Packende Duelle im Achtelfinale

Die beiden letzten Achtelfinalpartien vom 5. Juli waren nichts für schwache Nerven. Das große Italien lag bis zur 88. Minute gegen Nigeria zurück und wurde dann von Roberto Baggio gerettet, dem in der Verlängerung auch das erlösende 2:1 gelang. Das führte zu Übermut beim Edel-Reservisten: „Ich glaube, ich bin einer der besten Stürmer auf der Welt.“ Trainer Sacchi sah sich bestätigt: „Er hat ein großes Spiel gezeigt und sich aus der Krise geschossen.“ Den Kritikern schrieb er ins Stammbuch: „Wir sind bei dieser WM unterbewertet worden. Heute aber haben wir gezeigt, dass wir ein echtes Team sind.“ Mit Nigeria verabschiedete sich der letzte Exot aus den USA.

In New York mussten mit Mexiko und Bulgarien erstmals zwei Mannschaften bei dieser WM ins Elfmeterschießen. 71.030 Zuschauer standen zwar mehrheitlich auf der Seite Mexikos, doch die Bulgaren hatten die besseren Nerven. Wie 1986 im eigenen Land gegen Deutschland verwandelte Mexiko nur einen von vier Elfmetern, und Bulgarien feierte seinen Elfmetertöter Boris Michailow, der zwei Bälle hielt. Damit qualifizierten sich die Männer um Superstar Stoitchkov für das Viertelfinale gegen Deutschland an selber Stelle. Es fand am 10. Juli statt und markierte einen Tiefpunkt deutscher WM-Geschichte.

Viertelfinal-Aus trotz Führung gegen Bulgarien

Alle Hoffnungen, die die gegen Belgien starke und so hochkarätig besetzte Mannschaft geweckt hatte, wurden an diesem Sonntagnachmittag zu Grabe getragen. Nach torloser, aber guter erster Hälfte ging der Weltmeister vor über 75.000 Zuschauern sogar in Führung: Matthäus verwandelte einen Elfmeter nach Foul an Klinsmann (49.). Danach traf der für Sammer nachgerückte Möller nur den Pfosten – und der Abpraller wurde von Völler zwar verwertet, aber wegen Abseits aberkannt.

Statt 2:0 hieß es fünf Minuten später 1:2. Zunächst verwandelte Stoitchkov einen von Pechvogel Möller verschuldeten Freistoß, bei dem Illgner stehen blieb. Kurz darauf wurde ausgerechnet der kleinste Deutsche, Thomas Häßler, in ein Kopfballduell mit dem HSV-Profi Yordan Letchkov genötigt. Er verlor es prompt und Deutschland das Spiel, denn Letchkov hechtete den Ball ins Tor, weshalb Tage später in Leserbriefen sein Rauswurf beim HSV gefordert wurde.

Auf der deutschen Bank herrschte Panik: Verteidiger Brehme wollte nicht eingewechselt werden und bat Vogts, doch lieber einen Stürmer wie Riedle zu bringen, doch der Bundestrainer setzte sich durch. Es fiel aber kein Tor mehr in den letzten elf Minuten. Somit war Deutschland erstmals seit 1978 nicht unter den besten Vier gelandet, und der DFB musste den Rückflug, der erst für den Tag nach dem Finale vorgesehen war, um sechs Tage vordatieren.

Eine der unnötigsten Niederlagen deutscher WM-Geschichte

Die Enttäuschung war auch deshalb so groß, weil es eine komplett unnötige Niederlage gewesen war. „Nach dem 1:0 waren die Bulgaren platt, aber wir haben vergessen, das zweite Tor zu schießen. Aus zwei Chancen haben die dann die entscheidenden Treffer erzielt“, sagte Lothar Matthäus. Wie Maradona war es auch ihm nun vorerst nicht vergönnt, WM-Rekordspieler zu werden, ebenfalls blieb er bei 21 Spielen stehen.

