstoff gab, hatte das Vermeiden von Ansteckungen oberste Priorität. Die Menschen sollten zuhause bleiben und von dort auch arbeiten und wer doch vor die Tür ging, trug Maske. Ein Leben auf Sparflamme schloss Großveranstaltungen jeder Art aus. Die großen Fußballligen stellten folglich den Spielbetrieb im März ein. Erst ein von DFB-Ärzten ausgeklügeltes Gesundheitskonzept ließ den Ball nach zweimonatiger Pause international wieder rollen - in leeren Stadien. Das Saisonende verschob sich aber überall nach hinten und die UEFA tat das einzig Richtige: sie sagte die EM 2020 ab. Gespielt wurde erst ein Jahr später, wenn auch unter dem alten Namen "UEFA EURO 2020". Es sollte ja immer noch eine Jubiläumsfeier sein, außerdem waren schon zu viele Werbemaßnahmen mit diesem Branding umgesetzt worden, die man nicht vernichten wollte. Umweltschutz und Gesundheitsschutz spielten gewiss keine zu geringe Rolle bei dieser EM.

Weil die UEFA Spiele nur an Städte vergab, deren lokale Behörden einen zumindest eingeschränkten Stadionbesuch gestatteten, schieden Dublin und Bilbao kurzfristig aus. Gespielt wurde 2021 also in London, Baku, Rom, St. Petersburg, München, Amsterdam, Budapest, Kopenhagen, Bukarest, Sevilla und Glasgow.

Von den Europameistern fehlt nur Griechenland

Einen Freibrief für die jeweilige Nationalmannschaft gab es nicht, alle Ausrichterländer mussten sich qualifizieren. Was im Fall von Rumänien und Aserbaidschan missglückte. Europas Fußballadel war komplett vertreten, von den bisherigen Europameistern fehlte nur Griechenland. Die britische Insel stellte erstmals drei Teilnehmer: England, Wales und Schottland. Ihre Premieren gaben Finnland und Nordmazedonien. Die einen hatten es schon immer versucht, die anderen noch nie - glücklich waren sie beide.

Die Deutschen waren zum 13. Mal in Folge dabei und zählten wie immer zu den Mitfavoriten. Nach der Enttäuschung bei der WM 2018 in Russland, als das Unternehmen Titelverteidigung schon mit der Vorrunde abgeblasen werden musste, standen die Zeichen auf Wiedergutmachung. Bundestrainer Joachim Löw war im Amt geblieben, der souveräne Gruppensieg in der Qualifikation mit sieben Siegen bei einer Niederlage nahm den Kritikern den Wind aus den Segeln. Doch dann kam COVID und der Schwung aus der Qualifikation, die im November 2019 endete, konnte nicht ins Turnier herüber gerettet werden. Stattdessen gab es unbefriedigende Auftritte in der neuen Nations League und als Spätfolge des 0:6 in Sevilla im November 2020 gegen Spanien verkündete Löw im März 2021 sein vorzeitiges Ausscheiden - nach der EM. Das Jubiläumsturnier sollte also zur Abschiedstournee des Weltmeistertrainers werden, nach 15 Jahren Dienstzeit.

Die UEFA bereitete Löw und seinen 23 Kollegen ein kleines Geschenk. Die Spielerkader durften 26 statt bisher 23 Namen enthalten, die Zahl der Auswechslungen stieg von drei auf fünf - wie wegen der Terminhatz in der ersten Corona-Saison in den Ligen schon üblich. So fand sich auch noch für die im Frühjahr 2019 ausgemusterten Weltmeister Mats Hummels und Thomas Müller nach 921 Tagen Absenz ein Plätzchen, an Routine mangelte es dem DFB-Kader nicht. In Seefeld wurde er zehn Tage lang, unter strikter Einhaltung der Corona-Vorschriften im Hotel "Nidum", auf die ersten Gegner vorbereitet: Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und die alte Fußballmacht Ungarn. Der Mythos vom deutschen Losglück wurde vor diesem Turnier nicht bemüht. Toni Kroos sagte: "Die Gruppe zu überstehen, wäre schon ein Statement."

