Heute vor 50 Jahren: Weltmeister dahoam

Heute vor 50 Jahren wurde Deutschland, ebenfalls an einem Sonntag, zum zweiten Mal Weltmeister. Und zum einzigen Mal im eigenen Land. Es war ein geplanter Erfolg, obwohl nicht alles nach Plan lief. Der Weg von Malente nach München war wie ein Hindernislauf: voller Hürden und Pfützen, aber er endete im Triumph.

Selten hatte ein Gastgeber mehr Druck als Deutschland 1974. Nach dem EM-Triumph 1972 schwärmte die Weltpresse schon vom "Fußball 2000", und als die Münchner Bayern einen Monat vor dem Turnier erstmals den Europapokal der Landesmeister gewannen, war die Favoritenrolle zementiert.

Prämiendiskussion in Malente

Im Kader von Helmut Schön, der traditionell in der Sportschule Malente Quartier bezog, standen sieben Bayern-Stars. Vorab gab es im hohen Norden vor allem ein Thema: die Prämien. Der DFB wollte nur 30.000 DM zahlen, doch die Konkurrenz teilweise das Dreifache. So kämpften die WM-Stars noch vor dem ersten Anpfiff erst mal ums Geld. Nach 15 turbulenten Verhandlungsstunden, während denen sowohl Schön als auch Rädelsführer Paul Breitner abreisen wollten, gab es mit Hilfe von Ausrüster adidas eine Einigung: 70.000 DM pro Kopf. Die Stimmung hob sich in der Vorrunde aber nicht.

Einen Tag nach dem dritten torlosen Eröffnungsspiel in Folge zwischen Brasilien und Jugoslawien startete die DFB-Auswahl ins Turnier. In Berlin, damals noch eine geteilte Stadt, traf sie auf Chile. Schon nach 16 Minuten glückte Paul Breitner mit einem Weitschuss aus 25 Metern das Tor des Tages. Mehr gelang nicht gegen die defensiven Südamerikaner.

Souveräner Sieg gegen Chile

"Mannschaften wie Chile verderben die Spiellaune", fand der kicker. Missgelaunt war auch das Publikum, viele der 85.000 Zuschauer verabschiedeten die Spieler mit Pfiffen. Eine WM-Premiere mit vier Jahren Anlauf bekamen sie immerhin zu sehen: Der Chilene Carlos Caszely sah die erste Rote Karte nach deren Einführung 1970. Auch die 20-minütige Überzahl verhalf den Deutschen zu keinem überzeugenden Ergebnis, das es vier Tage später in Hamburg gegen WM-Neuling Australien geben sollte.

"Heute schießen wir uns ein!", titelte der kicker optimistisch und bekam nur zur Hälfte recht. Denn auch das 3:0 stellte niemanden so recht zufrieden im Lager des WM-Favoriten. Wolfgang Overath, dem Schön den Vorzug vor Günter Netzer gab, sein Kölner Teamkollege Bernd Cullmann und Gerd Müller schossen die Tore, aber das Hamburger Publikum pfiff die Sieger in den letzten zehn Minuten eines langweiligen Kicks aus. Es gipfelte in hämischen "Uwe, Uwe"-Rufen, doch Lokalmatador Uwe Seeler war seit zwei Jahren nicht mehr aktiv. Es war beinahe grotesk: Ohne Gegentor und Punktverlust hatte sich der WM-Favorit vor dem Bruderduell mit der DDR bereits für die neuartige Zwischenrunde, die erneut Gruppenspiele vorsah, qualifiziert. Nur die Herzen hatte der kommende Weltmeister noch nicht erobert.

Duell der Brüder

Dazu war auch das dritte Gruppenspiel nicht angetan. Die ganz große sportliche Brisanz war zwei Stunden vor Anpfiff gewichen, als sich herausstellte, dass beide Teams sicher in die Zwischenrunde kommen würden, da Chile gegen Australien nur 1:1 gespielt hatte. Dennoch war die Stimmung im Kader des Gastgebers gedämpft. "In Malente wird man wahnsinnig", zitierte die Bild in großen Lettern Franz Beckenbauer am 20. Juni, nachdem man "drei Wochen eingesperrt" gewesen war. Aus Angst vor Terroranschlägen wie bei den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor durften die Spieler das Quartier nur selten und dann in Gruppen verlassen.