Nun begann das große Abschiednehmen: Fünf Spieler (Völler, Brehme, Buchwald, Effenberg und Illgner) traten aus der Nationalmannschaft zurück, Bodo Illgner noch in der Kabine des Giants-Stadium. Berti Vogts kam es wohl gelegen, hatte er doch schon analysiert: „Der einzige Fehler war, dass ich mich gegen Andreas Köpke entschieden habe. Dafür habe ich mich bei ihm entschuldigt.“ Lothar Matthäus äußerte sich enttäuscht darüber, dass Vogts ihm während der WM das Vertrauen entzogen habe.

Durch die Kritik, die von vielen Medien auf Vogts einprasselte, ließ sich der zähe Weltklasseverteidiger von einst nicht unterkriegen, und mit ihm trotzte ihr DFB-Präsident Egidius Braun: „Es ist keine Götterdämmerung, sondern ein Aufbruch zu neuen Ufern.“ Dazu brauchte er Vogts. Der blieb - und wurde 1996 prompt in England Europameister.

Brasilianisches Sturmduo verzaubert die Fans

Weltmeister 1994 aber musste ein anderes Land werden, und nach dem Viertelfinale gab es einen echten Topfavoriten. Brasilien besiegte im besten Spiel dieser WM in Dallas die Niederländer mit 3:2 (0:0). Das neue Sturmduo Romario/Bebeto, das vor kurzem noch nicht einmal im Flieger nebeneinander sitzen wollte, harmonierte prächtig und sorgte nach 62 Minuten für eine 2:0-Führung, nach der alles gelaufen schien. Aber Bergkamp und Winter schossen binnen zwölf Minuten zwei Tore.

Doch die Selecao von Trainer Carlos Alberto Parreira erholte sich von diesem Schock. Wie eigentlich bei jeder WM hatte Brasilien wieder einen begnadeten Freistoßschützen in seinen Reihen – und jener Branco genoss seinen 25-Meter-Treffer vollmundig. Er gab seinem Tor, wie das in Brasilien angeblich so üblich ist, einen Namen, den seine Kritiker wohl am besten verstanden. Das „Haltet das Maul-Tor“, im Original „Cala Boca“ stürzte Brasilien in Euphorie. „Wir haben den Holländern heute eine Lehrstunde erteilt, das war Fußballkunst in Perfektion“, jubelte Romario. Für die Holländer galt: raus mit Applaus! „Wir haben uns hier gut verkauft, nur gegen ein Weltklasseteam unglücklich verloren“, bilanzierte Dick Advocaat den USA-Trip.

Die anderen Partien konnten nicht ganz mithalten, aber auch hier gab es Dramen mit Helden und Versagern. Italien demonstrierte gegen Spanien erneut, dass es eine Turniermannschaft ist, die auch an schwächeren Tagen zum Erfolg kommen kann – wann auch immer. Wie gegen Nigeria hatte Roberto Baggio in der 88. Minute seinen großen Auftritt. Diesmal war es das Siegtor zum 2:1. Überschattet wurde Italiens Erfolg von einer Brutalität, die sich Mauro Tassotti leistete. Vom Schiedsrichter unbemerkt, brach er Luis Enrique mit einem Ellenbogenschlag die Nase. TV-Bilder überführten ihn, und erstmals wurde ein WM-Spieler auf dieser Grundlage verurteilt – zu einer Sperre von acht Spielen.

