Frauen-Nationalmannschaft

Nia Künzer: "Ich habe meinen kritischen Blick bewahrt"

26.12.2024
"Wir sind auf einem guten Weg": Nia Künzer mit DFB-Präsident Bernd Neuendorf (l.) und Geschäftsführer Andreas Rettig Foto: Thomas Boecker/DFB

Anfang dieses Jahres übernahm Nia Künzer die neu geschaffene Position der Sportdirektorin für die Frauen-Nationalmannschaft, die U 23- und U 20-Frauen. Am Ende des Jahres blickt sie im DFB.de-Interview zurück auf die ersten zwölf Monate und sagt auch, was sie von der EM 2025 erwartet.

DFB.de: Frau Künzer, das erste Jahr als DFB-Sportdirektorin liegt hinter Ihnen – wie fällt Ihre Bilanz aus?

Nia Künzer: Es war ein sehr spannendes und intensives Jahr, das gefühlt sehr schnell vergangen ist. Mit ganz vielen tollen Momenten, insbesondere rund um die Mannschaften, aber natürlich auch mit ganz vielen Themen, in die ich mich reingedacht habe. Superspannende Zeiten.

DFB.de: Welche Phasen waren die wichtigsten?

Künzer: Puh, da gab es tatsächlich viele. Klar, die Maßnahmen mit den Teams, das Final Four in der UEFA Nations League, Olympia, die U 20-WM in Kolumbien. Natürlich auch der Start mit einem neuen Trainer*innenteam, die Verabschiedung von verdienten Spielerinnen – es war wirklich viel los in diesen ersten zwölf Monaten.

DFB.de: Ihre Stelle als Sportdirektorin wurde neu geschaffen. Hatten Sie damit auch die Möglichkeit, Ihre Arbeit selbst zu definieren?

Künzer: Das Anforderungsprofil der Stelle und ihre Struktur geben die Aufgaben in gewisser Weise vor. Die Sportdirektorinnenstelle ist ausgerichtet auf die Frauen-Nationalmannschaft, die U 23 und U 20. Ein ganz neues Konstrukt kann ich mir da also nicht ausdenken. Aber natürlich kann man schauen: Wo gibt es Schnittstellen, wo sind Abstimmungsprozesse sinnvoll und notwendig, wo können wir Abläufe optimieren?

DFB.de: Haben Sie das Gefühl, dass Sie dem Profil Sportdirektorin Ihren Stempel aufdrücken konnten?

Künzer: Die Aufgaben, die auf der Hand lagen, mussten angegangen werden, und ich habe sie auf meine Art gelöst. Mit meinen Entscheidungen, die natürlich auch von meinen Vorgesetzten mitgetragen wurden.

DFB.de: Sie haben bei Ihrer Vorstellung gesagt, Sie möchten Ihren kritischen Blick von außen bewahren und sich nicht von dieser DFB-Bubble auffressen lassen. Ist Ihnen das gelungen?

Künzer: Ich denke, dass ich meinen kritischen Blick bewahrt habe. Natürlich bin ich jetzt ein Stück weit in dieser Bubble. Ich würde mir schon auch wünschen, noch mehr Impulse von außen mitzunehmen, etwa bei den Vereinsbesuchen oder auch mal im Ausland zu schauen. Das war bislang in der Intensität noch nicht kontinuierlich möglich, steht aber auf meiner Agenda. Ich hinterfrage einige Dinge intern und halte meine Meinung nicht zurück. Diesen Blick habe ich mir bewahrt – und so soll das auch bleiben.

DFB.de: Sie sind sich also treu geblieben.

Künzer: Ja, das würde ich schon sagen. Natürlich gibt es manche Herausforderungen, für die nicht sofort ein Ergebnis da ist oder Kompromisse notwendig sind. Aber wichtig ist für mich, dass man lösungsorientiert bleibt. Sicherlich denke ich auch immer über meinen Aufgabenbereich hinaus, denn gerade im Frauenfußball greift ja vieles ineinander, das muss es auch, um Entwicklung voranzutreiben. Da kann ich allerdings nicht alles direkt beeinflussen, aber wichtig ist, dass man im Austausch bleibt und gemeinsam überlegt, wie man Themen und Bereiche optimieren, Entwicklungen vorantreiben kann.

DFB.de: Mussten Sie deshalb auch lernen, geduldig zu sein, einen Schritt nach dem anderen zu gehen und nicht zu viel auf einmal zu wollen?

Künzer: In meinem Aufgabengebiet nicht. Da habe ich schon versucht, eins nach dem anderen anzugehen und mir erst mal auch einen Gesamtblick über die Themen und Bereiche zu verschaffen. Natürlich gibt es immer wieder auch Themen, die mir nicht schnell genug gehen. Ich weiß aber, dass man hier und dort ein bisschen mehr Zeit für Veränderungen braucht.

