Männer
Jupp Heynckes: Ein Riese - als Spieler, Trainer und Mensch
Die Hall of Fame des deutschen Fußballs im Fußballmuseum in Dortmund wird um sechs Prominente reicher. Sie gehören zu den Größten, die je in unserem Sport aktiv waren. Heute im DFB.de-Porträt: Jupp Heynckes.
Man muss eine Weile suchen, um einen deutschen Fußballer zu finden, der auf vergleichbare Erfolge als Spieler blicken kann wie Jupp Heynckes. Die Titelsammlung des Stürmers ist lückenlos, was es zu gewinnen gab, hat Heynckes gewonnen. Aber er hatte das Pech, in einer Zeit zu spielen, in der die Aller-Größten unter den Großen spielten. Beckenbauer, Netzer, Overath und Müller – ob mit ihm oder gegen ihn, sie nahmen dem "Jupp", der eigentlich Josef heißt, immer etwas Licht. Was ihm herzlich wenig ausmachte, was aber auch dazu führte, dass Heynckes heute eher als ehemaliger Trainer denn als ehemaliger Spieler wahrgenommen wird. Dabei stand er 1972 in der Europameister-Elf von Brüssel, auf Rechtsaußen. Dabei wurde er 1974 Weltmeister, im Finale saß er auf der Bank und wurde "vergessen". Bernd Hölzenbein hielt sich nicht an die Absprache, sich auswechseln zu lassen. Lange hat das an Jupp genagt, aber öffentlich hat nicht er es gemacht, sondern Hölzenbein. Drei Jahrzehnte später. Was ziemlich viel Gutes aussagt – über Heynckes und seinen Charakter.
Um seine Vita als Spieler beneiden ihn Millionen Fußballer. Viermal Deutscher Meister mit Mönchengladbach, UEFA-Pokalsieger 1975, DFB-Pokalsieger 1973 und zweimal Torschützenkönig (1974, 1975) der Bundesliga. "Nur" zweimal muss man sagen angesichts von 220 Treffern in 13 Jahren – aber in all diesen Jahren machte auch ein gewisser Gerd Müller Strafräume und Torhüter unsicher. In der Nationalmannschaft kam Heynckes nicht so zur Geltung wie im Verein. Allerdings: 14 Tore in 39 Spielen – das wäre heute aller Ehren wert. Und doch: An seine phänomenale Torquote in der Bundesliga (60 Prozent) kam er im DFB-Dress nicht heran. In der Bundesliga aber haben nur Gerd Müller (365), Klaus Fischer (268) und Robert Lewandowski (227) mehr Tore als Heynckes (220) erzielt.
"Er hat sich selber wahnsinnig unter Druck gesetzt"
Schon während seiner letzten Saison 1977/1978 stellte Heynckes die Weichen für seine Zukunft und machte in Köln das Trainer-Diplom. Seine Frau Iris sah das wohl etwas skeptisch und so versprach er ihr einen Pelz für 10.000 DM, wenn er nicht mindestens mit "gut" abschneiden würde. Es wurde "gut" und Iris musste sich mit einem Abendessen zufriedengeben. Eine neue Ära und ein neues Kapitel im Fußball-Leben des Jupp Heynckes begannen. Schon nach einem Jahr als Assistent von Udo Lattek übernahm er 1979, mit gerade 34, den Cheftrainer-Posten bei Borussia Mönchengladbach. Dort wollte er anfangs zu viel, sein Glück suchte er in zu viel Autorität, man sprach vom "Preußen vom Niederrhein". 18-Jährige wurden mit Bleiwesten über den Platz gehetzt und sein Ehrgeiz sorgte nicht überall und immer für gute Stimmung.
Ewald Lienen, damals sein Spieler, erinnerte sich so: "Es hat Phasen gegeben, da hätte ich ihn auf den Mond schießen können. Er hat sich selber wahnsinnig unter Druck gesetzt." Wolfram Wuttke verpasste ihm ob seines schnell zornrot werdenden Kopfes den Spitznamen "Osram", Heynckes, so die Überlieferung, ihm einen Einlauf. Aber Heynckes lernte schnell, vor allem lernte er sich zu mäßigen und mit verschiedenen Charakteren umzugehen. Und als sein Wechsel zu den Bayern 1987 feststand, floss am Bökelberg so manche Träne. Er ging mit einem noch gültigen Vereinsrekord von zehn Siegen am Stück.