Aber die Trainingsbelastung – zwei Einheiten täglich – war wiederum nicht im Sinne der Stars und so suchte Beckenbauer Schöns Zimmer auf, um die Sorgen der Mannschaft zu überbringen. "Nach drei Wochen Training fiel uns buchstäblich die Decke auf den Kopf, weil es an Abwechslung mangelte. 1966 und 1970 war das anders gewesen, da hatten wir Malente nach 14 Tagen verlassen und waren in ein anderes Land gefahren. Diesmal litten wir unter der Monotonie des Ortes, zumal uns die Sicherheitsbestimmungen kaum Bewegungsfreiheit ließen. Ich erklärte dem Bundestrainer, dass wir fast alle ziemlich nervös seien und einige sich übertrainiert fühlten. Er hat das sofort eingesehen und meinem Vorschlag entsprochen, das Programm in jeder Beziehung etwas aufzulockern", schrieb Beckenbauer in seinem WM-Buch.

Erneut Pfiffe nach Niederlage gegen DDR

Auf die Leistung hatte das zunächst keine Auswirkung. Zwar hatte Schön noch am Spieltag verkündet: "Es ist ein WM-Spiel, das wir gewinnen wollen. Die Spieler haben versprochen, zu kämpfen und mit Volldampf zu spielen." Aber auch nach ihrem dritten Auftritt erntete der große Favorit Pfiffe - und diesmal stimmte nicht mal das Ergebnis. Gerd Müller traf den Pfosten, Jürgen Grabowski aus zwei Metern das Tor nicht.

Die ausgeglichene Partie verlief im Übrigen fairer, als es erwartet wurde. Nach dem Spiel wurden sogar Trikots getauscht – aber aus Angst vor kritischen Nachfragen der Partei im Schutze der Kabinen. Das blaue Trikot mit der Nummer 14 sollte von besonderem Wert sein. Denn ein gewisser Jürgen Sparwasser aus Magdeburg war der einzige Deutsche, der an diesem kühlen Hamburger Sommerabend ein Tor schoss. Eines, das ihn unsterblich machte.

Das Tor, das am 22. Juni 1974 um 21.04 Uhr fiel, ist längst Legende. Sparwasser hat später gesagt. "Wenn ich mal sterbe, muss auf dem Grabstein nur 'Hamburg 1974' stehen und jeder weiß, wer drunter liegt." 1998 erschien sogar ein Buch mit dem Titel "Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?". Seine Popularität erschien den Verantwortlichen des Teams von Georg Buschner schon mit Abpfiff so groß, dass sie ihm einen spontanen Reeperbahn-Bummel mit den Kameraden verboten. "Ich durfte nicht mit. Man hatte Angst, dass ich auf der Straße erkannt werde", erzählte Sparwasser.

Lange Nacht von Malente

Über die BRD-Spieler ergoss sich derweil der Zorn der Öffentlichkeit. "So nicht, Herr Schön!", titelte die Bild am Sonntag. Das ging Franz Beckenbauer noch nicht weit genug. Schon im Bus faltete der Kapitän die Mitspieler zusammen, "vor allem dem Uli Hoeneß habe ich gesagt, dass ihm im nächsten Spiel gegen Jugoslawien der Aufenthalt auf der Ersatzbank guttun würde".

Er sagte noch viel mehr in der langen Nacht von Malente, das man jetzt als Gruppenzweiter verlassen konnte. Während der gebürtige Dresdener Helmut Schön nach kurzer Standpauke mit Magenschmerzen ins Bett ging, redeten die Führungsspieler in der Küche Tacheles. "An Schlaf dachte niemand und ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam. Ich tat eben das, was der Bundestrainer wohl auch gemacht hätte, wozu er aber viel zu vornehm gewesen ist", erzählte der plötzlich so wilde Kaiser. In diesen Stunden, erzählt man sich, entstand in der Küche von Malente der Weltmeister 1974.

