113 Jahre und 38 Spiele: Ein Rückblick auf alle Duelle gegen Ungarn

Wer an Fußball und Ungarn denkt, der denkt automatisch an das Wunder von Bern. Doch die Geschichte der Länderspiele mit unserem heutigen Gegner enthält noch ein paar andere Kapitel. Eine Erinnerung an mehr oder weniger vergessene Geschichten aus einer 113-jährigen Beziehung, die 38 Partien enthält.

In ihrem fünften Länderspiel feiert die DFB-Auswahl am 4. April 1909 einen schönen Erfolg. Denn erstmals geht sie nicht als Verlierer vom Platz, dabei stehen die Ungarn Pate. In Budapest gibt es vor 11.000 Zuschauern ein 3:3. Drei Mal gehen die Ungarn in Führung, drei Mal gleichen die Deutschen aus. Ihre Namen sind den Berichterstattern nicht so geläufig, die Illustrierte Sportzeitung nennt gar keine Torschützen, vermeldet aber: "Bei trübem Wetter und teilweise Niederschlägen fand das Spiel statt. Die Deutschen waren besser, aber die Ungarn verteidigten gut." Nicht gut genug bei den Schüssen des Berliners Willy Worpitzki (5., 33.) und des Leipzigers Camillo Ugi (79., Elfmeter). Hinterher werden laut  einer Fußball-Chronik von 1937 bei "einem fabelhaften Bankett …Freundschaftsbande geknüpft, die den Weltkrieg überdauert haben und heute noch bestehen."

Das erste Pflichtspiel

Am 3. Juli 1912, drei Monate nach einem spektakulären 4:4 in Budapest, verliert Deutschland bei den Olympischen Spielen in Stockholm in der Trostrunde mit 1:3. Was auch an Torwart Adolf Werner aus Kiel gelegen haben mag, der wegen Krankheit "nicht fähig war, auf beiden Beinen sich rasch zu bewegen", wie der Fußball schreibt. Sein steifes Bein erleichtert dem ungarischen Torjäger Imre Schlosser-Lakatos die Aufgabe. Er erzielt alle drei Tore gegen eine deutsche Elf, die am Ende wegen Verletzungen nur noch eine Neun ist. Bis heute ist Schlosser-Lakatos übrigens der Fußballer mit den meisten Toren gegen Deutschland (acht).

Der erste Sieg

Am 24. Oktober 1920 in Berlin fällt nur ein Tor, der Sieg steht im Zeichen der grandiosen Torwartleistung von Teddy Lohrmann aus Fürth. Lohrmann soll auch den weiblichen Teil der 35.000 im Grunewald-Stadion beeindruckt haben – durch seinen modischen grau-grünen Pullover. Das erste Siegtor gegen die Ungarn ist ein Elfmeter, den Adolf Jäger aus Altona nach 22 Minuten verwandelt.

Das Wunder von Dresden

Am 28. September 1930 steuert die Nationalelf einem Debakel entgegen. Im Ostra-Gehege steht es zur Halbzeit nach einem Hattrick von Joszef Takacs 0:3, das Publikum murrt. Peinlich berührt ist auch der komplette DFB-Vorstand, anlässlich des Bundestags in Dresden angereist. Dann ereignet sich ein Novum, nie mehr hat eine Nationalelf einen solchen Rückstand noch in einen Sieg verwandelt. Die wilde Hatz beginnt nach 59 Minuten, als Lokalmatador Richard Hofmann verkürzt. Namensvetter Ludwig Hofmann trifft zum 2:3 (61.) und nach 71 Minuten gleicht Debütant Johannes Ludwig von Holstein Kiel aus. Die 42.000 rasen und bekommen noch mehr Grund dazu: Ludwig Lachner von 1860 München (78.) und wieder Ludwig Hofmann vom FC Bayern (86.) sorgen für den 5:3-Endstand gegen die damalige Fußball-Großmacht. "Diese Leistung allein ist von hohem moralischem Wert für die Millionen, die Fußball spielen", schreibt der Reporter des Fußball. Tausende Fans stürmen auf den Platz und tragen die Helden auf Schultern. Bis zum Tag von Bern gilt dieser Sieg als der schönste der deutschen Fußball-Geschichte.

