Heute vor zehn Jahren: Der vierte Stern

Heute jährt sich der vierte deutsche Weltmeistertitel zum zehnten Mal. DFB.de blickt zurück auf die legendären Tage von Campo Bahia, endend mit der Krönung im Maracana-Stadion.

Nach zwei dritten Plätzen in Folge wollte die deutsche Mannschaft in Brasilien endlich den Titel. So stand das Turnier im Zeichen der Jagd nach dem vierten Stern, auf den das Land 24 Jahre wartete. Die Hoffnungen waren nicht unbegründet, man spielte eine souveräne Qualifikation und gewann neun von zehn Partien. Das Vertrauen in die Mannschaft war nach 32 WM-Qualifikationsspielen ohne Niederlage groß. Und es wuchs, nicht zuletzt als im Mai 2013 im Londoner Wembley-Stadion mit Bayern München und Borussia Dortmund zwei Bundesligisten das Finale der Champions League bestritten. Das Gros dieser Teams bildete auch die Nationalmannschaft. Der deutsche Fußball war spürbar im Aufwind, Großes kündigte sich an.

Aber in der Saison 2013/2014 gab es im Europapokal Rückschläge auf breiter Front, das Leistungsbild stimmte bei etlichen Spielern nicht. So hielt Bundestrainer Joachim Löw im März 2014 vor dem Test gegen Brasilien eine deutliche Ansprache, die allen die Sinne schärfen sollte. "Ich habe den Spielern gesagt: die Uhr tickt. Nur wer sie hört, hat eine Chance dabei zu sein."

Mit zwei angeschlagenen Sechsern nach Brasilien

Als er seinen vorläufigen 30er Kader berief, waren einige Überraschungen dabei. "Lauter Odonkors", titelte die Süddeutsche Zeitung in Anspielung auf David Odonkor, der 2006 ohne ein Länderspiel auf den WM-Zug gesprungen war. Vom in Italien spielenden Verteidiger Shkodran Mustafi hatte selbst Kapitän Philipp Lahm noch nie etwas gehört. Sogar Teenager wie die Schalker Leon Goretzka und Max Meyer durften sich Hoffnungen machen und die des Dortmunders Erik Durm erfüllten sich sogar - nach nur 19 Bundesligaspielen. Kaum mehr Spiele (33) hatte Mönchengladbachs Christoph Kramer, der nicht mal im vorläufigen Aufgebot gestanden hatte, dem Trainerstab aber wegen seines Laufpensums – dem höchsten in der Bundesliga – aufgefallen war.

Dafür musste um einige Etablierte gezittert werden. Manuel Neuer und Philipp Lahm erlitten Verletzungen im Pokalfinale zwischen Bayern und Dortmund, das Bastian Schweinsteiger gar verpasste. Sami Khedira dagegen spielte nach seinem Kreuzbandriss im November 2013 erst in den letzten Saisonwochen wieder, gewann mit Real Madrid die Champions League und signalisierte dem Trainerstab per Videobotschaften von seinem Aufbautraining, unbedingt dabei sein zu müssen.

Gleich zwei angeschlagene "Sechser" – Löw ging Risiko. Im letzten Testspiel am Tag vor dem Abflug verletzte sich dann noch Marco Reus gegen Armenien, so dass der bereits verabschiedete Mustafi in den Kreis zurückkehrte und am 7. Juni in der Lufthansamaschine gen Porto Seguro saß.

Ab ins Campo Bahia: "Wie im Paradies"

Von dort ging es weiter in das heiß diskutierte Quartier Campo Bahia im 900-Seelen-Ort Santo André direkt am Atlantik, das nur mit einer Fähre zu erreichen war und extra für die WM errichtet wurde: 14 Luxus-Bungalows mit insgesamt 60 Zimmern, die anschließend Touristen offen stehen würden.

Erster Gast aber war der DFB. Die Schauergeschichten von rostigen Rohren, Schlaglöchern, defekten Leitungen, unverputzten Wänden und sandigen Plätzen erwiesen sich als maximal übertrieben, die Sorge um rechtzeitige Fertigstellung als unbegründet. Obwohl Oliver Bierhoff vier Tage vor dem Abflug einen Anruf des Bauleiters erhielt mit dem Rat, sich einen Plan B zu überlegen.

Sie brauchten ihn nicht, die Spieler und Betreuer erlebten im idyllischen Campo Bahia 32 unvergessliche Tage. Der Kader wurde in vier Wohngruppen aufgeteilt: drei mit je sechs, eine mit fünf Spielern. Die Zusammensetzung bestimmte der vierköpfige Spielerrat, von Lagerkoller und Animositäten wurde nichts bekannt. Joachim Löw im Rückblick: "Es war eine Oase der Ruhe für uns – wie im Paradies."

Dickes Ausrufezeichen zum Turnierauftakt

Deutschland wurde im Dezember 2013 in Gruppe G gelost und muss entsprechend lange auf den ersten Anpfiff warten. Nachdem bereits 24 Mannschaften ins Turnier gestartet sind, beginnt am 16. Juni endlich der Ernstfall. In Salvador de Bahia wartet Portugal um Weltstar Cristiano Ronaldo. Löw muss noch auf Schweinsteiger verzichten und lässt Lahm – wie bei den Bayern – im Mittelfeld spielen. Mit Khedira und Toni Kroos stehen dem gelernten Außenverteidiger versierte Mittelfeldspieler zur Seite, die herauf beschworenen Bedenken erweisen sich als überflüssig. Im Sturm erhält Mario Götze den Vorzug vor Veteran Miro Klose, aber den Torjäger gibt an diesem Tag ein anderer: Thomas Müller. Der Münchner, der gleich bei seiner ersten WM-Teilnahme 2010 Torschützenkönig geworden war, macht da weiter, wo er in Südafrika aufgehört hat.

Der Auftakt gerät zur Müller-Show, zum unerwartet deutlichen 4:0 trägt er drei Tore bei. Das erste per Elfmeter, den Götze herausholt, die Tore zum 3:0 und 4:0 als Abstauber. Dazwischen kommt noch ein Kopfballtor von Mats Hummels nach Kroos-Ecke. Das Spiel ist bereits zur Pause (3:0) entschieden, auch weil Portugals Pepe nach 37 Minuten Rot sieht.

Auf der Tribüne jubelt Kanzlerin Angela Merkel, die staatsmännisch sagt: "Ich freue mich mit der deutschen Mannschaft über einen wunderbaren Auftakt." Sie verspricht, zum Finale wieder zu kommen und alle hoffen auf ein Wiedersehen.