Im Nachhinein schadete es wohl auch nicht, Gruppenzweiter geworden zu sein. Die DDR jedenfalls stand in der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien auf verlorenem Posten. Für das Schön-Team dagegen begann die Zeit der Siege. Gegen Jugoslawien stand in Düsseldorf jedenfalls eine völlig andere Mannschaft auf dem Platz – auf vier Positionen umformiert und in den Köpfen komplett umprogrammiert.

Spektakel gegen Schweden

Diesmal schien sogar die Sonne, und als Paul Breitner wie gegen Chile wieder aus der zweiten Reihe traf, lief es endlich. Gerd Müller sorgte nach Vorarbeit des eingewechselten Hoeneß für die Entscheidung - und schon schlug das Stimmungsbarometer wieder in die andere Richtung aus: "2:0! So schaffen wir das Endspiel!", titelte der kicker und lobte: "Es hat sich ausgezahlt, dass nun hungrige Spieler in unserem Team standen."

Im nächsten Spiel der Gruppe B traf Deutschland auf die Schweden, für die es nach dem 0:1 gegen Polen schon um alles ging. Im Dauerregen von Düsseldorf sahen 67.000 Fans am 30. Juni bei kühlen 16 Grad einen heißen Kampf, der einen deutlichen Beleg für die neue Moral des Favoriten lieferte. Nach dem Pausenrückstand drehten die Deutschen das Spiel und gingen durch Overath und Rainer Bonhof binnen zwei Minuten in Führung, um postwendend den Ausgleich zu kassieren. Drei Tore in drei Minuten – es war nichts für schwache Nerven.

Die erste und die zweite Wasserschlacht

Dann schlug wieder die Stunde von Jürgen Grabowski, der sich schon 1970 in Mexiko einen Ruf als idealer Joker gemacht hatte. Zwölf Minuten nach seiner Einwechslung überwand der Frankfurter Torwart Ronnie Hellström. Das bis dahin dramatischste Spiel der WM entschied mit Uli Hoeneß, der einen Elfmeter verwandelte, ein zweites Opfer von Beckenbauers Wutrede. Grabowski und Hoeneß hatten ihre Chance zur Wiedergutmachung genutzt und so fand sich in der Schlussphase des fünften Spiels die Elf, die den Titel holen sollte. "Ein Spiel, das uns von den Sitzen riss", wertete der kicker die Wasserschlacht von Düsseldorf, der eine noch berühmtere folgen sollte.

Im letzten Gruppenspiel warteten die Polen, und obwohl es der Modus nicht zwingend vorsah, war es quasi ein Halbfinale, denn der Sieger würde am 7. Juli in München spielen. Doch es musste nicht unbedingt einen geben, das bessere Torverhältnis erlaubte den Deutschen ein Remis, da Polen gegen Jugoslawien in Frankfurt nur 2:1 gewonnen hatte. Grzegorz Lato, mit sieben Treffern Torschützenkönig dieser WM, erzielte wie gegen Schweden das Siegtor und war bei diesem Turnier das, was Gerd Müller für die Deutschen war – der Mann für die entscheidenden Tore.

40 Minuten Verzögerung wegen Dauerregen

Am 3. Juli machte Müller den Unterschied in einem Spiel, das wohl nie wieder unter vergleichbaren Umständen stattfinden würde. Der Himmel öffnete am Nachmittag knapp 90 Minuten vor Anpfiff seine Schleusen wie nie zuvor bei dieser Regen-WM, 14 Liter pro Quadratmeter gingen nieder und "die Regentropfen sprangen einen halben Meter vom Boden hoch", erinnerte sich der Schiedsrichter Erich Linemayr aus Linz. 40 Minuten dauerte der Spuk und hinterließ auf dem Rasen des Waldstadions eine Seenlandschaft.