Das Phantom von Budapest

Nach dem eher unbedeutenden Freundschaftsspiel am 30. Oktober 1932 in Budapest (1:2) schleicht sich ein blinder Passagier in die DFB-Annalen. Aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers des Kicker-Reporters wird Karl Joppich aus Hoyerswerda zum Nationalspieler. Dabei wurde er gar nicht eingewechselt, was er per Gegendarstellung auch mitteilte. Doch die wurde kaum beachtet, der Fehler hielt sich in den Almanachen und erst nach einer Recherche der WELT wurde der längst verstorbene Joppich 2023 wieder aus den Annalen gestrichen.

Das Weitschuss-Tor des Jahrhunderts:

Am 14. Januar 1934 frieren rund 40.000 Zuschauer im Frankfurter Waldstadion. Aber es lohnt sich, denn sie sehen nicht nur einen verdienten 3:1-Sieg der Deutschen, sondern auch ein Tor, das 40 Jahre später gewiss mit der Plakette "Tor des Jahres" ausgezeichnet worden wäre. Beim Stand von 1:1 legt sich der Frankfurter Eintracht-Spieler Hans Stubb in der 55. Minute den Ball zum Freistoß zurecht, Schätzungen schwanken zwischen 60 und 70 Meter Torentfernung. Stubb erzählt: "Ich wollte den Ball zu unseren Stürmern in den Strafraum vorschlagen und habe natürlich nie daran gedacht, ein Tor zu schießen!" Der Ball fliegt bis in die Mitte des Strafraums, setzt auf hart gefrorenem Boden auf und springt direkt unter die Latte. Es ist ein Sensationstor; Debütant Edmund Conen sorgt für den Endstand, aber die Zuschauer haben auf dem Nachhauseweg nur ein Thema: das Stubb-Tor. Es ist seither kein Länderspieltor aus größerer Entfernung erzielt worden.

Der höchste Sieg

Im zweiten Kriegsjahr erwartet der Reichspropagandaminister  Siege zur Hebung der Moral. Dazu taugt das Spiel vom 6. April 1941 in Köln allemal. Fragte man Alt-Bundestrainer Helmut Schön nach seinem Lieblingsländerspiel, so hat er stets dieses 7:0 genannt gegen einen Gegner, der sie zwei Jahre zuvor noch 5:1 geschlagen hatte. Neun der Spieler in Sepp Herbergers Kader reisen in Uniform an, sind im Kriegseinsatz. Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten gibt die Order aus: "Spielt ja fair! Das Spiel ist mehr als ein Fußballspiel. Es ist eine Demonstration der Freundschaft." Weil Ungarn in Kürze an der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten wird, dürfe nichts geschehen was das Verhältnis trübe. Nun, das Ergebnis dürfte in Budapest gewiss auf wenig Beifall gestoßen sein. Fritz Walter holt den Elfmeter zum 1:0 heraus, erzielt das 2:0 selbst. Stanislaus Kobierski sorgt für die 3:0-Pausenführung gegen den Vize-Weltmeister, die Zuschauer können es kaum glauben. Nur Fachleute erkennen die Ursache: die Ungarn üben das neue WM- System ein. Schön notiert in seiner Biographie: "Die ungarischen Abwehrspieler suchen unsere Leute auf dem Platz. Ihr ganzes System geht zum Teufel." Er selbst steuert noch zwei Tore, darunter per Fallrückzieher "das Supertor meines Lebens" bei. Fazit Schön: "Nach allem, was ich als Spieler miterlebt und später als Trainer gesehen habe, lässt sich dieses Spiel wohl nur mit unserem 3:1 gegen England in Wembley-Stadion vergleichen."

Das Wunder von Budapest

Am 3. Mai 1942 erhalten die Ungarn die Gelegenheit zur Revanche. Zur Halbzeit führen sie 3:1 – nur 3:1. "Die haben uns regelrecht vorgeführt und waren Klassen besser als wir", erinnert sich Fritz Walter, Schütze des 0:1. In der Kabine bittet Trainer Sepp Herberger seine Schützlinge beinahe flehentlich: "Männer, lasst es nur nicht zur Katastrophe kommen." Dann schaut er aus dem Kabinenfenster und pfeift wie geistesabwesend die Melodie eines Operettenschlagers: "Die Julischka, die Julischka aus Buda-Budapest."

