Jugoslawien siegt dank Stojkovic

Das Achtelfinale komplettierte das Hitzespiel von Bologna zwischen Spanien und Jugoslawien, das bei 40 Grad ausgetragen wurde und noch in die Verlängerung musste. Dagegen hatten die Zuschauer nichts, sie sahen ein erfreulich attraktives Spiel. Jugoslawien stand nach dem 1:0 von Stojkovic schon dicht vor dem Sieg, doch nach Salinas' Ausgleich in der 84. Minute ging es in die Verlängerung. Wieder schoss Kunstschütze Stojkovic ein herrliches Tor, sein Freistoß bugsierte Spanien aus dem Turnier.

Im Viertelfinale standen nun sechs Europäer, Argentinien und Kamerun. In den beiden Spielen am 30. Juni fiel nur ein Tor und der Schütze wurde hymnisch gefeiert. „Schillacissimo“ titelte die Gazetta dello Sport nach Italiens 1:0 über tapfere Iren und dem vierten WM-Tor von Toto Schillaci. Erstmals wurden bei dieser WM Computer eingesetzt, die die Schussgeschwindigkeit maßen. Hinter Donadonis Schuss steckten 92 km/h, und der arme Pat Bonner im Tor der von 15.000 Fans unterstützten Iren konnte ihn nicht festhalten, so dass Schillaci dankbar abstauben durfte. Italien war nun auf Titelkurs, hatte als einziges Team alle fünf Spiele gewonnen und die Abwehr um die Recken Bergomi und Baresi hatte wieder kein Tor zugelassen. Trainer Vicini sagte dennoch: „Es tut mir leid, dass die Ergebnisse nicht deutlicher ausgefallen sind.“

Goycoechea wird zum Elfmeter-Töter

Argentinien und Jugoslawien landeten nach torlosen 120 Minuten im Elfmeterschießen. Obwohl der große Maradona, von Verletzungen geplagt, sogar kläglich verschoss, jubelte letztlich Argentinien, das zuvor eine neunzigminütige Überzahl nicht ausnutzen konnte. Es brauchte einen überragenden Ersatztorwart namens Sergio Goycoechea, der zwei Elfmeter hielt und Jugoslawien weinen ließ.

Am 1. Juli bekamen die Fans in aller Welt besseren Fußball zu sehen. Obwohl Franz Beckenbauer an diesem Tag zum ersten Mal bei dieser WM aus der Haut fuhr. Gegen die Tschechen verlief auch das fünfte Spiel in Mailand lange nach Plan – jedenfalls als Lothar Matthäus in der 24. Minute einen an Klinsmann verursachten Elfmeter verwandelte. Auch die Umstellungen – Bein kam wieder zurück (für Reuter) und Karl-Heinz Riedle vertrat Völler – störten den Spielfluss nicht. Aber als die Tschechen in der letzten halben Stunde in Unterzahl gerieten, weil Moravcik der Schuh weggeflogen war und das als Attentat auf Littbarski gewertet wurde, schlich sich der Schlendrian ein. Die Mannschaft vermied es, den entscheidenden Stich zu setzen.

Der Kaiser grollt

„Ich habe immer gedacht, ich hätte eine intelligente Mannschaft. Aber die habe ich nicht“, grollte der Kaiser. Kurz danach hatte er sich wieder gefangen, sprach von der besten DFB-Mannschaft, die je bei einem Turnier gewesen sei und dass man „bis zum Platzverweis erkennen konnte, dass wir wie ein WM-Favorit gespielt haben“. Die Heimat war beruhigt, die Spieler aber waren sensibilisiert. Noch mal musste das nicht unbedingt gut gehen.

Im Halbfinale war volle Konzentration angesagt. Dort wartete der alte Rivale England, der sich im besten Viertelfinalspiel gegen Kamerun durchsetzte. In der Verlängerung, nach Rückstand, mit Glück und mit Lineker. 3:2 hieß es für England und Kamerun, dass sich zwischen der 65. und 82. Minute nach Ekekes 2:1 im Halbfinale wähnte, genoss den Beifall für einen großen Kampf und vergab leichtfertig die Entscheidung. „Fünf Minuten nur fehlten ihnen noch, doch sie tanzten in die Niederlage“, heißt es im offiziellen FIFA-Abschlussbericht zur WM 1990. Kamerun ging hoch erhobenen Hauptes, und Roger Milla verhieß: „Das war erst der Anfang einer großen Zukunft. Afrikas Fußball schickt sich an, den Großen in Europa und Südamerika den Kampf anzusagen.“