Ein FIFA-Funktionär klopfte besorgt an Linemayrs Kabinentür und fragte, ob er sich "das da draußen mal ansehen" könne. Was er sah, brachte Linemayr in die Bredouille. 60.000 Menschen waren trotz allem gekommen, Millionen saßen an den Bildschirmen und der Terminplan sah eigentlich keinen Spielraum vor. Eine Absage hätte dazu geführt, dass das Finale am Montag ausgetragen worden wäre – und wer wollte das schon?

Linemayr beriet sich mit seinen Assistenten und beschloss, es zu wagen. Mit 40 Minuten Verzögerung pfiff er an. In der Zwischenzeit hatten Ordner und Feuerwehrleute einen rührenden Kampf gegen die Fluten gekämpft und mit Walzen und Schläuchen so viel Wasser wie möglich vom Platz gedrängt. Im ARD-Studio wurden zur Überbrückung derweil Zuschauerfragen eingespielt, und ein Herr wollte von Braunschweigs Trainer Walter Johannsen als Experten wissen, ob eigentlich barfuß gespielt werden dürfe.

Schön: "Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke"

Am besten wäre wohl gar nicht gespielt worden, zu oft blieben eigentlich gut getimte Pässe in Lachen liegen und mancher Dribbler verlor den Ball unterwegs nicht an einen Gegenspieler, sondern in einer Pfütze. Die Wasserschlacht von Frankfurt wurde dessen ungeachtet ein legendäres Fußballspiel, in dem der deutsche Torwart Sepp Maier über sich hinaus wuchs und den Sieg festhielt, den wieder mal ein Müller-Tor (75.) möglich machte.

Uli Hoeneß verschoss zuvor noch einen Elfmeter, aber es war egal – zum dritten Mal hatte Deutschland ein WM-Finale erreicht. DFB-Vize Hermann Neuberger war nicht nur darüber froh, sondern auch über das Einhalten des Terminplans: "Organisatorisch wäre es für uns eine Katastrophe gewesen!" Kritik mussten sich die Organisatoren dennoch gefallen lassen. "Der Frankfurter Rasen ist eine Weltmeisterschaftsblamage!", mäkelte der kicker.

Am 7. Juli 1974 trafen zwei sich nicht allzu freundlich gesonnene Nachbarn in München aufeinander: Deutschland und die Niederlande. Es war kein normales Spiel, gewiss nicht. Für die elf Deutschen war es das Spiel ihres Lebens. Helmut Schön bereitete sein Team darauf vor und befahl: "Junge, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief. Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke."

Ob sie ihm zugehört hatten, mussten sich dann die Fans fragen, als die Niederländer schon in der 2. Minute in Führung gingen. Johan Neeskens drosch einen von Uli Hoeneß an Johan Cruyff verschuldeten Elfmeter Vollspann in die Tormitte. Aber auch Deutschland bekam einen Elfmeter. Der 22-jährige Paul Breitner, obwohl nicht vorgesehen als Schütze, fühlte sich in diesem Moment aber berufen und glich souverän aus (25.).

Beckenbauer bekommt neuen Pokal

Und dann kam er wieder, der Moment, den alle Gegner fürchteten: wenn ein Gerd Müller im Strafraum zum Schuss kommt. Auf Flanke Rainer Bonhofs traf er nach eigentlich missglückter Ballannahme im Nachsetzen per Drehschuss zum 2:1 (43.) und ARD-Reporter Rudi Michel kommentierte trocken: "Tore, die Müller macht. Die eigentlich nur Müller macht!"

Weil danach kein Tor mehr fiel, hatte das deutsche Team sein Ziel erreicht. Als Erster bekam Franz Beckenbauer den neuen WM-Pokal, nachdem Brasilien den alten hatte behalten dürfen. (lesen Sie hier den Spielfilm zum Spiel nach).

Von den 22 Spielern, die ihr Land beim ersten Heimturnier vertraten, leben noch 16. Gestorben sind Heinz Flohe (2013), Gerd Müller (2015), Jürgen Grabowski (2022), Horst-Dieter Höttges (2023), Franz Beckenbauer und Bernd Hölzenbein (2024). Für die deutschen Fußball-Fans sind sie alle unvergessen.