Aus der Nachbarkabine dringt lautes Triumphgeheul, die Ungarn feiern bereits. Es soll sich rächen. Herberger klopft jedem einzelnen auf die Schulter und sagt: "Männer, wir gewinnen diesen Kampf noch." Genauso kommt es. Wie 1930 gibt es ein 5:3 für Deutschland. Paul Janes, Fritz Walter, Frido Dörfel und Albert Sing schießen die Tore und Herberger notiert: "Eine solche Leistung kann nur unsere Mannschaft vollbringen."

Die höchste Pleite

Das Wunder von Bern hat ein neunzigminütiges Vorspiel. Schon in der WM-Vorrunde trifft man aufeinander und an diesem 20. Juni 1954 schickt Herberger in Basel nicht seine beste Elf. Die braucht er im Entscheidungsspiel gegen die Türken, nun braucht er nur elf Spieler, die die Partie mit Anstand über die Runden bringen. Die deutschen Schlachtenbummler buhen bei der Verlesung der Aufstellung und ihre Wut steigert sich von Minute zu Minute. Am Ende eines desolaten Auftritts steht eine 3:8-Pleite, bis heute die höchste bei einer WM.

Körbeweise kommt Zuschauerpost ins deutsche Lager nach Spiez, Herberger wird in teils drastischen Worten zum Rücktritt aufgefordert. Auch er hat dieses Debakel nicht gewollt, doch es hat sein Gutes. Als sie sich am 4. Juli in Bern wieder sehen, haben die Ungarn schon gewonnen. Denken sie. Und wieder soll es sich rächen.

Das Wunder von Bern

Um kein deutsches Länderspiel ranken sich mehr Mythen. Es war eben ein wunderbarer Tag, damals im Regen von Bern. Das erste Wunder war die Finalteilnahme an sich, niemand hatte das der Elf zugetraut – neun Jahre nach dem verlorenen Krieg. Bis 1950 war man noch ausgeschlossen gewesen, Kriegsverursacher durften nicht der Fifa angehören.  Als sie in die Schweiz reisten, schrieb der Kicker: "Hoffen wir auf ein Wunder". Es wurden zwei. Das zweite war, dass sie die seit vier Jahren ungeschlagenen Ungarn tatsächlich bezwangen. Nach einem 0:2-Rückstand, der schon nach neun Minuten von der Anzeigetafel prangte. Puskas und Czibor waren leicht zu ihren Toren gekommen und die Deutschen fürchteten schon, es käme noch schlimmer als beim 3:8 in Basel. Aber im Gegenzug verkürzte der Nürnberger Max Morlock "im Spagatschritt" (Radioreporter Herbert Zimmermann) auf 1:2. Als dann nach 18 Minuten der Essener Helmut Rahn nach einer Ecke von Fritz Walter ausglich, wankte die Fußball-Weltmacht Ungarn, die mit dieser Formation 1952 bei Olympia Gold geholt hatte. Über eine Stunde tobte der Kampf bei Dauerregen hin und her, Torwart Toni Turek avancierte in der legendären Reportage von Zimmermann zum "Fußball-Gott", Dann verlor Boszik, "immer wieder Boszik, der rechte Läufer der Ungarn", den Ball an den Kölner Hans Schäfer. "Schäfer nach innen geflankt, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor." Diese Passage aus Zimmermanns Reportage in der 84. Minute ist in Deutschland häufiger zitiert worden als irgendein Satz von Goethe und Schiller, denn sie machte ein ganzes Land glücklich.

Später sprachen Historiker von der "eigentlichen Gründung der Bundesrepublik Deutschland". Das mag überhöht sein. Aber der Tag von Bern brachte unheimlich viel Freude und Stolz zurück in deutsche Herzen.

Der Spielabbruch

Am 15. November 1978 kam es zu einem Novum der DFB-Historie. Ausgerechnet das Abschiedsspiel für Helmut Schön, der nach der WM in Argentinien als Bundestrainer aufhörte, muss nach 60 Minuten abgepfiffen werden – beim Stand von 0:0. Der Nebel macht ein Weiterspielen unmöglich. Da sind die ersten Zuschauer in Frankfurt schon geflohen, die Verbliebenen rufen "Aufhören". Um 21. 30 Uhr beendet der französische Schiedsrichter Robert Wurtz das Spiel, das keiner sah. Aber Helmut Schön, der Mann mit der Mütze, hat seinen verdienten Beifall noch bekommen. Die Laudatio hält Fernsehkommentator Rudi Michel. Schön erhält eine Nachbildung des WM-Pokals 1974 und geht im Triumph.