Das verfluchte zweite Spiel

"Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende Disziplin", lautet das Motto der DFB-Equipe vor ihrer Jagd nach dem vierten Stern. Begeisterung ist schon mal da. Bild wird euphorisch: "Das wird unsere WM!" Selbst der große Diego Maradona bekommt es mit der Angst zu tun: "Heute haben wir ein vernichtendes Deutschland gesehen. Ein Deutschland, das die Perfektion streifte."

Das 100. WM-Spiel der DFB-Geschichte (Weltrekord!) hätte kaum besser verlaufen können. Zufrieden kehren die Sieger auf ihre Insel zurück, doch vor Selbstzufriedenheit wird in den Medien gewarnt. In diesen geht die Angst um vor dem ominösen zweiten Spiel, das bei Turnieren nur selten gewonnen wurde.

Auch am 21. Juni in Fortaleza schlägt das Omen wieder zu und nachher sind alle froh, dass es gegen Ghana noch zu einem Punkt gereicht hat (2:2). Es spielt die Siegerelf von Salavador de Bahia, aber sie spielt nicht wie ein Sieger. Vor der Pause fallen keine Tore, Ghana hält die Partie offen und beschäftigt Manuel Neuer bedeutend häufiger, als es die Portugiesen taten.

Müller: "Endlich habe ich mal ein schönes Tor gemacht"

Als Götze das kuriose 1:0 gelingt – er köpft sich eine Flanke auf den Oberschenkel – gibt das keine Sicherheit. Im Gegenteil: Ghana schießt binnen neun Minuten zwei Tore und sorgt für den einzigen Rückstand der DFB-Elf während dieser WM. Er währt genau acht Minuten, dann bringt eine Zusammenarbeit der Joker den Ausgleich. Schweinsteiger und Klose geben ihr Turnierdebüt, die Ecke des Münchners drückt der Wahl-Römer Klose über die Linie. Es ist sein 15. WM-Tor, der Rekord des Brasilianers Ronaldo ist eingestellt. Und wieder sieht die Welt den Klose-Salto, den er diesmal nicht mehr so gut steht wie bei der WM-Premiere 2002. "Danke, Alter!", titelt die Bild am Sonntag. Im deutschen Lager regiert nach diesem Spiel Realismus, Khedira sagt: "Wir haben taktisch nicht abgerufen, was wir wollten." Nun fordert Bild: "Jogi muss umbauen, damit wir nicht vorzeitig abhauen".

Die Lahm-Debatte nimmt Fahrt auf, aber Löw bleibt vor dem Gruppenfinale ausgerechnet gegen Jürgen Klinsmanns Amerikaner seiner Linie treu. Er ändert zwar die Aufstellung und bringt Schweinsteiger und Lukas Podolski für Khedira und Götze, nicht aber das System.

Die Amerikaner haben sich von Portugal 2:2 getrennt und in der 95. Minute noch den Ausgleich kassiert, sonst wären sie schon durch. Nun aber reicht beiden Kontrahenten ein Unentschieden. Das lässt Spekulationen blühen und die Zeitungen erklären den jüngeren Lesern, was 1982 in Gijon zwischen Deutschland und Österreich geschah. Klinsmann und Löw, die Autoren des Sommermärchens 2006, weisen jeden Gedanken an eine Absprache zurück und der Regentag von Recife, wo die Fluten beinahe eine Absage bewirkt hätten, gibt ihnen Recht. Die Deutschen spielen drückend überlegen, bekommen aber nur ein Tor zustande, das Müller nach einer abgewehrten Ecke von der Strafraumgrenze erzielt (55.). "Endlich habe ich mal ein schönes Tor gemacht", strahlt der Münchner. "Müller, Du Regengott!", titelt Bild.

Mertesackers legendäres "Eistonnen"-Interview

Am Ende jubeln auch die Verlierer, Portugals 2:1 nimmt Ghana aus dem Rennen und ist doch zu niedrig, um selbst dabei zu bleiben. Der eigentliche Sieger des letzten Spieltags der Gruppe G ist der Fair-Play-Gedanke. Spaniens Sportblatt AS schreibt: "Müller wäscht Deutschlands Namen nach 32 Jahren rein. Es gab keinen Nichtangriffspakt wie zwischen Deutschland und Österreich 1982. Deutschland setzt seinen Eisenfuß ins Achtelfinale und säubert seinen Namen."

In Porto Alegre bestreitet die Löw-Elf dann ihr schwächstes WM-Spiel, hat große Mühe mit den kampfstarken Algeriern und mit der eigenen Taktik. Torwart Manuel Neuer macht ein spektakuläres Spiel, vor allem als "Libero". Man zählt 19 Ballkontakte außerhalb des Strafraums, vier Mal rettet er in höchster Not mit Kopf und Fuß. Neuer gelassen: "Das ist nun mal meine Spielweise." Torwarttrainer Andy Köpke witzelt, seit Franz Beckenbauer habe er "keinen besseren Libero mehr gesehen". Tore fallen erst in der Verlängerung, Joker André Schürrle bricht mit einem gekonnten Hackentreffer den Bann (92.), Mesut Özil schließt einen Konter ab (120.). Erst dann wird Neuer überwunden, aber nach Djabous Ehrentreffer wird sofort abgepfiffen.

In Erinnerung bleibt von diesem 30. Juni vor allem ein Interview, das ein abgekämpfter Per Mertesacker im ZDF gibt. Kritische Fragen zur Leistung kontert der Abwehrrecke so: "Was wollen Sie jetzt von mir? Kann ich nicht verstehen. Glauben Sie unter den letzten 16 ist hier eine Karnevalstruppe oder was? Die haben uns das richtig schwer gemacht...Was wolln Se? Wollen Se `ne erfolgreiche WM oder wollen Sie wieder ausscheiden und haben schön gespielt?" Er lege sich jetzt "drei Tage in die Eistonne und dann sehen wir weiter. Wir sind weiter gekommen und super happy."

Hummels köpft Deutschland ins Halbfinale

Das Interview wird Kult und ein Internet-Hit. Trotzdem stellen sich nach diesem Spiel grundsätzliche Fragen. Wohin mit Lahm, Schweinsteiger und oder Khedira? Wer soll stürmen, Götze oder Klose? Bild stellt derweil fest: "Klar ist: so fliegen wir im Viertelfinale gegen die starken Franzosen raus." Die Lahm-Frage erledigt sich von selbst. Da sich Verteidiger Mustafi bei seinem Startelfdebüt gegen Algerien verletzt, rückt der Kapitän schon in jenem Spiel wieder auf die rechte Abwehrseite – und dort bleibt er.