[dfb]

Heute vor 50 Jahren wurde Deutschland, ebenfalls an einem Sonntag, zum zweiten Mal Weltmeister. Und zum einzigen Mal im eigenen Land. Es war ein geplanter Erfolg, obwohl nicht alles nach Plan lief. Der Weg von Malente nach München war wie ein Hindernislauf: voller Hürden und Pfützen, aber er endete im Triumph.

Selten hatte ein Gastgeber mehr Druck als Deutschland 1974. Nach dem EM-Triumph 1972 schwärmte die Weltpresse schon vom "Fußball 2000", und als die Münchner Bayern einen Monat vor dem Turnier erstmals den Europapokal der Landesmeister gewannen, war die Favoritenrolle zementiert.

Prämiendiskussion in Malente

Im Kader von Helmut Schön, der traditionell in der Sportschule Malente Quartier bezog, standen sieben Bayern-Stars. Vorab gab es im hohen Norden vor allem ein Thema: die Prämien. Der DFB wollte nur 30.000 DM zahlen, doch die Konkurrenz teilweise das Dreifache. So kämpften die WM-Stars noch vor dem ersten Anpfiff erst mal ums Geld. Nach 15 turbulenten Verhandlungsstunden, während denen sowohl Schön als auch Rädelsführer Paul Breitner abreisen wollten, gab es mit Hilfe von Ausrüster adidas eine Einigung: 70.000 DM pro Kopf. Die Stimmung hob sich in der Vorrunde aber nicht.

Einen Tag nach dem dritten torlosen Eröffnungsspiel in Folge zwischen Brasilien und Jugoslawien startete die DFB-Auswahl ins Turnier. In Berlin, damals noch eine geteilte Stadt, traf sie auf Chile. Schon nach 16 Minuten glückte Paul Breitner mit einem Weitschuss aus 25 Metern das Tor des Tages. Mehr gelang nicht gegen die defensiven Südamerikaner.

Souveräner Sieg gegen Chile

"Mannschaften wie Chile verderben die Spiellaune", fand der kicker. Missgelaunt war auch das Publikum, viele der 85.000 Zuschauer verabschiedeten die Spieler mit Pfiffen. Eine WM-Premiere mit vier Jahren Anlauf bekamen sie immerhin zu sehen: Der Chilene Carlos Caszely sah die erste Rote Karte nach deren Einführung 1970. Auch die 20-minütige Überzahl verhalf den Deutschen zu keinem überzeugenden Ergebnis, das es vier Tage später in Hamburg gegen WM-Neuling Australien geben sollte.

"Heute schießen wir uns ein!", titelte der kicker optimistisch und bekam nur zur Hälfte recht. Denn auch das 3:0 stellte niemanden so recht zufrieden im Lager des WM-Favoriten. Wolfgang Overath, dem Schön den Vorzug vor Günter Netzer gab, sein Kölner Teamkollege Bernd Cullmann und Gerd Müller schossen die Tore, aber das Hamburger Publikum pfiff die Sieger in den letzten zehn Minuten eines langweiligen Kicks aus. Es gipfelte in hämischen "Uwe, Uwe"-Rufen, doch Lokalmatador Uwe Seeler war seit zwei Jahren nicht mehr aktiv. Es war beinahe grotesk: Ohne Gegentor und Punktverlust hatte sich der WM-Favorit vor dem Bruderduell mit der DDR bereits für die neuartige Zwischenrunde, die erneut Gruppenspiele vorsah, qualifiziert. Nur die Herzen hatte der kommende Weltmeister noch nicht erobert.

Duell der Brüder

Dazu war auch das dritte Gruppenspiel nicht angetan. Die ganz große sportliche Brisanz war zwei Stunden vor Anpfiff gewichen, als sich herausstellte, dass beide Teams sicher in die Zwischenrunde kommen würden, da Chile gegen Australien nur 1:1 gespielt hatte. Dennoch war die Stimmung im Kader des Gastgebers gedämpft. "In Malente wird man wahnsinnig", zitierte die Bild in großen Lettern Franz Beckenbauer am 20. Juni, nachdem man "drei Wochen eingesperrt" gewesen war. Aus Angst vor Terroranschlägen wie bei den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor durften die Spieler das Quartier nur selten und dann in Gruppen verlassen.

