“Soll erfüllt – Zufriedenheit hält sich in Grenzen

„Soll erfüllt – die Zufriedenheit aber hält sich in Grenzen und Freude will gar nicht erst aufkommen. Deutschland nach der Vorrunde: kein überzeugendes Spiel, Kritik von allen Seiten“, moderierte der Kicker seine Vorrundenanalyse an und erkannte „10 große Fehler“. Unter anderem diagnostizierte das Fachblatt Führungsschwäche, Überforderung, Egoismus , Unordnung und „Überversorgung“ – weil die Spieler vor dem Einstieg in den Flieger von Dallas nach Chicago noch eine Ganzkörpermassage erhielten. Das sei ein typisches Beispiel für Verhätschelung. Die Kritik war zumindest kritikwürdig: Keine der 24 Mannschaften in der Vorrunde hatte mehr Punkte geholt als die deutsche. Klagen auf hohem Niveau.

Die Vorrunde überstanden alle Favoriten, dennoch war sie nicht frei von Überraschungen. In Gruppe A nahmen die Europäer die ersten Plätze ein und nicht die hitzefesteren Teams des Gastgebers und der Kolumbianer. Rumänien gewann die Gruppe überraschend vor der Schweiz, die bei einer Weltpremiere Pate stand. Das Spiel gegen die USA in Detroit war das erste, das in einer Halle stattfand. Im Silverdome herrschten unter dem größten Traglufthallendach der Welt nicht sonderlich angenehme Bedingungen, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit und 37 Grad Celsius wurden gemessen, und der Geruch von Schweiß mischte sich mit dem von Popcorn. Vakuum-Fußball im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur für die Amerikaner ganz normal.

In dieser Gruppe fand übrigens kein Spiel ohne Bundesligabeteiligung statt, alle Teams hatten Deutschland-Legionäre in ihren Reihen. Kolumbien mit Bayern-Stürmer Adolfo Valencia musste schließlich die Heimreise antreten und schrieb die traurigste Geschichte der WM-Historie: Verteidiger Andres Escobar, dem beim 1:2 gegen die USA ein Eigentor unterlaufen war, wurde nach der Rückkehr auf einem Restaurant-Parkplatz in Medellin erschossen. Die Mörder wurden nicht gefasst. Spekuliert wurde, dass sie im Auftrag eines korrupten Wettsyndikates gehandelt hätten, dem Millionen entgangen seien.

Gastgeber USA rettete sich derweil über die letztmals angewandte Regelung, dass vier der besten Gruppendritten weiterkommen, ins Achtelfinale. Das war Trainer Bora Milutinovic somit zum dritten Mal in Folge gelungen – mit drei Ländern (zuvor Mexiko und Costa Rica). Ein Hattrick der ganz besonderen Art.

WM-Torrekord von Oleg Salenko

In Gruppe B wurde Brasilien seiner Favoritenrolle gerecht und kam zu deutlichen Siegen über Russland (2:0) und Kamerun (3:0), so dass das abschließende 1:1 gegen Schweden den Gruppensieg sicherte. Am selben Tag ereignete sich im Parallelspiel der Ausgeschiedenen ein WM-Torrekord: Oleg Salenko traf beim 6:1 der Russen gegen desolate Kameruner fünfmal – das gab es noch nie in der WM-Historie. Ebenso wenig, dass ein in der Vorrunde mit seinem Team ausgeschiedener Spieler Torschützenkönig werden sollte – Salenko kam gemeinsam mit dem Bulgaren Hristo Stoitchkov auf sechs Treffer. Selbst Kameruns Ehrentor war von Bedeutung: Roger Milla avancierte dadurch zum ältesten Torschützen der WM-Historie – mit 42 Jahren und 40 Tagen tanzte er noch einmal an der Eckfahne Lambada.

Mehr erinnerte nicht an das Kamerun von 1990, die Afrikaner holten nur einen Punkt gegen Schweden (2:2), das vor allem dank des Mönchengladbachers Martin Dahlin (drei Vorrunden-Tore) weiterkam.

Die Gruppe D stand von vornherein im Schatten eines Spielers: D wie Diego Maradona. Hinterher hätte man sie auch als Doping-Gruppe bezeichnen können. Ausgerechnet der alternde Super-Star Maradona, der beim 4:0 gegen Griechenland sein letztes WM-Tor schoss, sorgte für den ersten WM-Skandal. Der Argentinier wurde nach dem 2:0 über Nigeria des Dopings überführt, auch wenn von Absicht kaum die Rede sein kann. Ein vom Teamarzt verordnetes Nasenspray enthielt die verbotene Substanz Ephedrin und kostete Maradona nach 21 WM-Spielen den Status des Rekordspielers, den er mit 22 alleine erhalten hätte. Die FIFA sperrte ihn Stunden vor dem letzten Gruppenspiel gegen Bulgarien bis auf Weiteres und schloss ihn vom Turnier aus.