Die deutsche Mannschaft muss am 4. Juli das Viertelfinale eröffnen. Im Sehnsuchtsort Maracana wartet Frankreich. Erstmals spielen bei dieser WM Khedira und Schweinsteiger gemeinsam, im Sturm versucht Löw es mit Altmeister Klose. "Eistonnen-Mann" Per Mertesacker rutscht auf die Bank und wird sich den Ruf eines vorbildlichen Ersatzmannes verdienen. Diesmal spricht hinterher niemand von taktischen Schwächen. Eine disziplinierte Leistung und ein großartiger Torwart sind der Schlüssel zum Sieg, aber ohne Tore geht es nicht. Wie gegen Portugal glückt Mats Hummels, gegen Algerien wegen Fieber pausierend, nach einem Kroos-Standard (Freistoß) ein Kopfballtor (13.). Es ist das Tor des Tages und bringt Deutschland zum vierten Mal in Folge ins Halbfinale. Die Erkenntnis von Maracana: Löw hat seine Mannschaft gefunden – und die Bild neue Zuversicht. "Jetzt sind wir WM-Favorit!" Auch wenn der nächste Gegner Brasilien heißt.

Obwohl Deutschland und Brasilien die Länder mit den meisten WM-Teilnahmen sind, sind sie erst einmal, im Finale 2002, aufeinander getroffen. Bis zu jenem unglaublichen Abend des 8. Juli in Belo Horizonte, wo noch viel mehr Ungewöhnliches geschieht. Als die Mannschaften ins Stadion einlaufen, ahnt niemand, dass über jenes Spiel Bücher und Magazine erscheinen werden und dass die ganze Fußballwelt vor schierem Erstaunen für einen Moment den Atem anhalten wird.

"Argentinien hat Messi, Brasilien Neymar, aber Deutschland hat eine Mannschaft"

"In 50 Jahren werden unsere Kinder wissen, dass Brasilien ein WM-Halbfinale zu Hause mit 1:7 gegen Deutschland verloren hat", sagt der große Trainer José Mourinho, ein Portugiese, noch am selben Abend, da in Deutschland längst Straßenfeste ausgebrochen sind – so kühl sich der Sommer 2014 auch zeigt. Auch in Belo Horizonte sind es am 8. Juli nur 22 Grad, angenehm für Mitteleuropäer. Warum kommt es an diesem Tag zu einem solchen Ergebnis, ist das Spiel schon zur Halbzeit (0:5) entschieden?

Brasilien bricht unter der Last der Erwartungen ein. Schon vorher war öfter zu beobachten, dass die Spieler bei der Hymne weinen, sogar beim Training fließen Tränen. Trainer Felipe Scolari bestellt am 7. Juli erneut die Team-Psychologin ein, weil die Spieler nach Neymars Ausfall zu hadern beginnen. Regina Brandao hält nicht viel von Diskretion und erzählt den Reportern: "Auf allen lastet große Verantwortung. Sie sagten mir, dass es Neymar war, der ihnen den Spirit gab. Aber sie sagten auch: das Leben geht weiter."

Derartige Probleme hat die deutsche Elf nicht, auch der am Spieltag publizierte Wechsel von Kroos zu Real Madrid sorgt nicht für Unruhe, zu gefestigt ist dieses Team. Was Englands Star Steven Gerrard nach der WM gesagt hat, trifft es ziemlich gut: "Argentinien hat Messi, Brasilien hat Neymar, aber Deutschland hat eine Mannschaft."

7:1 im Halbfinale: Die magische Nacht von Belo Horizonte

Diese Mannschaft in ihren rotschwarzen "Auswärtstrikots" spielt groß auf. Fast alles gelingt, fast jeder Schuss ist ein Treffer und mit jedem schwinden Gegenwehr und Organisation der Brasilianer. Müller macht den Anfang (11.), sträflich freistehend kommt er nach einer Ecke zum Schuss. Schon das ist ein Signal. Auch Klose kommt frei zum Schuss, darf sogar nachschießen und avanciert mit seinem 2:0 (23.) zum WM-Rekordtorschützen (16 Tore). Es folgen sechs magische Minuten, die keiner vergessen wird, der sie erlebt hat. 0:3 Kroos (24.). 0:4 Kroos (26.), 0:5 Khedira (29.). Alles herausgespielte Tore, alles schöne Tore. "Das ist ein Spielverlauf, der zu den sensationellsten in der Geschichte des Weltfußballs gehört", heißt es in der ARD-Rundfunk-Reportage und ZDF-Reporter Bela Rethy fragt ungläubig: "Ja was ist denn hier los?"

Das Fernsehen zeigt derweil weinende Menschen in gelben Trikots, die im Stadion und vor Großleinwänden fassungslos das Debakel ihrer Selecao mitansehen müssen. In der Halbzeit mahnt Löw Seriosität an und droht jedem, der etwa vorhabe, den Gegner zu veräppeln, mit einem Bank-Platz beim Finale.

Sie spielen es seriös zu Ende: Schürrle beweist wieder seine Joker-Qualitäten und schießt noch zwei Tore, ehe Oscar in letzter Minute ein Ehrentor gegönnt wird – das die Ehre nicht mehr retten kann. "So etwas wird es nie wieder geben. Wir bitten um Vergebung bei der Bevölkerung", sagt der geknickte Scolari. Bayern-Verteidiger Dante stellt fest: "Deutschland ist uns sechs Jahre voraus und wir müssen daraus unsere Lehren ziehen."

Drittes WM-Endspiel gegen Argentinien

Das Ergebnis, auf Portugiesisch "sete um", steht in Brasilien mittlerweile für ein großes Missgeschick und ein geläufiger Fluch lautet seither "gol de almanha". Zu Ehren des deutschen Sieges leuchtet das Empire State Building in New York in jener Nacht in Schwarz-Rot-Gold. In Deutschland verschlägt es einigen die Sprache, Bild titelt am nächsten Tag "Ohne Worte" und widmet jedem Tor eine eigene Seite. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach bedankt sich bei der Mannschaft per Bordmikrofon auf dem Rückflug und sieht "Fußball von einem anderen Stern". 