Aber die Trainingsbelastung – zwei Einheiten täglich – war wiederum nicht im Sinne der Stars und so suchte Beckenbauer Schöns Zimmer auf, um die Sorgen der Mannschaft zu überbringen. "Nach drei Wochen Training fiel uns buchstäblich die Decke auf den Kopf, weil es an Abwechslung mangelte. 1966 und 1970 war das anders gewesen, da hatten wir Malente nach 14 Tagen verlassen und waren in ein anderes Land gefahren. Diesmal litten wir unter der Monotonie des Ortes, zumal uns die Sicherheitsbestimmungen kaum Bewegungsfreiheit ließen. Ich erklärte dem Bundestrainer, dass wir fast alle ziemlich nervös seien und einige sich übertrainiert fühlten. Er hat das sofort eingesehen und meinem Vorschlag entsprochen, das Programm in jeder Beziehung etwas aufzulockern", schrieb Beckenbauer in seinem WM-Buch.

Erneut Pfiffe nach Niederlage gegen DDR

Auf die Leistung hatte das zunächst keine Auswirkung. Zwar hatte Schön noch am Spieltag verkündet: "Es ist ein WM-Spiel, das wir gewinnen wollen. Die Spieler haben versprochen, zu kämpfen und mit Volldampf zu spielen." Aber auch nach ihrem dritten Auftritt erntete der große Favorit Pfiffe - und diesmal stimmte nicht mal das Ergebnis. Gerd Müller traf den Pfosten, Jürgen Grabowski aus zwei Metern das Tor nicht.

Die ausgeglichene Partie verlief im Übrigen fairer, als es erwartet wurde. Nach dem Spiel wurden sogar Trikots getauscht – aber aus Angst vor kritischen Nachfragen der Partei im Schutze der Kabinen. Das blaue Trikot mit der Nummer 14 sollte von besonderem Wert sein. Denn ein gewisser Jürgen Sparwasser aus Magdeburg war der einzige Deutsche, der an diesem kühlen Hamburger Sommerabend ein Tor schoss. Eines, das ihn unsterblich machte.

Das Tor, das am 22. Juni 1974 um 21.04 Uhr fiel, ist längst Legende. Sparwasser hat später gesagt. "Wenn ich mal sterbe, muss auf dem Grabstein nur 'Hamburg 1974' stehen und jeder weiß, wer drunter liegt." 1998 erschien sogar ein Buch mit dem Titel "Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?". Seine Popularität erschien den Verantwortlichen des Teams von Georg Buschner schon mit Abpfiff so groß, dass sie ihm einen spontanen Reeperbahn-Bummel mit den Kameraden verboten. "Ich durfte nicht mit. Man hatte Angst, dass ich auf der Straße erkannt werde", erzählte Sparwasser.

Lange Nacht von Malente

Über die BRD-Spieler ergoss sich derweil der Zorn der Öffentlichkeit. "So nicht, Herr Schön!", titelte die Bild am Sonntag. Das ging Franz Beckenbauer noch nicht weit genug. Schon im Bus faltete der Kapitän die Mitspieler zusammen, "vor allem dem Uli Hoeneß habe ich gesagt, dass ihm im nächsten Spiel gegen Jugoslawien der Aufenthalt auf der Ersatzbank guttun würde".

Er sagte noch viel mehr in der langen Nacht von Malente, das man jetzt als Gruppenzweiter verlassen konnte. Während der gebürtige Dresdener Helmut Schön nach kurzer Standpauke mit Magenschmerzen ins Bett ging, redeten die Führungsspieler in der Küche Tacheles. "An Schlaf dachte niemand und ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam. Ich tat eben das, was der Bundestrainer wohl auch gemacht hätte, wozu er aber viel zu vornehm gewesen ist", erzählte der plötzlich so wilde Kaiser. In diesen Stunden, erzählt man sich, entstand in der Küche von Malente der Weltmeister 1974.