Mexiko vor Irland, Italien und Norwegen - ausgeglichen wie nie

Vergeblich forderte Nigeria auch den Ausschluss Argentiniens, was in der Tat überzogen gewesen wäre. Die Argentinier waren auch so nicht mehr konkurrenzfähig und verloren quasi unter Schock gegen Bulgarien mit 0:2. Trainer Alfio Basile klagte: „Maradona ist eine unserer Hauptfiguren. Wir vermissen ihn sowohl auf dem Spielfeld als auch außerhalb. Die Dinge haben sich in 30 Sekunden geändert.“ Nur als Dritter kam der Ex-Weltmeister ins Achtelfinale, noch hinter den punktgleichen Nigerianern und Bulgaren, die 1994 im 16. Anlauf erstmals ein WM-Spiel gewannen – gegen Griechenland (4:0), das bei seiner WM-Premiere nur ein Punktelieferant war und nicht mal ein Tor schoss.

Die Gruppe E ging in die WM-Geschichte ein. Das E mag am besten für Egalité stehen, denn absolute Gleichheit zeichnete dieses Quartett aus. Jedenfalls nach Zahlen. Als Mexiko, Irland, Italien und Norwegen in dieser Reihenfolge ins Ziel einliefen, trennte sie rein gar nichts außer der Anzahl der erzielten Tore. Alle hatten sie vier Punkte und ein ausgeglichenes Torverhältnis, weshalb Mexikos 3:3 Tore zum Gruppensieg reichten und Norwegens 1:1 nur zur Heimfahrt. Bei Italien und Irland (je 2:2) half nur der direkte Vergleich, der für die Iren sprach.

In Italien hatte man sich ja schon an allerhand gewöhnt: 1970 war man mit 1:0 Toren durch die Vorrunde gegangen, 1982 mit drei Unentschieden. Stets reichte es fürs Finale – und so sollte es wieder werden, auch wenn wenig dafür sprach. Immerhin beeindruckte der Kampfgeist der Elf von Trainer Arrigo Sacchi, die Norwegen in siebzigminütiger Unterzahl bezwang. Superstar Roberto Baggio sah sich die Vorrundenspiele meist von der Bank aus an, auf der übrigens erstmals alle Reservisten sitzen durften, weil auch alle einsatzberechtigt waren. Bis 1990 hatte dies nur für 16 Spieler gegolten.

Totes Rennen in Gruppe F

In Gruppe F ereignete sich das nächste tote Rennen, nur Marokko hinkte punktlos hinterher. Aber die Niederlande, Saudi-Arabien und Belgien gewannen jeweils zwei Spiele und hatten eine Tordifferenz von plus eins. Der direkte Vergleich entschied, dass die Holländer Gruppensieger würden, obwohl sie dem Rivalen Belgien 0:1 unterlegen waren. Dick Advocaat, späterer Bundesliga-Trainer in Gladbach, schob die nicht befriedigenden Leistungen von Oranje auf die für fast alle Europäer unerträgliche Hitze: „Ich will ja keine Entschuldigung anführen, aber angesichts dieser mörderischen Temperaturen kann man nicht über 90 Minuten guten Fußball spielen.“

Am wenigsten machte das noch den Saudis etwas aus, die außer Marokko auch Belgien schlugen. So kam erstmals eine arabische Mannschaft ins Achtelfinale, in dem noch alle Kontinente vertreten waren – von Ozeanien abgesehen, das ohnehin nicht am Start gewesen war.

Bestes WM-Spiel im Achtelfinale: 3:2 gegen Belgien

Ob es nun am Wetter lag oder doch eher am reinigenden Gewitter im deutschen Lager nach dem Effenberg-Zwangsabschied – der Weltmeister bot jedenfalls am 2. Juli in Dallas bei milden 17 Grad und ungewohnt starkem Wind seine mit Abstand beste WM-Leistung. Gegen die Belgier (3:2) hatte Vogts umgestellt: Thomas Helmer, Martin Wagner und Rudi Völler standen erstmals in der Startelf, aus der neben Effenberg auch Brehme und Riedle verschwunden waren. Möller sah schon länger zu. Brehme kam nach der Pause für den angeschlagenen Matthäus noch ins Spiel, aber da war schon fast alles gelaufen.

Wie entfesselt hatte die Elf kombiniert, und wieder fielen ausnahmslos Stürmer-Tore. Völler traf zum 1:0 und zum 3:1, Klinsmann schoss das 2:1. ARD-Reporter Gerd Rubenbauer witzelte nach Klinsmanns fünftem WM-Tor: „Das Soldier Field werden sie bald Klinsi-Field nennen.“ Nun, so weit kam es nicht, aber Klinsmanns Leistung in Amerika und insbesondere an diesem, Tag war aller Ehren wert. Der Kicker gab ihm eine 1,5, nur Häßler und Völler erhielten eine noch bessere Note (1). Klinsmann gab zu Protokoll: „Uns überflutete auf einmal eine Welle der Kritik. Dazu kam die Sache mit Effenberg. Es herrschte ein kleines Chaos. Doch auf extremen Druck haben wir wieder einmal extrem gut reagiert.“