Das andere Halbfinale kann da ganz unmöglich mithalten, dafür ist es wenigstens spannend. Doch Tore fallen zwischen Holländern und Argentiniern in Sao Paulo erst im Elfmeterschießen und die Südamerikaner gewinnen. Arjen Robben, der seinen Elfmeter verwandelt, ist geknickt: "Wir hatten es eigentlich mehr verdient. Dieses Ausscheiden ist tragisch." Sie trösten sich mit Platz 3 gegen erneut desolate Brasilianer, deren Versuch der Wiedergutmachung misslingt (0:3).

Und so stehen am 13. Juli mit Deutschland und Argentinien zwei klassische Turniermannschaften im Finale – zum bereits dritten Mal nach 1986 und 1990. Nach dem 7:1 sind die Deutschen klarer Favorit, auch auf den Rängen, da die Brasilianer ihren Nachbarn den Titel noch weniger gönnen als ihren Bezwingern. Thomas Müller aber warnt: "Wir haben noch nichts erreicht. Bei Anpfiff steht es wieder 0:0."

"Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi"

Bei Anpfiff steht auch einer in der Elf, der zuvor nur zwei WM-Minuten gespielt hat. Laufwunder Christoph Kramer springt kurzfristig für den beim Warmlaufen starke Beschwerden verspürenden Khedira ein und hat nicht mal mehr Zeit, nervös zu werden. Noch eine merkwürdige Geschichte rankt sich um Kramer. Nach 17 Minuten erhält er einen Ellenbogenschlag von Garay an den Kopf und spielt fortan im Blindflug weiter. Er weiß nicht mehr wo er ist und fragt den Schiedsrichter sogar, ob das das Endspiel sei. Die Gehirnerschütterung kostet ihn die Erinnerung an einige der bedeutendsten Minuten seines Lebens. Der Schiedsrichter informiert Kapitän Lahm und so muss Löw Kramer früh auswechseln.

Er bringt den bewährten Joker Schürrle, was sein Gutes haben wird. In dem intensiven Kampf fallen trotz hochkarätiger Chancen auf beiden Seiten lange keine Tore. Der Schalker Benedikt Höwedes, der sich in ungewohnter Rolle als Linksverteidiger in jedem Spiel bewährt, köpft Sekunden vor der Pause an den Pfosten. Gonzalo Higuain trifft frei vor Neuer den Ball nicht richtig und Lionel Messi verfehlt nach der Pause um Zentimeter das Tor. Es ist eines jener seltenen 0:0-Spiele, die auf hohem Niveau stehen – eines WM-Finales würdig.

In der 90. Minute wechselt Löw Mario Götze ein und flüstert ihm längst legendäre Worte ins Ohr: "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi." Und er zeigt der Welt, wer Mario Götze ist.

Um 23.35 Uhr ist es soweit: Deutschland ist Weltmeister

Als Schürrle in der 113. Minute links davon zieht und gefühlvoll vors Tor flankt, da antizipiert er das, nimmt den Ball mit der Brust an und schlenzt ihn im Fallen mit links ins lange Eck. Das Tor eines Artisten macht Deutschland zum Weltmeister. Millionen Deutsche fallen sich in diesem Moment in die Arme, auf Fanmeilen, in Sportsbars oder im eigenen Wohnzimmer. Der WM-Pokal ist nun zum Greifen nah.

Noch aber müssen sieben bange Minuten vergehen, Schweinsteiger spielt mit blutiger Platzwunde und wird zum Symbol deutscher Unbeugsamkeit. Dann schießt Messi in letzter Minute einen Freistoß übers Tor und ARD-Reporter Tom Bartels fragt beinahe flehentlich: "Pfeift er jetzt ab?" Einige Sekunden lässt Nicola Rizzoli die Deutschen noch leiden, dann, um 23.35 Uhr MEZ, schafft sein Pfiff Fakten – Deutschland ist Weltmeister 2014. Der vierte Stern wird unter dem Zuckerhut errungen. Deutschland schreibt Geschichte als erste europäische Weltmeistermannschaft in Südamerika, als das Team mit den meisten Joker-Toren (5) und das, das den besten WM-Torjäger aller Zeiten stellt. Miro Klose tritt im Triumph zurück, mit ihm überraschend auch Kapitän Philipp Lahm und Per Mertesacker.

Halb Deutschland hat das Finale gesehen: 34,65 Millionen ARD-Zuschauer sind Rekord für eine deutsche Fernsehsendung. Nach einer langen Feiernacht in Rio, die schon in der Kabine in Gegenwart der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten Joachim Gauck beginnt, werden die neuen Helden am Dienstag, den 15. Juli, am Brandenburger Tor von einer unübersehbaren Menschenmenge gefeiert.

Löw: "Der Titel war jetzt fällig"

Helene Fischer tanzt mit den Weltmeistern auf der Bühne und textet ihren Megahit "Atemlos durch die Nacht" ein bisschen um: "…spür was Fußball mit uns macht". Ein ganzes Land ist für ein paar herrliche Sommertage glücklicher und singt auch den zweiten WM-Hit jener Tage voller Inbrunst: "Ein Hoch auf uns!" (Andreas Bourani)

Die Generation Schweinsteiger, der man viel Talent bescheinigt hat, aber auch, keine Turniere gewinnen zu können, ist am Ziel und hat ihre Kritiker widerlegt. Der Architekt des Triumphes, Bundestrainer Joachim Löw, hat es kommen sehen: "Die Arbeit begann vor zehn Jahren mit Jürgen Klinsmann. Seitdem haben wir uns kontinuierlich gesteigert und spielerisch weiterentwickelt. Nur mit deutschen Tugenden wäre es nicht gegangen. Der Titel war jetzt fällig."

Die Weltmeister 2014

Torhüter:

Manuel Neuer (7 Einsätze)

Roman Weidenfeller (0)

Ron Robert Zieler (0)

 

Abwehr:

Jerome Boateng (7)

Erik Durm (0)

Matthias Ginter (0)

Kevin Großkreutz (0)

Benedikt Höwedes (7)

Mats Hummels (6/2 Tore)

Philipp Lahm (7)

Per Mertesacker (6)

Shkodran Mustafi (3)

 

Mittelfeld:

Julian Draxler (1)

Sami Khedira (5/1)

Christoph Kramer (3)

Toni Kroos (7/2)

Thomas Müller (7/5)

Mesut Özil (7/1)

Bastian Schweinsteiger (6)

 

Angriff:

Mario Götze (6/2)

Miroslav Klose (5/2)

Lukas Podolski (2)

André Schürrle (6/3)

[um]

Heute jährt sich der vierte deutsche Weltmeistertitel zum zehnten Mal. DFB.de blickt zurück auf die legendären Tage von Campo Bahia, endend mit der Krönung im Maracana-Stadion.