DFB.de: Sie waren – nicht zuletzt in Ihrer Rolle als TV-Expertin – für Ihre klare Meinung und durchaus auch kritischen Blick auf den DFB bekannt. Wie ist Ihr Blick jetzt, sozusagen als Teil der Bubble?

Künzer: Im DFB leben wir eine noch immer neue Struktur mit verschiedenen Geschäftsbereichen. Als ich kam, wurde diese Struktur gerade neu im Verband umgesetzt. Da finde ich es normal, dass sich gewisse Abstimmungsprozesse sowie thematische und strategische Entwicklungen noch einspielen müssen. Viele Kolleginnen haben über einen langen Zeitraum im DFB in einer anderen Struktur gearbeitet, zum Beispiel ohne eine übergeordnete Sportdirektorin. Ich denke, dass bei diesen Kolleginnen der Gewöhnungsprozess und die Herausforderung größer waren als für mich. Ich musste mich in diesem Punkt nicht umstellen, ich habe in dieser neuen Konstellation meine Aufgabe angetreten.

DFB.de: Was haben Sie am DFB als Erstes positiv wahrgenommen?

Künzer: Mein Ankommen hier. Für mich war es sehr hilfreich, dass ich viele Akteure, insbesondere aus dem Frauenfußball, schon kannte. Das hat mir die ersten Tage und Wochen leichter gemacht und sicherlich auch bei einigen Themen geholfen. Denn für mich ist es wichtig, bis zu einer Entscheidung, die ich treffe, auch Einschätzungen von anderen anzuhören. Auch das finde ich positiv: dass sich jeder einbringt und seine Gedanken und Ideen vorträgt. Die vorhandene Expertise möchte ich natürlich nutzen.

DFB.de: Sie haben mal gesagt, dass es wichtig ist, Menschen zu haben, die einem Mut zusprechen. So war es ja auch bei Ihrer Entscheidung, die Stelle als Sportdirektorin anzunehmen.

Künzer: Ja, das ist vorher so gewesen, und das ist weiterhin so. Ich habe natürlich Personen, deren Meinung mir sehr wichtig ist und mit denen ich mich auch regelmäßig austausche. Und natürlich gehört es dazu, dass man sich gegenseitig bestärkt in dem, was man tut. So wie mich Menschen ermutigen, mache ich das dann auch. Uns eint die Liebe zum Fußball, und wir wissen bei all den Herausforderungen, dass es ein Privileg ist, sich in diesem Arbeitsumfeld zu bewegen. Auch wenn es immer wieder mal Momente gibt, in denen man denkt, jetzt geht es gerade nicht in die Richtung, die ich mir vorstelle. Dann ist es gut, dass man Menschen im Umfeld hat, die immer ein offenes Ohr haben.

DFB.de: Die Fähigkeit, zuhören zu können, gehört zu den Qualitäten, die Ihnen nachgesagt werden. Wie wichtig ist das als Führungskraft?

Künzer: Das ist ein wichtiger Teil von Führung. Auf die Art mache ich mir von ganz vielen Dingen ein Bild. Aus den Gesprächen und Meinungen komme ich am Ende zu einer Einschätzung, die mich zu meinen Entscheidungen führt.

DFB.de: Es gab einige wichtige Entscheidungen in den vergangenen zwölf Monaten. War die Einstellung des neuen Bundestrainers Christian Wück Ihre wichtigste Entscheidung im ersten Jahr?

Künzer: Für die Öffentlichkeit war das so. Aber auch grundsätzlich. Die Frauen-Nationalmannschaft ist das Zugpferd – und der Bundestrainer die dafür hauptverantwortliche Person. Von daher: Ja, war das für meinen Bereich die wichtigste Personalentscheidung.

DFB.de: Wie groß war der Druck für Sie, in dieser Personalie die richtige Entscheidung zu treffen?

Künzer: Es war von vornherein klar, dass das eine vordringliche Aufgabe als Sportdirektorin ist. Die Konstellation war nicht einfach, die zeitlichen Rahmenbedingungen herausfordernd, auch vor dem Hintergrund der noch nicht entschiedenen Qualifikation für die Olympischen Spiele. Wir hatten einige Unwägbarkeiten zu berücksichtigen und sind sehr froh, dass wir mit Christian Wück und dazu Maren Meinert und Saskia Bartusiak unsere Wunschlösung realisieren konnten.

DFB.de: Die ersten beiden Maßnahmen mit dem neuen Trainer*innenteam sind absolviert, vier Testspiele, zwei Siege, zwei Niederlagen. Wie beurteilen Sie diesen Auftakt?