Bei den großen Turnieren war Ungarn im letzten halben Jahrhundert fast nie dabei, in eine Qualifikationsgruppe wurde man nie zusammengelost. Erst in jüngster Zeit gab es wieder Pflichtspiele:

Goretzkas Tor mit Herz

Bei der Kontinental-EM 2021, die 2020 hätte stattfinden sollen, traf man sich im letzten Gruppenspiel in München. Die Deutschen taten sich schwer und gerieten zweimal in Rückstand, schafften aber auch zweimal den Ausgleich, der das Achtelfinale letztlich ermöglichte. In Erinnerung bleibt besonders die Geste von Leon Goretzka nach seinem Tor zum 2:2 in Richtung der ungarischen Anhänger. Er formte demonstrativ ein Herz, um der Homophobie, die von dem "schwarzen Block" ausging, ein Zeichen der Toleranz entgegenzusetzen.

Sieg in Pink

Zwei Jahre später führte der Weg ins Achtelfinale bei der Heim-EM wieder über Ungarn. Diesmal wurde es schon im zweiten Spiel erreicht, in Stuttgart gewann die Nagelsmann-Elf verdient mit 2:0. Am Tag, als das rosa Trikot seine Pflichtspielpremiere feierte, trafen Jamal Musiala und Kapitän Ilkay Gündogan. Die Bild titelte: "Sieg in Pink!" Es war der erste Pflichtspielsieg seit dem Wunder von Bern und das beste Spiel von Manuel Neuer nach seinem Ski-Unfall im Winter 2022. "Neuer ist wieder Neuer!", befand das Boulevardblatt.

Nun kommt es mit einem neuen Torwart zum dritten Duell in der Nations League. Da ist die Bilanz nach den Partien 2022 im Juni in Budapest (1:1) und im September in Leipzig (0:1) noch negativ, insgesamt hat Deutschland nach 38 Duellen nun leicht die Nase vorn (14-12-12).

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Wer an Fußball und Ungarn denkt, der denkt automatisch an das Wunder von Bern. Doch die Geschichte der Länderspiele mit unserem heutigen Gegner enthält noch ein paar andere Kapitel. Eine Erinnerung an mehr oder weniger vergessene Geschichten aus einer 113-jährigen Beziehung, die 38 Partien enthält.

In ihrem fünften Länderspiel feiert die DFB-Auswahl am 4. April 1909 einen schönen Erfolg. Denn erstmals geht sie nicht als Verlierer vom Platz, dabei stehen die Ungarn Pate. In Budapest gibt es vor 11.000 Zuschauern ein 3:3. Drei Mal gehen die Ungarn in Führung, drei Mal gleichen die Deutschen aus. Ihre Namen sind den Berichterstattern nicht so geläufig, die Illustrierte Sportzeitung nennt gar keine Torschützen, vermeldet aber: "Bei trübem Wetter und teilweise Niederschlägen fand das Spiel statt. Die Deutschen waren besser, aber die Ungarn verteidigten gut." Nicht gut genug bei den Schüssen des Berliners Willy Worpitzki (5., 33.) und des Leipzigers Camillo Ugi (79., Elfmeter). Hinterher werden laut  einer Fußball-Chronik von 1937 bei "einem fabelhaften Bankett …Freundschaftsbande geknüpft, die den Weltkrieg überdauert haben und heute noch bestehen."

Das erste Pflichtspiel

Am 3. Juli 1912, drei Monate nach einem spektakulären 4:4 in Budapest, verliert Deutschland bei den Olympischen Spielen in Stockholm in der Trostrunde mit 1:3. Was auch an Torwart Adolf Werner aus Kiel gelegen haben mag, der wegen Krankheit "nicht fähig war, auf beiden Beinen sich rasch zu bewegen", wie der Fußball schreibt. Sein steifes Bein erleichtert dem ungarischen Torjäger Imre Schlosser-Lakatos die Aufgabe. Er erzielt alle drei Tore gegen eine deutsche Elf, die am Ende wegen Verletzungen nur noch eine Neun ist. Bis heute ist Schlosser-Lakatos übrigens der Fußballer mit den meisten Toren gegen Deutschland (acht).