Nach zwei dritten Plätzen in Folge wollte die deutsche Mannschaft in Brasilien endlich den Titel. So stand das Turnier im Zeichen der Jagd nach dem vierten Stern, auf den das Land 24 Jahre wartete. Die Hoffnungen waren nicht unbegründet, man spielte eine souveräne Qualifikation und gewann neun von zehn Partien. Das Vertrauen in die Mannschaft war nach 32 WM-Qualifikationsspielen ohne Niederlage groß. Und es wuchs, nicht zuletzt als im Mai 2013 im Londoner Wembley-Stadion mit Bayern München und Borussia Dortmund zwei Bundesligisten das Finale der Champions League bestritten. Das Gros dieser Teams bildete auch die Nationalmannschaft. Der deutsche Fußball war spürbar im Aufwind, Großes kündigte sich an.

Aber in der Saison 2013/2014 gab es im Europapokal Rückschläge auf breiter Front, das Leistungsbild stimmte bei etlichen Spielern nicht. So hielt Bundestrainer Joachim Löw im März 2014 vor dem Test gegen Brasilien eine deutliche Ansprache, die allen die Sinne schärfen sollte. "Ich habe den Spielern gesagt: die Uhr tickt. Nur wer sie hört, hat eine Chance dabei zu sein."

Mit zwei angeschlagenen Sechsern nach Brasilien

Als er seinen vorläufigen 30er Kader berief, waren einige Überraschungen dabei. "Lauter Odonkors", titelte die Süddeutsche Zeitung in Anspielung auf David Odonkor, der 2006 ohne ein Länderspiel auf den WM-Zug gesprungen war. Vom in Italien spielenden Verteidiger Shkodran Mustafi hatte selbst Kapitän Philipp Lahm noch nie etwas gehört. Sogar Teenager wie die Schalker Leon Goretzka und Max Meyer durften sich Hoffnungen machen und die des Dortmunders Erik Durm erfüllten sich sogar - nach nur 19 Bundesligaspielen. Kaum mehr Spiele (33) hatte Mönchengladbachs Christoph Kramer, der nicht mal im vorläufigen Aufgebot gestanden hatte, dem Trainerstab aber wegen seines Laufpensums – dem höchsten in der Bundesliga – aufgefallen war.

Dafür musste um einige Etablierte gezittert werden. Manuel Neuer und Philipp Lahm erlitten Verletzungen im Pokalfinale zwischen Bayern und Dortmund, das Bastian Schweinsteiger gar verpasste. Sami Khedira dagegen spielte nach seinem Kreuzbandriss im November 2013 erst in den letzten Saisonwochen wieder, gewann mit Real Madrid die Champions League und signalisierte dem Trainerstab per Videobotschaften von seinem Aufbautraining, unbedingt dabei sein zu müssen.

Gleich zwei angeschlagene "Sechser" – Löw ging Risiko. Im letzten Testspiel am Tag vor dem Abflug verletzte sich dann noch Marco Reus gegen Armenien, so dass der bereits verabschiedete Mustafi in den Kreis zurückkehrte und am 7. Juni in der Lufthansamaschine gen Porto Seguro saß.

Ab ins Campo Bahia: "Wie im Paradies"

Von dort ging es weiter in das heiß diskutierte Quartier Campo Bahia im 900-Seelen-Ort Santo André direkt am Atlantik, das nur mit einer Fähre zu erreichen war und extra für die WM errichtet wurde: 14 Luxus-Bungalows mit insgesamt 60 Zimmern, die anschließend Touristen offen stehen würden.

Erster Gast aber war der DFB. Die Schauergeschichten von rostigen Rohren, Schlaglöchern, defekten Leitungen, unverputzten Wänden und sandigen Plätzen erwiesen sich als maximal übertrieben, die Sorge um rechtzeitige Fertigstellung als unbegründet. Obwohl Oliver Bierhoff vier Tage vor dem Abflug einen Anruf des Bauleiters erhielt mit dem Rat, sich einen Plan B zu überlegen.

Sie brauchten ihn nicht, die Spieler und Betreuer erlebten im idyllischen Campo Bahia 32 unvergessliche Tage. Der Kader wurde in vier Wohngruppen aufgeteilt: drei mit je sechs, eine mit fünf Spielern. Die Zusammensetzung bestimmte der vierköpfige Spielerrat, von Lagerkoller und Animositäten wurde nichts bekannt. Joachim Löw im Rückblick: "Es war eine Oase der Ruhe für uns – wie im Paradies."

Dickes Ausrufezeichen zum Turnierauftakt

Deutschland wurde im Dezember 2013 in Gruppe G gelost und muss entsprechend lange auf den ersten Anpfiff warten. Nachdem bereits 24 Mannschaften ins Turnier gestartet sind, beginnt am 16. Juni endlich der Ernstfall. In Salvador de Bahia wartet Portugal um Weltstar Cristiano Ronaldo. Löw muss noch auf Schweinsteiger verzichten und lässt Lahm – wie bei den Bayern – im Mittelfeld spielen. Mit Khedira und Toni Kroos stehen dem gelernten Außenverteidiger versierte Mittelfeldspieler zur Seite, die herauf beschworenen Bedenken erweisen sich als überflüssig. Im Sturm erhält Mario Götze den Vorzug vor Veteran Miro Klose, aber den Torjäger gibt an diesem Tag ein anderer: Thomas Müller. Der Münchner, der gleich bei seiner ersten WM-Teilnahme 2010 Torschützenkönig geworden war, macht da weiter, wo er in Südafrika aufgehört hat.

Der Auftakt gerät zur Müller-Show, zum unerwartet deutlichen 4:0 trägt er drei Tore bei. Das erste per Elfmeter, den Götze herausholt, die Tore zum 3:0 und 4:0 als Abstauber. Dazwischen kommt noch ein Kopfballtor von Mats Hummels nach Kroos-Ecke. Das Spiel ist bereits zur Pause (3:0) entschieden, auch weil Portugals Pepe nach 37 Minuten Rot sieht.

Auf der Tribüne jubelt Kanzlerin Angela Merkel, die staatsmännisch sagt: "Ich freue mich mit der deutschen Mannschaft über einen wunderbaren Auftakt." Sie verspricht, zum Finale wieder zu kommen und alle hoffen auf ein Wiedersehen.