Protestaktion vor Anpfiff

Immerhin genoss die Löw-Elf in der Vorrunde Heimrecht, alle Spiele wurden in München ausgetragen. Weshalb sie ihr Turnierquartier im Adidas-"Home Ground" im fränkischen Herzogenaurach bezog, in das Kanzlerin Angela Merkel diesmal nicht kam. Sie richtete ihre besten Wünsche per Videoschalte aus und der komplette Kader grüßte zurück, mit weißen Masken im Gesicht. Die Spieler wurden auf sieben Häuser verteilt, mancher fühlte sich an Brasilien 2014 erinnert und die Bild-Zeitung jauchzte: "Unser Campo Bavaria".

Die Stimmung stieg nach einem leichten 7:1 über Lettland im letzten Testspiel, doch die Kulisse von Düsseldorf führte allen vor Augen dass die tristen Tage noch nicht vorbei waren: nur 1000 Zuschauer waren zugelassen. Zum EM-Auftakt gegen Frankreich erlaubte das Land Bayern immerhin 14.500 Zuschauern nach der 3-G-Regelung (getestet, geimpft oder genesen) den Einlass, mit 1,50 Meter Abstand zum Sitznachbarn und Umarmungsverbot. Wahrlich eine sehr besondere EM.

Ein Besucher kam ohne Ticket: Unmittelbar vor Anpfiff landete ein Greenpeace-Aktivist mit einem Motorgleitschirm auf dem Spielfeld. Der Protest gegen die Ölindustrie wurde ein Fiasko, beim Anflug geriet der Aktivist in die Hochspannstahlseile der TV-Kamera und glitt in die Zuschauerränge ab, ehe er auf dem Platz ankam. Es gab zwei Leichtverletzte und eine Entschuldigung der Organisation: "Der Protest hatte nie die Absicht, das Spiel zu stören oder Menschen zu verletzen."

Als Gruppenzweiter weiter

Was schlecht anfing, endete nicht gut. Was weniger für die Leistung der Deutschen (62% Ballbesitz) galt als für das Resultat. Einmal trafen sie zwar ins Tor, doch es war das falsche. Ausgerechnet Rückkehrer Mats Hummels überwand Manuel Neuer, per Schienbein. Sein missglückter Rettungsversuch vor dem einschussbereiten Weltstar Kylian Mbappé war historisch - das erste DFB-Eigentor bei einer EM - und es entschied das Spiel (0:1). Die Frankfurter Rundschau titelte: "Um Hummels Willen!"

Im anderen Spiel der Gruppe unterlag Ungarn vor vollen Rängen in Budapest, wo es nicht mal eine Maskenpflicht gab, Titelverteidiger Portugal mit 0:3. Die Tore fielen erst ab Minute 84 und Kapitän Cristiano Ronaldo avancierte mit einem Doppelschlag zum EM-Rekordtorjäger (elf Treffer). Nun wollte er die Deutschen vorzeitig aus dem Turnier schießen. Nach 15 Minuten hatte er am 19. Juni sein zwölftes EM-Tor hinzugefügt, es stand schlecht um die Löw-Elf, der nur 12.926 Zuschauer die Daumen drücken durften. Aber sie zeigte Moral und der große Unbekannte im Team wurde zum Matchwinner: Robin Gosens, ein Ruhrpott-Junge ohne Bundesligaerfahrung und in Diensten von Atalanta Bergamo, erzwang das erste von zwei portugiesischen Eigentoren, die binnen 240 Sekunden noch vor der Pause fielen. Ebenso bereitete er das 3:1 von Kai Havertz vor, ehe ihm per Kopf das 4:1 selbst glückte. Nach einer Stunde war Fußball-Deutschland plötzlich wieder obenauf. Neue Helden hatte das Land dringend gebraucht und da waren sie. Auch für Havertz, der zwei Wochen zuvor das Champions League-Finale zugunsten des FC Chelsea entschieden hatte, war es der Durchbruch. Das Publikum stimmte "Oh, wie ist das schön" an, woran das 4:2 durch Jota nichts ändern konnte. Nach einem verdienten Sieg über den Europameister kehrte wieder Zuversicht ins deutsche Lager ein. Erst recht wegen des Ergebnisses zwischen Ungarn und Frankreich (1:1), nun war der Gruppensieg noch drin.