Für die Squadra Azzura ging das Turnier ohne Tassotti weiter, für Spanien gar nicht. Die iberische Auswahl musste damit leben, das Gegenteil Italiens zu sein – eben keine Turniermannschaft. Torschütze Caminero war kaum zu trösten: „Ich bin hierher gefahren, um Weltmeister zu werden!“

Schweden marschiert weiter

Diesen Anspruch hatte die schwedische Mannschaft mit Sicherheit nicht, aber am Abend des 10. Juli 1994 war sie plötzlich eine der vier besten auf der Welt. In einem Drama mit teils zähem Vorlauf kickte sie die Rumänen vom Elfmeterpunkt aus dem Turnier. Nach 90 Minuten stand es 1:1, nach 120 Minuten 2:2, jede Mannschaft hatte einmal geführt. Die Schweden, die die letzten 18 Minuten in Unterzahl überstanden, hatten letztlich die besseren Nerven und in Thomas Ravelli den besseren Torwart. Er hielt in seinem 115. Länderspiel zwei Elfmeter und veranlasste Rumänen-Coach Iordanescu zu markigen Worten: „Ein Elfmeterschießen ist kein Makel, sondern Schicksal. Fußball kennt keine Gnade.“

Oder keinen Schönheitspreis. Eine der spielerisch besten Mannschaften des Turniers musste nun die Koffer packen und einem kampfstärkerenen Team den Vortritt lassen. Schwedens Trainer Tommy Svensson blickte mutig voraus: „Wir glauben immer an uns. Die Mannschaft hat Charakter und deshalb wird sie auch Brasilien Paroli bieten.“ Schwedens Kommunalbehörden wurden in den drei Tagen bis zum Halbfinale mit Anträgen von Gastwirten überhäuft. Alle wollten sie dasselbe: die Aufhebung der Sperrstunde, denn das Spiel gegen Brasilien, dem die Nation entgegenfieberte, begann um 1.30 Uhr nach mitteleuropäischer Zeit.

Baggio macht den Unterschied

Zuvor ermittelten in New York Bulgarien und Italien den ersten Finalisten. Noch nie war eine bulgarische Mannschaft so weit gekommen, die Begeisterung in dem Balkan-Staat war unbeschreiblich. Nach dem Sieg über die Deutschen feierten in Plovdiv Tausende die Eltern des Nationalheldes Hristo Stoitchkov und belagerten das Haus, in dem der Superstar aufgewachsen war. Für die Mutter war es zu viel, sie kollabierte und kam ins Krankenhaus. Zum Halbfinale reiste Staatspräsident Schelju Schelew höchstselbst an und brachte den Spielern CDs mit Volksmusik mit. Nach der Partie wagte er sich in die Kabine und sagte: „Diese Mannschaft hat mehr für ihr Land getan als je ein Bulgare zuvor.“

Und doch hatte sie verloren, weil Italien einen Roberto Baggio in seinen Reihen wusste. Wie 1982 Paolo Rossi zeichnete er nach der Vorrunde für fast alle Tore verantwortlich und stockte sein WM-Konto auf fünf Tore auf. Diesmal präferierte er eine frühe Entscheidung und hatte sein Werk schon nach 25 Minuten getan. Da stand es 2:0, was gegen Italien seit jeher im Grunde fast unaufholbar ist. Die Bulgaren aber kamen durch Stoitchkovs Elfmeter noch vor der Pause heran. Weil der französische Schiedsrichter Quiniou nicht einen zweiten Elfmeter gab bei Costacurtas vermeintlichem Handspiel, blieb es beim 2:1. Bulgarien schied in Ehren aus, Italien erreichte sein fünftes WM-Finale. Wie so oft schmucklos, aber effizient und taktisch höchst diszipliniert.

Attribute, die man im Zusammenhang mit Brasilien eher selten gehört hat und auch 1994 nicht. Es war die Mischung aus im Grunde gegensätzlichen Mentalitäten, die Brasilien ins Finale und letztlich auch ans Ziel brachte. „In der Vergangenheit haben wir viel von den Europäern gelernt, vor allem den Kampf und die Geschlossenheit. Wir haben aber niemals vergessen, dass die Technik das Herz des brasilianischen Fußballs ist“, philosophierte Stürmerstar Romario, nach dem er selbst das Tor zum Finale geöffnet hatte. Sein Treffer in der 81. Minute entschied das schwache Halbfinale mit den wackeren Schweden, das sehr einseitig verlief. Nach Chancen hätte es laut Kicker-Statistik 11:0 für Brasilien enden können, Schweden suchte sein Heil nur in der Defensive und fand es nicht.