Das verfluchte zweite Spiel

"Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende Disziplin", lautet das Motto der DFB-Equipe vor ihrer Jagd nach dem vierten Stern. Begeisterung ist schon mal da. Bild wird euphorisch: "Das wird unsere WM!" Selbst der große Diego Maradona bekommt es mit der Angst zu tun: "Heute haben wir ein vernichtendes Deutschland gesehen. Ein Deutschland, das die Perfektion streifte."

Das 100. WM-Spiel der DFB-Geschichte (Weltrekord!) hätte kaum besser verlaufen können. Zufrieden kehren die Sieger auf ihre Insel zurück, doch vor Selbstzufriedenheit wird in den Medien gewarnt. In diesen geht die Angst um vor dem ominösen zweiten Spiel, das bei Turnieren nur selten gewonnen wurde.

Auch am 21. Juni in Fortaleza schlägt das Omen wieder zu und nachher sind alle froh, dass es gegen Ghana noch zu einem Punkt gereicht hat (2:2). Es spielt die Siegerelf von Salavador de Bahia, aber sie spielt nicht wie ein Sieger. Vor der Pause fallen keine Tore, Ghana hält die Partie offen und beschäftigt Manuel Neuer bedeutend häufiger, als es die Portugiesen taten.

Müller: "Endlich habe ich mal ein schönes Tor gemacht"

Als Götze das kuriose 1:0 gelingt – er köpft sich eine Flanke auf den Oberschenkel – gibt das keine Sicherheit. Im Gegenteil: Ghana schießt binnen neun Minuten zwei Tore und sorgt für den einzigen Rückstand der DFB-Elf während dieser WM. Er währt genau acht Minuten, dann bringt eine Zusammenarbeit der Joker den Ausgleich. Schweinsteiger und Klose geben ihr Turnierdebüt, die Ecke des Münchners drückt der Wahl-Römer Klose über die Linie. Es ist sein 15. WM-Tor, der Rekord des Brasilianers Ronaldo ist eingestellt. Und wieder sieht die Welt den Klose-Salto, den er diesmal nicht mehr so gut steht wie bei der WM-Premiere 2002. "Danke, Alter!", titelt die Bild am Sonntag. Im deutschen Lager regiert nach diesem Spiel Realismus, Khedira sagt: "Wir haben taktisch nicht abgerufen, was wir wollten." Nun fordert Bild: "Jogi muss umbauen, damit wir nicht vorzeitig abhauen".

Die Lahm-Debatte nimmt Fahrt auf, aber Löw bleibt vor dem Gruppenfinale ausgerechnet gegen Jürgen Klinsmanns Amerikaner seiner Linie treu. Er ändert zwar die Aufstellung und bringt Schweinsteiger und Lukas Podolski für Khedira und Götze, nicht aber das System.

Die Amerikaner haben sich von Portugal 2:2 getrennt und in der 95. Minute noch den Ausgleich kassiert, sonst wären sie schon durch. Nun aber reicht beiden Kontrahenten ein Unentschieden. Das lässt Spekulationen blühen und die Zeitungen erklären den jüngeren Lesern, was 1982 in Gijon zwischen Deutschland und Österreich geschah. Klinsmann und Löw, die Autoren des Sommermärchens 2006, weisen jeden Gedanken an eine Absprache zurück und der Regentag von Recife, wo die Fluten beinahe eine Absage bewirkt hätten, gibt ihnen Recht. Die Deutschen spielen drückend überlegen, bekommen aber nur ein Tor zustande, das Müller nach einer abgewehrten Ecke von der Strafraumgrenze erzielt (55.). "Endlich habe ich mal ein schönes Tor gemacht", strahlt der Münchner. "Müller, Du Regengott!", titelt Bild.

Mertesackers legendäres "Eistonnen"-Interview

Am Ende jubeln auch die Verlierer, Portugals 2:1 nimmt Ghana aus dem Rennen und ist doch zu niedrig, um selbst dabei zu bleiben. Der eigentliche Sieger des letzten Spieltags der Gruppe G ist der Fair-Play-Gedanke. Spaniens Sportblatt AS schreibt: "Müller wäscht Deutschlands Namen nach 32 Jahren rein. Es gab keinen Nichtangriffspakt wie zwischen Deutschland und Österreich 1982. Deutschland setzt seinen Eisenfuß ins Achtelfinale und säubert seinen Namen."

In Porto Alegre bestreitet die Löw-Elf dann ihr schwächstes WM-Spiel, hat große Mühe mit den kampfstarken Algeriern und mit der eigenen Taktik. Torwart Manuel Neuer macht ein spektakuläres Spiel, vor allem als "Libero". Man zählt 19 Ballkontakte außerhalb des Strafraums, vier Mal rettet er in höchster Not mit Kopf und Fuß. Neuer gelassen: "Das ist nun mal meine Spielweise." Torwarttrainer Andy Köpke witzelt, seit Franz Beckenbauer habe er "keinen besseren Libero mehr gesehen". Tore fallen erst in der Verlängerung, Joker André Schürrle bricht mit einem gekonnten Hackentreffer den Bann (92.), Mesut Özil schließt einen Konter ab (120.). Erst dann wird Neuer überwunden, aber nach Djabous Ehrentreffer wird sofort abgepfiffen.

In Erinnerung bleibt von diesem 30. Juni vor allem ein Interview, das ein abgekämpfter Per Mertesacker im ZDF gibt. Kritische Fragen zur Leistung kontert der Abwehrrecke so: "Was wollen Sie jetzt von mir? Kann ich nicht verstehen. Glauben Sie unter den letzten 16 ist hier eine Karnevalstruppe oder was? Die haben uns das richtig schwer gemacht...Was wolln Se? Wollen Se `ne erfolgreiche WM oder wollen Sie wieder ausscheiden und haben schön gespielt?" Er lege sich jetzt "drei Tage in die Eistonne und dann sehen wir weiter. Wir sind weiter gekommen und super happy."

Hummels köpft Deutschland ins Halbfinale

Das Interview wird Kult und ein Internet-Hit. Trotzdem stellen sich nach diesem Spiel grundsätzliche Fragen. Wohin mit Lahm, Schweinsteiger und oder Khedira? Wer soll stürmen, Götze oder Klose? Bild stellt derweil fest: "Klar ist: so fliegen wir im Viertelfinale gegen die starken Franzosen raus." Die Lahm-Frage erledigt sich von selbst. Da sich Verteidiger Mustafi bei seinem Startelfdebüt gegen Algerien verletzt, rückt der Kapitän schon in jenem Spiel wieder auf die rechte Abwehrseite – und dort bleibt er.