Der Mythos der Turniermannschaft lebte fort, wieder schien sich eine deutsche Elf steigern zu können, wenn es darauf ankommen würde. Belgiens Torschütze zum Endstand, Philippe Albert, sagte, was wohl die ganze Welt dachte nach dieser Demonstration der Stärke: „So können die Deutschen wieder Weltmeister werden.“

Clinton: „USA ist stolz auf ihre Mannschaft“

Auch Franz Beckenbauer, als TV-Experte allgegenwärtig im deutschen Lager, prophezeite: „New York wird mit zwei Spielen nur eine Zwischenstation sein. Die Endstation heißt Los Angeles – das Finale.“ Nach den Deutschen zogen sechs weitere Europäer ins Viertelfinale ein. Nur Brasilien vertrat den Rest der Welt und eliminierte den Gastgeber USA erbarmungslos und doch glücklich mit 1:0. Dass es ausgerechnet am amerikanischen Nationalfeiertag, dem 4. Juli, geschehen musste, machte das frühe Aus des Gastgebers noch etwas schmerzlicher.

Selbst eine Überzahl über eine komplette Halbzeit (Rot für Leandro) konnten die US-Boys nicht nutzen. Bebeto ließ in der 73. Minute den amerikanischen Traum platzen. Was blieb nach einjähriger Vorbereitung auf das Großereignis, war Stolz. „Die USA ist stolz auf ihre Mannschaft“, sagte Bill Clinton, und Verbandspräsident Alan Rothenberg bewies seherische Fähigkeiten, als er in der US-Kabine sagte: „Ihr habt gegen den neuen Weltmeister verloren.“

Darauf redeten sich die Schweizer nicht heraus, als sie von Spanien mit 0:3 bezwungen worden waren. Eher haderten die Herren Sforza, Chapuisat und Co. mit dem Schiedsrichter wegen eines vermeintlichen Abseitstores - und mit der eigenen Unfähigkeit im Angriff. Immerhin blieb den Eidgenossen der Trost, zuvor erstmals nach 40 Jahren wieder ein WM-Spiel gewonnen zu haben – beim 4:1 in der Vorrunde über Rumänien. Spanien feierte derweil seinen Torwart Zubizaretta und den Doppel-Torschützen Carminero und träumte vom ersten Halbfinaleinzug seiner Historie.

Dahlin trifft weiter für Schweden

Die Schweden beendeten in Dallas humorlos das orientalische Märchen und schickten die Saudis nach Hause. Martin Dahlin war wieder unter den Torschützen. Die Araber freuten sich über das Lob ihres Königs Fahd, der sie persönlich zu empfangen versprach. Stürmer Owairan sagte gerührt: „Wir haben unser Land durch unsere Spiele geehrt. König Fahd ist sehr stolz auf uns.“ Ihr Trainer Jorge Solari verwies vor der Presse darauf, dass „wir eben erst mit dem Profifußball begonnen haben“ und kündigte weitere Großtaten an.

Im dramatischsten Spiel des Achtelfinales erwischte es mit Argentinien den ersten Topfavoriten, der Maradonas Sperre noch immer nicht verwunden hatte. Gegen entfesselte Rumänen unterlagen sie mit 2:3 und der neue WM-Star, den dieser Tag in Los Angeles gebar, war auch ein kleiner Mann mit einem begnadeten linken Fuß. Gheorge Hagi wurde nicht von ungefähr „Karpaten-Maradona“ genannt. Nach Dumitrescus Doppelschlag erzielte er das entscheidende 3:1, das Argentinien die Heimfahrt bescherte. „Maradonas Sperre hat unsere Moral gebrochen“, sagte Mitspieler Redondo, und Trainer Alfio Basile ergänzte: „Ohne Maradona konnten wir nicht gewinnen.“ Sein Kollege Anghel Iordanescu fand ebenfalls bedeutungsschwere Worte: „Das ist das größte Ereignis, das die Leute zu Hause seit der Revolution zu feiern hatten.“

Weit erwartungsgemäßer verlief die Partie in Orlando, wo die Niederlande Irland ausschalteten (2:0). Erstmals seit 1978 waren die Holländer zur Freude von 15.000 Schlachtenbummlern wieder in einem Viertelfinale, und das verdankten sie nicht unwesentlich dem armen Pat Bonner im Tor der Iren. War er gegen Bergkamps 1:0 noch machtlos, so ließ er einen harmlosen 20-Meter-Roller von Jonk noch vor der Pause zum Endstand ins Tor. „Ich bin der Dummkopf der Nation. So ein Fehler ist mir noch nie passiert. Ich entschuldige mich bei unseren tollen Fans für die Niederlage“, sagte Bonner geknickt. Trainer Jacky Charlton linderte dessen Schmerzen nicht gerade: „Solche Fehler machen mir Albträume.“