Die Hoffnung auf bessere Zeiten sollte sich indes als trügerisch erweisen, der medial erwartete Spaziergang gegen die Ungarn wurde ein Höllentrip mit glimpflichen Ende. Das letzte Spiel in München wurde das schlechteste, zweimal gerieten die in unveränderter Formation auflaufenden Deutschen in Rückstand. Wieder bedurfte es eines Retters, diesmal kam er von der Bank. Eigentlich waren es sogar zwei - die Bayern-Stars Jamal Musiala (18 Jahre), der die Vorlage gab, und Leon Goretzka, der sechs Minuten vor Schluss zum 2:2 traf. Anschließend formte er die Hände zu einem Herzchen und sendete demonstrativ "Liebesgrüße" an den schwarzen Block aus Ungarn, der durch Intoleranz und homophobe Parolen negativ aufgefallen war. Ein Bild dieser EM, das haften blieb!

Die Toleranz war der eigentliche Sieger bei diesem Unentschieden am Tag, als die Allianz Arena in Regenbogen-Farben schillerte. Trister stand es um die Gefühlswelt der deutschen Fußballer. "Wir sind weiter - keiner weiß warum!", höhnte die Bild und Joshua Kimmich gestand: "Es ist noch Luft nach oben." Immerhin als Gruppenzweiter hinter Frankreich, das sich in Budapest von Portugal 2:2 trennte, erreichten sie in der Todesgruppe F das Achtelfinale. Portugal, für das Cristiano Ronaldo zweimal vom Elfmeterpunkt vollstreckte, nahm die Hintertür und gehörte zu den vier besten Dritten. Es war auch gar nicht so einfach, bei diesem Turnier auszuscheiden. Zwei Drittel der Teilnehmer erreichten das Achtelfinale.

Sorge um Eriksen

Drei Mitfavoriten glückte das mit makellosen Bilanzen: Das nun 30 Spiele ungeschlagene Italien (Gruppe A) Belgien (B) und die Niederlande (C) gewannen alle Partien. England (D) blieb zumindest ungeschlagen und ohne Gegentor und kam ebenso auf sieben Punkte wie in Gruppe E Schweden, das überraschend vor Spanien einlief. So eng wie in der deutschen Gruppe, deren Sieger Frankreich mit nur fünf Punkten ins Achtelfinale gelangte, war es nirgends. Dort fanden sich auch Wales und die Schweiz (A), Dänemark (B), Österreich und die Ukraine (C), Kroatien und Tschechien (D) und Spanien (E) ein. Im Quervergleich der besten Gruppendritten schieden Finnland und die Slowakei trotz jeweils drei Punkten aus. Genauso viele Zähler genügten Dänemark, um in Gruppe B Zweiter zu werden.

Und es gab niemanden auf der Fußballwelt, der es den Dänen nicht gönnte. Sie hatten für den Schockmoment dieser EM gesorgt, als am 12. Juni Christian Eriksen im Spiel gegen Finnland aus ungeklärter Ursache kollabierte. Ohne gegnerische Einwirkung kippte er kurz vor der Halbzeit einfach um. Mitspieler bildeten schnell einen Kreis um ihn, während Ärzte mit der Herzmassage begannen. Lähmendes Entsetzen lag über dem Stadion in Kopenhagen, die Freundin von Eriksen rannte weinend auf den Platz und wurde von Kapitän Simon Kjaer zurückgehalten. Sie glaubte ihn für tot. Die Fans beider Lager skandierten Eriksens Namen, Spiel und TV-Übertragungen wurden unterbrochen. Nach 20 Minuten trugen sie ihn vom Platz, immerhin wieder bei Bewusstsein. Er kam ins Krankenhaus und ließ ausrichten, man möge bitter weiterspielen. Das fiel allen Beteiligten schwer, aber nach 93minütiger Unterbrechung pfiff der Schiedsrichter wieder an. Kjaer, ein Freund Eriksens, hielt dem Druck nichts stand und ließ sich auswechseln.