Schweden wird verdienter Dritter

Nun hatte die WM ihr Traum-Finale. Mit Brasilien und Italien trafen zwei Länder aufeinander, die jeweils dreimal Weltmeister geworden waren - einer würde neuer Rekordtitelträger werden.

Am Vortag des Endspiels schossen sich die Schweden den Frust von der Seele und demontierten bereits in Urlaubsstimmung befindliche Bulgaren mit 4:0 – so stand es bereits nach 40 Minuten. Trainer Svensson strahlte: „Das ist der größte Erfolg des schwedischen Fußballs überhaupt. Es ist mehr als der zweite Platz 1958, weil seitdem die Konkurrenz viel stärker war.“ Auch dieses Spiel zweier in den USA nicht sonderlich populärer Mannschaften verfolgten in Los Angeles 83.716 Menschen. Fußball und Amerika – doch eine gute Mixtur?

Endspiel bleibt hinter den Erwartungen zurück

Am 17. Juli war dasselbe Stadion dann mit 94.949 Zuschauern restlos ausverkauft. Die Erwartungen waren riesengroß, und die ganze Welt schaute zu. Deutschland hätte gerne auf dem Feld gestanden, aber nur die deutschen Journalisten schafften es in einem Parallelturnier so weit und schlugen im Pressefinale Spanien souverän mit 5:0. Immerhin vertraten die Brasilianer Jorginho (beim FC Bayern) und Kapitän Carlos Dunga (VfB Stuttgart) die Bundesliga. Leider machte ausgerechnet das 52. und letzte Spiel des Turniers so gar keine Werbung für den Fußball: Es war das einzige torlose dieser WM, bei der 2,7 Treffer im Schnitt gefallen waren – und damit mehr als in den drei Turnieren zuvor.

Nur für Taktikfreunde wurde allerhand geboten, es war ein Lehrbeispiel für die hohe Kunst der Neutralisierung des Gegners. Der Kicker gab den ereignislosen zwei Stunden Rasenschach die Note mangelhaft und schrieb von einem „Fehlpass-Festival“. Nach dessen Ende dennoch eine richtige Feier stieg – in Rio de Janeiro, an der Copacabana und wo immer sonst die Freunde der Samba-Fußballer lebten.

Im ersten Elfmeterschießen in einem WM-Finale versagten drei Italienern die Nerven: Der Routinier Baresi verschoss wie Brasiliens Marcio Santos gleich den ersten Ball, Massaro scheiterte danach an Taffarel – und als Roberto Baggio unbedingt treffen musste, bekam er das Zittern und schoss über das Tor. Ausgerechnet Baggio, dessen Tore Italien erst ins Endspiel gebracht hatten.

Brasilien – ein würdiger Weltmeister

Baggios Trainer Sacchi sagte: „Es muss einen Weltmeister durch Elfmeterschießen geben, sonst gäbe es ein ewiges Unentschieden.“ Die internationale Kritik war sich einig: Diese WM hätte ein besseres Endspiel verdient gehabt, aber sie bekam mit Brasilien wenigstens einen würdigen Weltmeister.

Im Kicker drehte Chefredakteur Karl-Heinz Heimann noch einmal den Scheinwerfer auf diese mit so viel Skepsis begrüßte WM. „Das Turnier war ein geradezu überwältigender Erfolg für den Fußball. Die Stimmung in den Stadien war riesig, die befürchteten Krawalle blieben ganz aus. Das Agieren der Polizei- und Sicherheitskräfte fand ich ausgesprochen zurückhaltend. So manches Vorurteil über Amerika und die Amerikaner musste man revidieren.“