Im Nachhinein schadete es wohl auch nicht, Gruppenzweiter geworden zu sein. Die DDR jedenfalls stand in der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien auf verlorenem Posten. Für das Schön-Team dagegen begann die Zeit der Siege. Gegen Jugoslawien stand in Düsseldorf jedenfalls eine völlig andere Mannschaft auf dem Platz – auf vier Positionen umformiert und in den Köpfen komplett umprogrammiert.

Spektakel gegen Schweden

Diesmal schien sogar die Sonne, und als Paul Breitner wie gegen Chile wieder aus der zweiten Reihe traf, lief es endlich. Gerd Müller sorgte nach Vorarbeit des eingewechselten Hoeneß für die Entscheidung - und schon schlug das Stimmungsbarometer wieder in die andere Richtung aus: "2:0! So schaffen wir das Endspiel!", titelte der kicker und lobte: "Es hat sich ausgezahlt, dass nun hungrige Spieler in unserem Team standen."

Im nächsten Spiel der Gruppe B traf Deutschland auf die Schweden, für die es nach dem 0:1 gegen Polen schon um alles ging. Im Dauerregen von Düsseldorf sahen 67.000 Fans am 30. Juni bei kühlen 16 Grad einen heißen Kampf, der einen deutlichen Beleg für die neue Moral des Favoriten lieferte. Nach dem Pausenrückstand drehten die Deutschen das Spiel und gingen durch Overath und Rainer Bonhof binnen zwei Minuten in Führung, um postwendend den Ausgleich zu kassieren. Drei Tore in drei Minuten – es war nichts für schwache Nerven.

Die erste und die zweite Wasserschlacht

Dann schlug wieder die Stunde von Jürgen Grabowski, der sich schon 1970 in Mexiko einen Ruf als idealer Joker gemacht hatte. Zwölf Minuten nach seiner Einwechslung überwand der Frankfurter Torwart Ronnie Hellström. Das bis dahin dramatischste Spiel der WM entschied mit Uli Hoeneß, der einen Elfmeter verwandelte, ein zweites Opfer von Beckenbauers Wutrede. Grabowski und Hoeneß hatten ihre Chance zur Wiedergutmachung genutzt und so fand sich in der Schlussphase des fünften Spiels die Elf, die den Titel holen sollte. "Ein Spiel, das uns von den Sitzen riss", wertete der kicker die Wasserschlacht von Düsseldorf, der eine noch berühmtere folgen sollte.

Im letzten Gruppenspiel warteten die Polen, und obwohl es der Modus nicht zwingend vorsah, war es quasi ein Halbfinale, denn der Sieger würde am 7. Juli in München spielen. Doch es musste nicht unbedingt einen geben, das bessere Torverhältnis erlaubte den Deutschen ein Remis, da Polen gegen Jugoslawien in Frankfurt nur 2:1 gewonnen hatte. Grzegorz Lato, mit sieben Treffern Torschützenkönig dieser WM, erzielte wie gegen Schweden das Siegtor und war bei diesem Turnier das, was Gerd Müller für die Deutschen war – der Mann für die entscheidenden Tore.

40 Minuten Verzögerung wegen Dauerregen

Am 3. Juli machte Müller den Unterschied in einem Spiel, das wohl nie wieder unter vergleichbaren Umständen stattfinden würde. Der Himmel öffnete am Nachmittag knapp 90 Minuten vor Anpfiff seine Schleusen wie nie zuvor bei dieser Regen-WM, 14 Liter pro Quadratmeter gingen nieder und "die Regentropfen sprangen einen halben Meter vom Boden hoch", erinnerte sich der Schiedsrichter Erich Linemayr aus Linz. 40 Minuten dauerte der Spuk und hinterließ auf dem Rasen des Waldstadions eine Seenlandschaft.