Der erste Sieg

Am 24. Oktober 1920 in Berlin fällt nur ein Tor, der Sieg steht im Zeichen der grandiosen Torwartleistung von Teddy Lohrmann aus Fürth. Lohrmann soll auch den weiblichen Teil der 35.000 im Grunewald-Stadion beeindruckt haben – durch seinen modischen grau-grünen Pullover. Das erste Siegtor gegen die Ungarn ist ein Elfmeter, den Adolf Jäger aus Altona nach 22 Minuten verwandelt.

Das Wunder von Dresden

Am 28. September 1930 steuert die Nationalelf einem Debakel entgegen. Im Ostra-Gehege steht es zur Halbzeit nach einem Hattrick von Joszef Takacs 0:3, das Publikum murrt. Peinlich berührt ist auch der komplette DFB-Vorstand, anlässlich des Bundestags in Dresden angereist. Dann ereignet sich ein Novum, nie mehr hat eine Nationalelf einen solchen Rückstand noch in einen Sieg verwandelt. Die wilde Hatz beginnt nach 59 Minuten, als Lokalmatador Richard Hofmann verkürzt. Namensvetter Ludwig Hofmann trifft zum 2:3 (61.) und nach 71 Minuten gleicht Debütant Johannes Ludwig von Holstein Kiel aus. Die 42.000 rasen und bekommen noch mehr Grund dazu: Ludwig Lachner von 1860 München (78.) und wieder Ludwig Hofmann vom FC Bayern (86.) sorgen für den 5:3-Endstand gegen die damalige Fußball-Großmacht. "Diese Leistung allein ist von hohem moralischem Wert für die Millionen, die Fußball spielen", schreibt der Reporter des Fußball. Tausende Fans stürmen auf den Platz und tragen die Helden auf Schultern. Bis zum Tag von Bern gilt dieser Sieg als der schönste der deutschen Fußball-Geschichte.

Das Phantom von Budapest

Nach dem eher unbedeutenden Freundschaftsspiel am 30. Oktober 1932 in Budapest (1:2) schleicht sich ein blinder Passagier in die DFB-Annalen. Aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers des Kicker-Reporters wird Karl Joppich aus Hoyerswerda zum Nationalspieler. Dabei wurde er gar nicht eingewechselt, was er per Gegendarstellung auch mitteilte. Doch die wurde kaum beachtet, der Fehler hielt sich in den Almanachen und erst nach einer Recherche der WELT wurde der längst verstorbene Joppich 2023 wieder aus den Annalen gestrichen.

Das Weitschuss-Tor des Jahrhunderts:

Am 14. Januar 1934 frieren rund 40.000 Zuschauer im Frankfurter Waldstadion. Aber es lohnt sich, denn sie sehen nicht nur einen verdienten 3:1-Sieg der Deutschen, sondern auch ein Tor, das 40 Jahre später gewiss mit der Plakette "Tor des Jahres" ausgezeichnet worden wäre. Beim Stand von 1:1 legt sich der Frankfurter Eintracht-Spieler Hans Stubb in der 55. Minute den Ball zum Freistoß zurecht, Schätzungen schwanken zwischen 60 und 70 Meter Torentfernung. Stubb erzählt: "Ich wollte den Ball zu unseren Stürmern in den Strafraum vorschlagen und habe natürlich nie daran gedacht, ein Tor zu schießen!" Der Ball fliegt bis in die Mitte des Strafraums, setzt auf hart gefrorenem Boden auf und springt direkt unter die Latte. Es ist ein Sensationstor; Debütant Edmund Conen sorgt für den Endstand, aber die Zuschauer haben auf dem Nachhauseweg nur ein Thema: das Stubb-Tor. Es ist seither kein Länderspieltor aus größerer Entfernung erzielt worden.