Nichts war unwichtiger als das Ergebnis an diesem Tag, die Finnen konnten ihren ersten EM-Sieg (1:0) überhaupt weder feiern noch genießen. Schon der Torjubel nach Pohjanpalos historischem Treffer für sein Land fiel aus. Dänen-Trainer Kasper Hjulmand erzählte vor der Presse: "Wir hatten zwei Optionen. Das Spiel fortzusetzen oder am Sonntag um 12 Uhr. Aber jeder wollte weiterspielen. Die Spieler waren sich sicher, heute nicht mehr schlafen zu können." Und so traf sich die dänische Mannschaft am Sonntagmorgen im Konferenzraum, um die Videobotschaft ihres schon wieder zuversichtlichen Mitspielers, dem ein Defibrillator eingepflanzt wurde, aus dem Krankenhaus zu vernehmen. "Es war das Schönste für mich, Christian lächeln zu sehen", sagt Hjulmand. Fußball, du bist ja so was von egal.

Aber der Glaube an einen Fußballgott erhielt neue Nahrung, als die Dänen trotz einer zweiten Niederlage (1:2 gegen Belgien) aufgrund der besonderen Konstellation in ihrer Gruppe durch ein furioses 4:1 über Russland doch noch weiter kamen. Weil die bereits qualifizierten Belgier die Finnen schlugen (2:0), hatten drei Teams drei Punkte. Die Tordifferenz sprach für Dänemark, das in dieser Vorrunde durch die Hölle ging.

Was brachte die Vorrunde sonst noch?

Niederknieende Belgier, die sich mit der Black-Lives-Matters-Bewegung solidarisierten und die Pfiffe in St. Petersburg mit Toren vergalten (3:0).

Österreichs ersten EM-Sieg überhaupt (3:1 gegen Nordmazedonien).

Zoff um Ukraines Trikot, auf dem die Landkarte unter Einbeziehung der Krim eingezeichnet war, wogegen Russland vergeblich protestierte. Düstere Vorzeichen eines Konflikts, bei dem seit 2022 die Waffen sprechen.

Ein argentinischer Schiedsrichter beim Spiel Ukraine - Nord-Mazedonien im Rahmen eines Austauschprogramms von UEFA und Südamerikas Verband CONMEBOL.

Ein torloses Britenderby in Wembley zwischen England und Schottland, das mit einem Punkt nach der Vorrunde wieder heimreiste - aber der war immens wichtig für die Seele der Bravehearts!

Die Beförderung des englischen Stürmers Raheem Sterling in den Adelsstand wegen seines Engagements gegen Rassismus, einen Tag bevor er nun als "Sir" das Siegtor gegen Kroatien erzielte.

Ein 48-Meter-Tor des Tschechen Patrick Schick gegen Schottland.

Ein 5:0 der Spanier gegen die Slowakei, das höchste Resultat der Vorrunde. Dazu trug Torwart Dubravka mit einem kuriosen Eigentor bei, als er den Effet eines auf die Latte prallenden Ball falsch berechnete und ihn ins Netz boxte.

Und ein frustrierter Robert Lewandowski, dessen zwei Tore Polens Aus nicht verhinderten - und das vier Wochen, nachdem er Gerd Müllers Ewigkeitsrekord (40 Bundesligatore) geknackt hatte. Einen Rekord nahmen die Polen aber doch mit: Kasper Kozlowski ist der jüngste EM-Spieler aller Zeiten, mit 17 Jahren 246 Tagen.