Hoeneß' "größter Fehler"
In München ging er durch die ganz normale bayerische Trainer-Schule, auch zwei Meistertitel (1989, 1990) bewahrten ihn im vierten Jahr nicht vor dem Rauswurf. Uli Hoeneß musste im Oktober 1991 die Entlassung vollziehen, gegen seinen Willen und zu seinem Leidwesen. "Den größten Fehler meines Lebens", versuchte er später noch dreimal wettzumachen. Heynckes ging nach Spanien zu Athletic Bilbao und lernte Gelassenheit. "Ich gehe heute mehr auf den Menschen ein, das habe ich in Spanien gelernt", wurde er später zitiert.
Bei seinem Bundesliga-Comeback 1994 in Frankfurt war er noch ganz der Preuße vom Niederrhein. Er verdonnerte die schlampigen Stars Anthony Yeboah, Jay-Jay Okocha und Maurizio Gaudino zum Straftraining, woraufhin diese beleidigt nicht zum nächsten Spiel erschienen. Als der Erfolg, ohne das suspendierte Trio, ausblieb, zog Heynckes Konsequenzen und trat Heynckes zurück. "Die Spieler bekommen immer mehr Alibis für ihre Unzulänglichkeiten, Moral und Verantwortungsbewusstsein bleiben auf der Strecke", sagt er damals und stellte auch fest: "Der Verein und ich passen nicht zusammen." Wie zum Beweis verzichtete der Ehrenmann Heynckes auf eine Abfindung.
Es hat dann immer noch etwas gedauert, bis er der gelassene Souverän wurde, der er heute ist. Bei Real Madrid haben sie "Don Jupp" 1998 trotz Champions-League-Sieges entlassen, als Opfer einer Medienkampagne. Warum? Geradlinig wie er stets gewesen ist, hatte er ein halbes Jahr nicht mit Reportern gesprochen, die ihn trotz nächtlicher Telefoninterviews bei erster Gelegenheit in die Pfanne gehauen hatten.
Lob von Toni Kroos
Es folgten Stationen auf Schalke und in Mönchengladbach. Schalke entließ ihn 2004 nach 16 Monaten und Manager Rudi Assauer rief ihm nach, er sei "eben ein Trainer der alten Schule". Heynckes wollte selbst ihm 20 Euro Strafe abknöpfen, weil Assauer auf einer Reise die falschen Socken trug. In Mönchengladbach trat er Anfang 2007 nach Morddrohungen zurück, wieder ohne einen Gedanken an die Abfindung und er gab, wie Präsident Jacobs herausstellte, den Dienstwagen "gewaschen und vollgetankt" zurück. Korrekt war er immer, den Schritt hin zu mehr Gelassenheit und damit zum idealen Trainer ging er aber erst nach einer bitteren Erfahrung: "Ich habe eine zweijährige Krankheitsphase mit mehreren Operationen durchgemacht. Da habe ich das alles reflektiert und mir wurde klar, dass viele Dinge im Leben gar nicht so wichtig sind. Das hat mir gutgetan", sagte er 2010. Seitdem ist sein Umgang noch menschlicher geworden. Feldherr, Don Jupp, Charmeur – diese Entwicklung beschrieb der Stern in einem großen Porträt.
Charmeur, das meint vor allem den Herbst seiner Trainerkarriere. Charmeur und Collectionneur – Sammler. Ex-Bayer Toni Kroos kannte ihn schon vor Heynckes' Rückkehr nach München: "Ich hatte ihn ein Jahr in Leverkusen und kann sagen, dass er ein hervorragender Trainer ist. Er hat ein unheimlich gutes Händchen dafür, wie man mit einer Mannschaft umgeht." Die bis zu dieser Saison längste Bundesligaserie von Bayer 04 ohne Niederlage stammt aus der Heynckes-Zeit (24 Spiele). Wie ein guter Wein reift auch ein guter Trainer, Heynckes ist das Paradebeispiel dafür.
Rückkehr aus dem Ruhestand
Ende der Saison 2008/2009 ergriff Uli Hoeneß nach dem Rauswurf von Jürgen Klinsmann die Chance, seine Schuld bei Heynckes abzutragen. Der befand sich eigentlich schon im Ruhestand, nun durfte er Bayerns Saison noch retten und er führte den Rekordmeister in die Champions-League-Plätze. Gerne wäre er geblieben, gerne hätten sie ihn auch behalten, aber mit Louis van Gaal war schon alles klar. Außerdem war Heynckes schon 64. Also zurück ins "Casa de los Gatos", das Haus der Katzen, wie er sein Anwesen in Schwalmtal bei Mönchengladbach nennt. Dann kam der Ruf aus Leverkusen. Van Gaal gewann derweil das Double 2010, nur das Champions-League-Finale nicht. In der Saison 2010/2011 taten sich Risse auf zwischen van Gaal und dem Rest des Vereins, allen voran Uli Hoeneß. Der Präsident entließ den Niederländer im April und holte Heynckes ein zweites Mal zurück. Experten runzelten die Stirn: Andere gehen mit 65 in Rente, Bayern holt einen 66-Jährigen als Trainer.