Der höchste Sieg

Im zweiten Kriegsjahr erwartet der Reichspropagandaminister  Siege zur Hebung der Moral. Dazu taugt das Spiel vom 6. April 1941 in Köln allemal. Fragte man Alt-Bundestrainer Helmut Schön nach seinem Lieblingsländerspiel, so hat er stets dieses 7:0 genannt gegen einen Gegner, der sie zwei Jahre zuvor noch 5:1 geschlagen hatte. Neun der Spieler in Sepp Herbergers Kader reisen in Uniform an, sind im Kriegseinsatz. Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten gibt die Order aus: "Spielt ja fair! Das Spiel ist mehr als ein Fußballspiel. Es ist eine Demonstration der Freundschaft." Weil Ungarn in Kürze an der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten wird, dürfe nichts geschehen was das Verhältnis trübe. Nun, das Ergebnis dürfte in Budapest gewiss auf wenig Beifall gestoßen sein. Fritz Walter holt den Elfmeter zum 1:0 heraus, erzielt das 2:0 selbst. Stanislaus Kobierski sorgt für die 3:0-Pausenführung gegen den Vize-Weltmeister, die Zuschauer können es kaum glauben. Nur Fachleute erkennen die Ursache: die Ungarn üben das neue WM- System ein. Schön notiert in seiner Biographie: "Die ungarischen Abwehrspieler suchen unsere Leute auf dem Platz. Ihr ganzes System geht zum Teufel." Er selbst steuert noch zwei Tore, darunter per Fallrückzieher "das Supertor meines Lebens" bei. Fazit Schön: "Nach allem, was ich als Spieler miterlebt und später als Trainer gesehen habe, lässt sich dieses Spiel wohl nur mit unserem 3:1 gegen England in Wembley-Stadion vergleichen."

Das Wunder von Budapest

Am 3. Mai 1942 erhalten die Ungarn die Gelegenheit zur Revanche. Zur Halbzeit führen sie 3:1 – nur 3:1. "Die haben uns regelrecht vorgeführt und waren Klassen besser als wir", erinnert sich Fritz Walter, Schütze des 0:1. In der Kabine bittet Trainer Sepp Herberger seine Schützlinge beinahe flehentlich: "Männer, lasst es nur nicht zur Katastrophe kommen." Dann schaut er aus dem Kabinenfenster und pfeift wie geistesabwesend die Melodie eines Operettenschlagers: "Die Julischka, die Julischka aus Buda-Budapest."

Aus der Nachbarkabine dringt lautes Triumphgeheul, die Ungarn feiern bereits. Es soll sich rächen. Herberger klopft jedem einzelnen auf die Schulter und sagt: "Männer, wir gewinnen diesen Kampf noch." Genauso kommt es. Wie 1930 gibt es ein 5:3 für Deutschland. Paul Janes, Fritz Walter, Frido Dörfel und Albert Sing schießen die Tore und Herberger notiert: "Eine solche Leistung kann nur unsere Mannschaft vollbringen."

Die höchste Pleite

Das Wunder von Bern hat ein neunzigminütiges Vorspiel. Schon in der WM-Vorrunde trifft man aufeinander und an diesem 20. Juni 1954 schickt Herberger in Basel nicht seine beste Elf. Die braucht er im Entscheidungsspiel gegen die Türken, nun braucht er nur elf Spieler, die die Partie mit Anstand über die Runden bringen. Die deutschen Schlachtenbummler buhen bei der Verlesung der Aufstellung und ihre Wut steigert sich von Minute zu Minute. Am Ende eines desolaten Auftritts steht eine 3:8-Pleite, bis heute die höchste bei einer WM.

Körbeweise kommt Zuschauerpost ins deutsche Lager nach Spiez, Herberger wird in teils drastischen Worten zum Rücktritt aufgefordert. Auch er hat dieses Debakel nicht gewollt, doch es hat sein Gutes. Als sie sich am 4. Juli in Bern wieder sehen, haben die Ungarn schon gewonnen. Denken sie. Und wieder soll es sich rächen.