Ein FIFA-Funktionär klopfte besorgt an Linemayrs Kabinentür und fragte, ob er sich "das da draußen mal ansehen" könne. Was er sah, brachte Linemayr in die Bredouille. 60.000 Menschen waren trotz allem gekommen, Millionen saßen an den Bildschirmen und der Terminplan sah eigentlich keinen Spielraum vor. Eine Absage hätte dazu geführt, dass das Finale am Montag ausgetragen worden wäre – und wer wollte das schon?

Linemayr beriet sich mit seinen Assistenten und beschloss, es zu wagen. Mit 40 Minuten Verzögerung pfiff er an. In der Zwischenzeit hatten Ordner und Feuerwehrleute einen rührenden Kampf gegen die Fluten gekämpft und mit Walzen und Schläuchen so viel Wasser wie möglich vom Platz gedrängt. Im ARD-Studio wurden zur Überbrückung derweil Zuschauerfragen eingespielt, und ein Herr wollte von Braunschweigs Trainer Walter Johannsen als Experten wissen, ob eigentlich barfuß gespielt werden dürfe.

Schön: "Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke"

Am besten wäre wohl gar nicht gespielt worden, zu oft blieben eigentlich gut getimte Pässe in Lachen liegen und mancher Dribbler verlor den Ball unterwegs nicht an einen Gegenspieler, sondern in einer Pfütze. Die Wasserschlacht von Frankfurt wurde dessen ungeachtet ein legendäres Fußballspiel, in dem der deutsche Torwart Sepp Maier über sich hinaus wuchs und den Sieg festhielt, den wieder mal ein Müller-Tor (75.) möglich machte.

Uli Hoeneß verschoss zuvor noch einen Elfmeter, aber es war egal – zum dritten Mal hatte Deutschland ein WM-Finale erreicht. DFB-Vize Hermann Neuberger war nicht nur darüber froh, sondern auch über das Einhalten des Terminplans: "Organisatorisch wäre es für uns eine Katastrophe gewesen!" Kritik mussten sich die Organisatoren dennoch gefallen lassen. "Der Frankfurter Rasen ist eine Weltmeisterschaftsblamage!", mäkelte der kicker.

Am 7. Juli 1974 trafen zwei sich nicht allzu freundlich gesonnene Nachbarn in München aufeinander: Deutschland und die Niederlande. Es war kein normales Spiel, gewiss nicht. Für die elf Deutschen war es das Spiel ihres Lebens. Helmut Schön bereitete sein Team darauf vor und befahl: "Junge, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief. Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke."

Ob sie ihm zugehört hatten, mussten sich dann die Fans fragen, als die Niederländer schon in der 2. Minute in Führung gingen. Johan Neeskens drosch einen von Uli Hoeneß an Johan Cruyff verschuldeten Elfmeter Vollspann in die Tormitte. Aber auch Deutschland bekam einen Elfmeter. Der 22-jährige Paul Breitner, obwohl nicht vorgesehen als Schütze, fühlte sich in diesem Moment aber berufen und glich souverän aus (25.).

Beckenbauer bekommt neuen Pokal

Und dann kam er wieder, der Moment, den alle Gegner fürchteten: wenn ein Gerd Müller im Strafraum zum Schuss kommt. Auf Flanke Rainer Bonhofs traf er nach eigentlich missglückter Ballannahme im Nachsetzen per Drehschuss zum 2:1 (43.) und ARD-Reporter Rudi Michel kommentierte trocken: "Tore, die Müller macht. Die eigentlich nur Müller macht!"

Weil danach kein Tor mehr fiel, hatte das deutsche Team sein Ziel erreicht. Als Erster bekam Franz Beckenbauer den neuen WM-Pokal, nachdem Brasilien den alten hatte behalten dürfen. (lesen Sie hier den Spielfilm zum Spiel nach).

Von den 22 Spielern, die ihr Land beim ersten Heimturnier vertraten, leben noch 16. Gestorben sind Heinz Flohe (2013), Gerd Müller (2015), Jürgen Grabowski (2022), Horst-Dieter Höttges (2023), Franz Beckenbauer und Bernd Hölzenbein (2024). Für die deutschen Fußball-Fans sind sie alle unvergessen.

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