Der Trainer-Rentner Heynckes wurde zum Vorbild einer stetig wachsenden Bevölkerungsschicht. Mit 66 Jahren, hatte schon Udo Jürgens gesungen, fängt das Leben doch erst an. Reiner Calmund, die Manager-Legende, unterstützte den Coup: "Da ist der alte Bellheim, Trainer-Senior Jupp Heynckes, der sich ganz toll entwickelt hat, der wesentlich lockerer und souveräner geworden ist." Es funktionierte mit den Bayern und Jupp, nur die Rendite blieb zunächst aus. Im Mai 2012 schauten sie zurück auf ein Jahr mit drei zweiten Plätzen. Das Drama um das tragisch verlorene "Finale dahoam" gegen Chelsea ließ die Verantwortlichen nach dem ersten Schock nicht mehr ruhen.
"Ein Freund, der immer für uns da war"
Matthias Sammer kam als Sportdirektor und Heynckes telefonierte täglich mit Vorstand Karl-Heinz Rummenigge in dessen Urlaub. Eine neue Mannschaft wurde gebaut und diesmal gewannen sie alles. Er hielt auch Kurs nach der leichten Kränkung durch die Verpflichtung von Pep Guardiola, die schon im Januar bekannt wurde – und damit auch sein Abschied, den er gerne selbst verkündet hätte. Die Mannschaft aber zerriss sich für ihren menschlichen Trainer, unter dem Robben und Ribéry aufblühten, wie nie und unter dem kein Reservist aufmuckte. Keiner. Manuel Neuer würdigte die beiden Jahre mit Heynckes so: "Ein Freund, der immer für uns da war. Seine menschliche Art hat uns als Mannschaft zusammengeschweißt." Diese Mannschaft verlor 2012/2013 nur ein Spiel und brach alle Rekorde, einige überstanden auch die Guardiola-Ära. Beim letzten Saisonspiel an alter Gladbacher Wirkungsstätte verlor er sich hinterher in Erinnerungen und musste auf der Pressekonferenz mit den Tränen kämpfen. Die Journalisten klatschten, wann hat es das einmal gegeben? Alle mochten ihn nun, keiner wollte ihn ziehen lassen. Aber er ging, mit vollen Händen.
In London schlugen sie an jenem 25. Mai 2013 den lästigen Dauer-Rivalen BVB im rein deutschen Champions-League-Finale 2:1. Zum zweiten Mal gewann Heynckes den Silber-Pott, wieder durfte er ihn nicht verteidigen. Diesmal aber ging er nicht im Zorn wie einst in Madrid, sondern im Triumph. Mit dem Triple, das im Berliner Pokalfinale gegen Stuttgart (3:2) perfekt gemacht wurde. Die Spieler warfen ihn in die Luft, später rannen Tränen von ihren Wangen und auch von seinen, bei der vermeintlich letzten Pressekonferenz, die die Bayern für ihn am 4. Juni 2013 veranstalteten. Da saßen sie auf dem Podium, die Helden der Siebziger – Hoeneß, Rummenigge und der Jupp und rangen um Worte. Von Freundschaft, Dank und Respekt war die Rede. "Im Leben zählen irgendwann deine Erfolge nichts mehr, sondern wahre Bedeutung hat, welche Spuren du hinterlassen hast, was du den Menschen gegeben hast und mit welcher Haltung, mit welcher Empathie, mit welchem Respekt du ihnen begegnet bist", hat Heynckes damals gesagt. Sätze, die bei vergleichbaren Gelegenheiten nicht selten zu hören sind. Aber bei Jupp Heynckes glaubte man sie - ohne jeden Zweifel.
Und weil dem so war, folgte dem denkbar perfekten Abschied ein Epilog. Im Herbst 2017 klingelte Uli Hoeneß wieder einmal bei seinem Freund Jupp durch, seine Bayern hatten in Paris 0:3 verloren und waren unter dem Italiener Carlo Ancelotti vom rechten Weg abgekommen. In München kennen sie nur die Via triumphalis, und der 72-jährige Heynckes nahm den Auftrag ein viertes Mal an. Und wieder hatte er Erfolg. Mit der Meisterschaft 2018 fügte er im Alter von 73 Jahren seiner unglaublichen Vita und Titelsammlung einen weiteren Triumph hinzu.
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Autor: um
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