Das Wunder von Bern

Um kein deutsches Länderspiel ranken sich mehr Mythen. Es war eben ein wunderbarer Tag, damals im Regen von Bern. Das erste Wunder war die Finalteilnahme an sich, niemand hatte das der Elf zugetraut – neun Jahre nach dem verlorenen Krieg. Bis 1950 war man noch ausgeschlossen gewesen, Kriegsverursacher durften nicht der Fifa angehören.  Als sie in die Schweiz reisten, schrieb der Kicker: "Hoffen wir auf ein Wunder". Es wurden zwei. Das zweite war, dass sie die seit vier Jahren ungeschlagenen Ungarn tatsächlich bezwangen. Nach einem 0:2-Rückstand, der schon nach neun Minuten von der Anzeigetafel prangte. Puskas und Czibor waren leicht zu ihren Toren gekommen und die Deutschen fürchteten schon, es käme noch schlimmer als beim 3:8 in Basel. Aber im Gegenzug verkürzte der Nürnberger Max Morlock "im Spagatschritt" (Radioreporter Herbert Zimmermann) auf 1:2. Als dann nach 18 Minuten der Essener Helmut Rahn nach einer Ecke von Fritz Walter ausglich, wankte die Fußball-Weltmacht Ungarn, die mit dieser Formation 1952 bei Olympia Gold geholt hatte. Über eine Stunde tobte der Kampf bei Dauerregen hin und her, Torwart Toni Turek avancierte in der legendären Reportage von Zimmermann zum "Fußball-Gott", Dann verlor Boszik, "immer wieder Boszik, der rechte Läufer der Ungarn", den Ball an den Kölner Hans Schäfer. "Schäfer nach innen geflankt, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor." Diese Passage aus Zimmermanns Reportage in der 84. Minute ist in Deutschland häufiger zitiert worden als irgendein Satz von Goethe und Schiller, denn sie machte ein ganzes Land glücklich.

Später sprachen Historiker von der "eigentlichen Gründung der Bundesrepublik Deutschland". Das mag überhöht sein. Aber der Tag von Bern brachte unheimlich viel Freude und Stolz zurück in deutsche Herzen.

Der Spielabbruch

Am 15. November 1978 kam es zu einem Novum der DFB-Historie. Ausgerechnet das Abschiedsspiel für Helmut Schön, der nach der WM in Argentinien als Bundestrainer aufhörte, muss nach 60 Minuten abgepfiffen werden – beim Stand von 0:0. Der Nebel macht ein Weiterspielen unmöglich. Da sind die ersten Zuschauer in Frankfurt schon geflohen, die Verbliebenen rufen "Aufhören". Um 21. 30 Uhr beendet der französische Schiedsrichter Robert Wurtz das Spiel, das keiner sah. Aber Helmut Schön, der Mann mit der Mütze, hat seinen verdienten Beifall noch bekommen. Die Laudatio hält Fernsehkommentator Rudi Michel. Schön erhält eine Nachbildung des WM-Pokals 1974 und geht im Triumph.

Bei den großen Turnieren war Ungarn im letzten halben Jahrhundert fast nie dabei, in eine Qualifikationsgruppe wurde man nie zusammengelost. Erst in jüngster Zeit gab es wieder Pflichtspiele:

Goretzkas Tor mit Herz

Bei der Kontinental-EM 2021, die 2020 hätte stattfinden sollen, traf man sich im letzten Gruppenspiel in München. Die Deutschen taten sich schwer und gerieten zweimal in Rückstand, schafften aber auch zweimal den Ausgleich, der das Achtelfinale letztlich ermöglichte. In Erinnerung bleibt besonders die Geste von Leon Goretzka nach seinem Tor zum 2:2 in Richtung der ungarischen Anhänger. Er formte demonstrativ ein Herz, um der Homophobie, die von dem "schwarzen Block" ausging, ein Zeichen der Toleranz entgegenzusetzen.

Sieg in Pink

Zwei Jahre später führte der Weg ins Achtelfinale bei der Heim-EM wieder über Ungarn. Diesmal wurde es schon im zweiten Spiel erreicht, in Stuttgart gewann die Nagelsmann-Elf verdient mit 2:0. Am Tag, als das rosa Trikot seine Pflichtspielpremiere feierte, trafen Jamal Musiala und Kapitän Ilkay Gündogan. Die Bild titelte: "Sieg in Pink!" Es war der erste Pflichtspielsieg seit dem Wunder von Bern und das beste Spiel von Manuel Neuer nach seinem Ski-Unfall im Winter 2022. "Neuer ist wieder Neuer!", befand das Boulevardblatt.

Nun kommt es mit einem neuen Torwart zum dritten Duell in der Nations League. Da ist die Bilanz nach den Partien 2022 im Juni in Budapest (1:1) und im September in Leipzig (0:1) noch negativ, insgesamt hat Deutschland nach 38 Duellen nun leicht die Nase vorn (14-12-12).

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