Die deutsche Mannschaft muss am 4. Juli das Viertelfinale eröffnen. Im Sehnsuchtsort Maracana wartet Frankreich. Erstmals spielen bei dieser WM Khedira und Schweinsteiger gemeinsam, im Sturm versucht Löw es mit Altmeister Klose. "Eistonnen-Mann" Per Mertesacker rutscht auf die Bank und wird sich den Ruf eines vorbildlichen Ersatzmannes verdienen. Diesmal spricht hinterher niemand von taktischen Schwächen. Eine disziplinierte Leistung und ein großartiger Torwart sind der Schlüssel zum Sieg, aber ohne Tore geht es nicht. Wie gegen Portugal glückt Mats Hummels, gegen Algerien wegen Fieber pausierend, nach einem Kroos-Standard (Freistoß) ein Kopfballtor (13.). Es ist das Tor des Tages und bringt Deutschland zum vierten Mal in Folge ins Halbfinale. Die Erkenntnis von Maracana: Löw hat seine Mannschaft gefunden – und die Bild neue Zuversicht. "Jetzt sind wir WM-Favorit!" Auch wenn der nächste Gegner Brasilien heißt.

Obwohl Deutschland und Brasilien die Länder mit den meisten WM-Teilnahmen sind, sind sie erst einmal, im Finale 2002, aufeinander getroffen. Bis zu jenem unglaublichen Abend des 8. Juli in Belo Horizonte, wo noch viel mehr Ungewöhnliches geschieht. Als die Mannschaften ins Stadion einlaufen, ahnt niemand, dass über jenes Spiel Bücher und Magazine erscheinen werden und dass die ganze Fußballwelt vor schierem Erstaunen für einen Moment den Atem anhalten wird.

"Argentinien hat Messi, Brasilien Neymar, aber Deutschland hat eine Mannschaft"

"In 50 Jahren werden unsere Kinder wissen, dass Brasilien ein WM-Halbfinale zu Hause mit 1:7 gegen Deutschland verloren hat", sagt der große Trainer José Mourinho, ein Portugiese, noch am selben Abend, da in Deutschland längst Straßenfeste ausgebrochen sind – so kühl sich der Sommer 2014 auch zeigt. Auch in Belo Horizonte sind es am 8. Juli nur 22 Grad, angenehm für Mitteleuropäer. Warum kommt es an diesem Tag zu einem solchen Ergebnis, ist das Spiel schon zur Halbzeit (0:5) entschieden?

Brasilien bricht unter der Last der Erwartungen ein. Schon vorher war öfter zu beobachten, dass die Spieler bei der Hymne weinen, sogar beim Training fließen Tränen. Trainer Felipe Scolari bestellt am 7. Juli erneut die Team-Psychologin ein, weil die Spieler nach Neymars Ausfall zu hadern beginnen. Regina Brandao hält nicht viel von Diskretion und erzählt den Reportern: "Auf allen lastet große Verantwortung. Sie sagten mir, dass es Neymar war, der ihnen den Spirit gab. Aber sie sagten auch: das Leben geht weiter."

Derartige Probleme hat die deutsche Elf nicht, auch der am Spieltag publizierte Wechsel von Kroos zu Real Madrid sorgt nicht für Unruhe, zu gefestigt ist dieses Team. Was Englands Star Steven Gerrard nach der WM gesagt hat, trifft es ziemlich gut: "Argentinien hat Messi, Brasilien hat Neymar, aber Deutschland hat eine Mannschaft."

7:1 im Halbfinale: Die magische Nacht von Belo Horizonte

Diese Mannschaft in ihren rotschwarzen "Auswärtstrikots" spielt groß auf. Fast alles gelingt, fast jeder Schuss ist ein Treffer und mit jedem schwinden Gegenwehr und Organisation der Brasilianer. Müller macht den Anfang (11.), sträflich freistehend kommt er nach einer Ecke zum Schuss. Schon das ist ein Signal. Auch Klose kommt frei zum Schuss, darf sogar nachschießen und avanciert mit seinem 2:0 (23.) zum WM-Rekordtorschützen (16 Tore). Es folgen sechs magische Minuten, die keiner vergessen wird, der sie erlebt hat. 0:3 Kroos (24.). 0:4 Kroos (26.), 0:5 Khedira (29.). Alles herausgespielte Tore, alles schöne Tore. "Das ist ein Spielverlauf, der zu den sensationellsten in der Geschichte des Weltfußballs gehört", heißt es in der ARD-Rundfunk-Reportage und ZDF-Reporter Bela Rethy fragt ungläubig: "Ja was ist denn hier los?"

Das Fernsehen zeigt derweil weinende Menschen in gelben Trikots, die im Stadion und vor Großleinwänden fassungslos das Debakel ihrer Selecao mitansehen müssen. In der Halbzeit mahnt Löw Seriosität an und droht jedem, der etwa vorhabe, den Gegner zu veräppeln, mit einem Bank-Platz beim Finale.

Sie spielen es seriös zu Ende: Schürrle beweist wieder seine Joker-Qualitäten und schießt noch zwei Tore, ehe Oscar in letzter Minute ein Ehrentor gegönnt wird – das die Ehre nicht mehr retten kann. "So etwas wird es nie wieder geben. Wir bitten um Vergebung bei der Bevölkerung", sagt der geknickte Scolari. Bayern-Verteidiger Dante stellt fest: "Deutschland ist uns sechs Jahre voraus und wir müssen daraus unsere Lehren ziehen."

Drittes WM-Endspiel gegen Argentinien

Das Ergebnis, auf Portugiesisch "sete um", steht in Brasilien mittlerweile für ein großes Missgeschick und ein geläufiger Fluch lautet seither "gol de almanha". Zu Ehren des deutschen Sieges leuchtet das Empire State Building in New York in jener Nacht in Schwarz-Rot-Gold. In Deutschland verschlägt es einigen die Sprache, Bild titelt am nächsten Tag "Ohne Worte" und widmet jedem Tor eine eigene Seite. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach bedankt sich bei der Mannschaft per Bordmikrofon auf dem Rückflug und sieht "Fußball von einem anderen Stern". 