Künzer: Natürlich müssen auch Christian Wück, Maren Meinert und Saskia Bartusiak sich erst miteinander einspielen. Und nicht nur sie. Das Trainer*innenteam besteht ja zudem aus Torwarttrainer, Athletiktrainer und Analyst. Und diese drei befanden sich bis zum Ende der Olympischen Spiele quasi im laufenden Betrieb – ein intensives Kennenlernen, ein erstes Einarbeiten war daher vorher nicht möglich. Ich würde die vergangenen Maßnahmen von daher noch mit Findungsphase beschreiben, für das Trainer*innenteam untereinander und genauso für die Zusammenarbeit mit der Mannschaft. Aber mein Eindruck ist, dass die gesamte Gruppe bezüglich Spielphilosophie und der Zusammenarbeit ein gemeinsames Verständnis gefunden hat. Christian Wück, Maren Meinert und Saskia Bartusiak hinterfragen das natürlich immer wieder und passen auch Dinge an, wo dies notwendig ist. Ich habe aber das Gefühl, dass sie sehr oft diskutieren und auch große Freude haben bei dem, was sie tun. Von daher bin ich sehr positiv gestimmt.

DFB.de: Auch die Spielerinnen scheinen da mitzugehen.

Künzer: Ja, das gemeinsame Commitment, das das Trainer*innenteam gefunden hat, hat auch die Mannschaft überzeugt. Stand jetzt gibt es eine große Offenheit von allen, das gemeinsam anzugehen. Gut ist auch, dass das Trainer*innenteam Fragen beantwortet, erklärt, warum sie etwas so oder so sehen. Ich glaube, das ist ganz wichtig, um auch die Spielerinnen mitzunehmen bei der Idee, wie diese Mannschaft Fußball spielen soll.

DFB.de: Maren Meinert und Saskia Bartusiak sind – wie Sie – ehemalige Nationalspielerinnen. Im DFB gibt es einige, die nach der Zeit als Spielerin den Weg zum Verband gefunden haben. Wie wichtig ist das?

Künzer: Es ist wichtig, dass man Personen hat, die wissen, worauf es auf diesem Niveau ankommt, wenn du Turniere oder entscheidende Spiele gewinnen willst. Da haben wir natürlich mit Maren und Saskia sehr erfolgreiche Spielerinnen, die auch wissen, wie man sich in dieser Rolle fühlt und diese Perspektive mitbringen. Darüber hinaus verfügen sie über große Erfahrungen als Trainerin beziehungsweise Analystin – von daher ist das Gesamtpaket stimmig. Sie bringen eine eigene Perspektive und Kompetenzen mit – in der Mischung ist das sehr gut so. Das gilt grundsätzlich, also nicht nur auf die Frauen-Nationalmannschaft bezogen. Ich halte es für sehr sinnvoll, Positionen im Frauenfußball mit Personen zu besetzen, die diesen ge- und erlebt haben. Das ist in vielen Bereichen schon geschehen. Wir haben so viel Potenzial an Frauen, die als Aktive Karriere gemacht und gleichzeitig aber auch noch im Backup eine Ausbildung oder Studium absolviert haben, also eine duale Karriere. Das Potenzial müssten wir noch viel mehr ausschöpfen.

DFB.de: Sie haben natürlich auch Kontakte zu Vereinen. Wie erleben Sie das Zusammenspiel mit den Klubs?

Künzer: Ich habe vor einigen Monaten meine Vereinsbesuche absolviert, bei allen Klubs der ersten Liga. Mein Eindruck ist, dass das positiv aufgenommen wurde. Diese Besuche waren für mich wichtig, um die handelnden Personen kennenzulernen und mir auch von den Bedingungen vor Ort ein Bild zu machen. Zum anderen fand ich, dass es der Respekt gebietet, dass die Sportdirektorin nach ihrem Amtsantritt persönlich vorbeischaut. Mir war es ein Anliegen zu vermitteln, dass ich daran interessiert bin, im Austausch zu bleiben und gemeinsame Lösungen zu finden. Da hatte ich ein gutes Gefühl bei den Besuchen. Es gab sicherlich auch Themen, zu denen man naturgemäß kontrovers diskutiert hat, wie etwa die U 20-WM, die während der Bundesliga-Hinrunde terminiert war. Da hatten die Vereine Diskussionsbedarf, und das verstehe ich. Aber auch hier haben wir die Situation überwiegend gut gelöst. Wenn ich sehe, wie sich das Team bei der WM präsentiert hat und wie sich einige Spielerinnen nach der U 20-WM entwickelt haben, sehe ich das im Ergebnis positiv – ich hoffe, diese Einschätzung können die Vereine auch teilen.

DFB.de: Nach einem Jahr DFB – wie hat sich das Gefühl in den vergangenen zwölf Monaten verändert, wenn Sie morgens zur Arbeit fahren?