Das andere Halbfinale kann da ganz unmöglich mithalten, dafür ist es wenigstens spannend. Doch Tore fallen zwischen Holländern und Argentiniern in Sao Paulo erst im Elfmeterschießen und die Südamerikaner gewinnen. Arjen Robben, der seinen Elfmeter verwandelt, ist geknickt: "Wir hatten es eigentlich mehr verdient. Dieses Ausscheiden ist tragisch." Sie trösten sich mit Platz 3 gegen erneut desolate Brasilianer, deren Versuch der Wiedergutmachung misslingt (0:3).

Und so stehen am 13. Juli mit Deutschland und Argentinien zwei klassische Turniermannschaften im Finale – zum bereits dritten Mal nach 1986 und 1990. Nach dem 7:1 sind die Deutschen klarer Favorit, auch auf den Rängen, da die Brasilianer ihren Nachbarn den Titel noch weniger gönnen als ihren Bezwingern. Thomas Müller aber warnt: "Wir haben noch nichts erreicht. Bei Anpfiff steht es wieder 0:0."

"Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi"

Bei Anpfiff steht auch einer in der Elf, der zuvor nur zwei WM-Minuten gespielt hat. Laufwunder Christoph Kramer springt kurzfristig für den beim Warmlaufen starke Beschwerden verspürenden Khedira ein und hat nicht mal mehr Zeit, nervös zu werden. Noch eine merkwürdige Geschichte rankt sich um Kramer. Nach 17 Minuten erhält er einen Ellenbogenschlag von Garay an den Kopf und spielt fortan im Blindflug weiter. Er weiß nicht mehr wo er ist und fragt den Schiedsrichter sogar, ob das das Endspiel sei. Die Gehirnerschütterung kostet ihn die Erinnerung an einige der bedeutendsten Minuten seines Lebens. Der Schiedsrichter informiert Kapitän Lahm und so muss Löw Kramer früh auswechseln.

Er bringt den bewährten Joker Schürrle, was sein Gutes haben wird. In dem intensiven Kampf fallen trotz hochkarätiger Chancen auf beiden Seiten lange keine Tore. Der Schalker Benedikt Höwedes, der sich in ungewohnter Rolle als Linksverteidiger in jedem Spiel bewährt, köpft Sekunden vor der Pause an den Pfosten. Gonzalo Higuain trifft frei vor Neuer den Ball nicht richtig und Lionel Messi verfehlt nach der Pause um Zentimeter das Tor. Es ist eines jener seltenen 0:0-Spiele, die auf hohem Niveau stehen – eines WM-Finales würdig.

In der 90. Minute wechselt Löw Mario Götze ein und flüstert ihm längst legendäre Worte ins Ohr: "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi." Und er zeigt der Welt, wer Mario Götze ist.

Um 23.35 Uhr ist es soweit: Deutschland ist Weltmeister

Als Schürrle in der 113. Minute links davon zieht und gefühlvoll vors Tor flankt, da antizipiert er das, nimmt den Ball mit der Brust an und schlenzt ihn im Fallen mit links ins lange Eck. Das Tor eines Artisten macht Deutschland zum Weltmeister. Millionen Deutsche fallen sich in diesem Moment in die Arme, auf Fanmeilen, in Sportsbars oder im eigenen Wohnzimmer. Der WM-Pokal ist nun zum Greifen nah.

Noch aber müssen sieben bange Minuten vergehen, Schweinsteiger spielt mit blutiger Platzwunde und wird zum Symbol deutscher Unbeugsamkeit. Dann schießt Messi in letzter Minute einen Freistoß übers Tor und ARD-Reporter Tom Bartels fragt beinahe flehentlich: "Pfeift er jetzt ab?" Einige Sekunden lässt Nicola Rizzoli die Deutschen noch leiden, dann, um 23.35 Uhr MEZ, schafft sein Pfiff Fakten – Deutschland ist Weltmeister 2014. Der vierte Stern wird unter dem Zuckerhut errungen. Deutschland schreibt Geschichte als erste europäische Weltmeistermannschaft in Südamerika, als das Team mit den meisten Joker-Toren (5) und das, das den besten WM-Torjäger aller Zeiten stellt. Miro Klose tritt im Triumph zurück, mit ihm überraschend auch Kapitän Philipp Lahm und Per Mertesacker.

Halb Deutschland hat das Finale gesehen: 34,65 Millionen ARD-Zuschauer sind Rekord für eine deutsche Fernsehsendung. Nach einer langen Feiernacht in Rio, die schon in der Kabine in Gegenwart der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten Joachim Gauck beginnt, werden die neuen Helden am Dienstag, den 15. Juli, am Brandenburger Tor von einer unübersehbaren Menschenmenge gefeiert.

Löw: "Der Titel war jetzt fällig"

Helene Fischer tanzt mit den Weltmeistern auf der Bühne und textet ihren Megahit "Atemlos durch die Nacht" ein bisschen um: "…spür was Fußball mit uns macht". Ein ganzes Land ist für ein paar herrliche Sommertage glücklicher und singt auch den zweiten WM-Hit jener Tage voller Inbrunst: "Ein Hoch auf uns!" (Andreas Bourani)

Die Generation Schweinsteiger, der man viel Talent bescheinigt hat, aber auch, keine Turniere gewinnen zu können, ist am Ziel und hat ihre Kritiker widerlegt. Der Architekt des Triumphes, Bundestrainer Joachim Löw, hat es kommen sehen: "Die Arbeit begann vor zehn Jahren mit Jürgen Klinsmann. Seitdem haben wir uns kontinuierlich gesteigert und spielerisch weiterentwickelt. Nur mit deutschen Tugenden wäre es nicht gegangen. Der Titel war jetzt fällig."

Die Weltmeister 2014

Torhüter:

Manuel Neuer (7 Einsätze)

Roman Weidenfeller (0)

Ron Robert Zieler (0)

 

Abwehr:

Jerome Boateng (7)

Erik Durm (0)

Matthias Ginter (0)

Kevin Großkreutz (0)

Benedikt Höwedes (7)

Mats Hummels (6/2 Tore)

Philipp Lahm (7)

Per Mertesacker (6)

Shkodran Mustafi (3)

 

Mittelfeld:

Julian Draxler (1)

Sami Khedira (5/1)

Christoph Kramer (3)

Toni Kroos (7/2)

Thomas Müller (7/5)

Mesut Özil (7/1)

Bastian Schweinsteiger (6)

 

Angriff:

Mario Götze (6/2)

Miroslav Klose (5/2)

Lukas Podolski (2)

André Schürrle (6/3)

###more###