Künzer: Zu dem, was mir an diesem Job so gefällt, gehört, dass es nicht den immer gleichen Arbeitstag gibt. Ich bin viel unterwegs, auch das mag ich. Überhaupt finde ich, dass es ein Privileg ist, wo und wofür wir arbeiten. Und manchmal ist es gut, sich dies wieder vor Augen zu führen. Was ich in den vergangenen zwölf Monaten an Begegnungen und Erlebnissen hatte, das ist etwas ganz Besonderes. Dazu gehört natürlich auch die Arbeit am Campus, der einfach ein großartiges Arbeitsumfeld ist. Ich möchte mir auch beibehalten, in dem Gebäude am Campus nicht nur in meinem Büro zu sitzen, sondern den Kontakt, den Austausch zu suchen. Ich mag das total und finde es sehr wichtig, auch um in diesem großen Verband das Miteinander und die Identifikation zu stärken.

DFB.de: Gab es ein persönliches Highlight in diesem ersten Jahr?

Künzer: Die dramatischen und knappen Spiele bei den Olympischen Spielen waren vom Aufregungsfaktor schon speziell. Es gibt darüber hinaus viele emotionale Momente, auch die Spiele mit den Verabschiedungen von Spielerinnen, die so viel für den Fußball geleistet haben.

DFB.de: Angetreten sind Sie, um Titel zu holen. Ist die Bronzemedaille ein Titel?

Künzer: Genau genommen ist es kein Titel, aber eine Bronzemedaille bei Olympischen Spielen ist ein sportlicher Erfolg. Und kein kleiner, das muss man feststellen und anerkennen. Dieser Erfolg zeigt auch, zu was wir noch immer in der Lage sind. Das ist das, worum es in letzter Zeit bei der Frauen-Nationalmannschaft ging: dass wir wieder ein Selbstbewusstsein und Selbstverständnis entwickeln. Auch in der Außenwahrnehmung, denn das hat uns immer auch auf dem Platz geholfen. Dass andere Teams Respekt vor uns haben. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, uns das wieder zu erarbeiten. Ziel muss sein, dass alle wissen, wie viel Qualität wir auf dem Platz haben - und dass es sehr, sehr schwierig wird, gegen uns zu spielen und zu gewinnen.

DFB.de: Welche Hoffnungen und Erwartungen verbinden Sie mit 2025?

Künzer: Schon jetzt steigt die Spannung Richtung EURO, bei diesem Turnier wollen wir abliefern. Und neben der Frauen-Nationalmannschaft haben wir ja noch andere Teams, die sich wirklich gut entwickeln. Die wieder eingeführte U 23-Nationalmannschaft ist ein tolles und wichtiges Projekt, diese Mannschaft hat richtig viel Freude gemacht während der vergangenen beiden Maßnahmen. Dieses Team wollen wir weiter vorantreiben und auch hochwertig präsentieren, denn die Spielerinnen haben es einfach verdient. Für mich ist klar: Die Wiedereinführung der U 23 wird auch die Entwicklung bei den Frauen voranbringen. Wir hoffen natürlich, dass auch die UEFA zeitnah einen offiziellen Wettbewerb aus der U 23-Spielrunde macht und damit diese Mannschaft zusätzlich aufwertet. Auch die U 19-Frauen habe ich im Blick, bei der auch die EM-Qualifikation und bestenfalls die Teilnahme an der Europameisterschaft anstehen. Dieses Team ist natürlich wichtig für uns, weil wir nach jungen Talenten Ausschau halten, und auch dort gibt es einen großen Talentepool. Ein Rädchen muss da in das andere greifen, diese Zusammenarbeit haben wir in den vergangenen Monaten schon intensiviert und sind da auf einem guten Weg.

DFB.de: Ihr Fazit nach zwölf Monaten fällt offenbar positiv aus. Was muss passieren, damit Sie auch nach 24 Monaten eine zufriedene Bilanz ziehen?

Künzer: Auf die Teams bezogen, zählen natürlich die Ergebnisse. Im Fokus steht die EURO, das ist klar. Für mich ist es aber auch die Art und Weise, wie wir auftreten bei den Länderspielen. Ich halte es für falsch, Entwicklung immer ausschließlich an Ergebnissen festzumachen. Ich glaube, die Art und Weise, wie wir uns bei der EM präsentieren, wird auch entscheidend sein. Anerkennung und Respekt gewinnt auch, wer begeistert, wer mitreißt. Und unsere Spielweise ist darauf ausgelegt, die dominante und aktive Mannschaft zu sein. Mit mutigen Spielerinnen, mit selbstbewussten Spielerinnen. Das will ich sehen. Und wenn wir das auf den Platz bekommen, bin ich sehr optimistisch, dass wir auch von den Ergebnissen nicht enttäuscht sein werden.

Kategorien: Frauen-Nationalmannschaft, U 20-Frauen, U 23-Frauen

Autor: as