Gastgeber Italien: Aus im Halbfinale

Die Halbfinals machten eine Neuauflage des Endspiels von 1986 möglich, aber niemand glaubte daran. Wie sollte Argentinien die Italiener im eigenen Land schlagen? Am 3. Juli bewiesen sie es. Ausgerechnet in Neapel, wo sie Maradona glühend verehrten, platzte der große Traum Italiens. Eines Italiens, das wieder mal ein frühes Schillaci-Tor bejubelte. Aber es kassierte erstmals ein Gegentor, und dieser Hinterkopftreffer Caniggias nach Zengas einzigem Fehler nach insgesamt 999 Ländespiel-Minuten ohne Gegentor führte die Kontrahenten letztlich in die Elfmeter-Lotterie.

Und wieder bewies Sergio Goycoechea seine außergewöhnlichen Fähigkeiten als Elfmetertöter. Er hielt die Schüsse von Serena und Donadoni, der am nächsten Tag als Sinnbild der Katastrophe am Boden kauernd auf einer ganzen Seite der Gazetta dello Sport zu besichtigen war. „Italia Nooo“, schrie das Blatt auf und mit ihm ein ganzes Volk, „verdammte Elfmeter!“

Diegos Tor für die Töchter

Argentinien genoss seine Unbesiegbarkeit und Diego Maradona fand wieder pathetische Worte. „Es war der Wille Argentiniens, der den Sieg ermöglichte.“ Vor seinem Elfmeter habe er große Angst gehabt, weil Zenga ihn ja aus der italienischen Liga kenne, „aber dann habe ich nur an meine Töchter gedacht. Ihnen habe ich das Tor geschenkt.“ Erstmals war ein Land durch zwei Elfmeterschießen ins WM-Endspiel gekommen.

Auch der andere Finalist musste durch dieses Nadelöhr. Am 4. Juli trafen in Turin Deutschland und England aufeinander und konnten alte Rechnungen begleichen. Erstmals spielten die Deutschen nicht in Mailand, was sie ja anstrebten, denn ihr Weg sollte nach Rom führen. Und erstmals trugen sie grüne Hoffnungs-Hemden. Wieder gab es eine andere Aufstellung, das Tschechen-Spiel war doch nicht ohne Folgen geblieben. Beckenbauer gab unerwartet Olaf Thon eine Chance im Mittelfeld, der erst vier Minuten gespielt hatte. Auch Häßler kam zurück, nun saßen die Konkurrenten Bein und Littbarski nicht mal auf der Bank.

Dramatisches Spiel gegen England

Rudi Völlers Sperre war abgelaufen, sein Comeback war nur logisch. Und doch bald wieder zu Ende, nach 38 Minuten musste er verletzt ausgewechselt werden, Riedle löste ihn ab. Die Partie wogte hin und her und verdiente sich Bestnoten. Nach 60 Minuten ging Deutschland durch einen abgefälschten Brehme-Freistoß in Führung, Weltrekordspieler Peter Shilton in seinem 124. Länderspiel sah unglücklich dabei aus und war doch chancenlos.

England aber gab nicht auf und profitierte von einem Missverständnis zwischen Bodo Illgner und Klaus Augenthaler. „Torwart, wo bist Du?“, rief ZDF-Reporter Dieter Kürten Illgner noch zu, doch es half nichts: Gary Lineker erzielte mit seinem vierten Turnier-Tor den verdienten Ausgleich. In der Verlängerung trafen beide Teams den Pfosten, aber keiner ins Tor. Es kam zum vierten Elfmeterschießen dieser WM. Eine Disziplin, die spätestens ab diesem Abend zur deutschen Domäne und zum fast unheilbaren englischen Leiden wurde.

Illgner hält gegen Pearce, Waddle schießt drüber

Während vier Deutsche verwandelten (Brehme, Matthäus Riedle, Thon), scheiterte Stuart Pearce an Bodo Illgner, der erstmals in diesem Turnier beschäftigt worden war. Für Chris Waddle war der Druck vor dem fünften englischen Elfmeter zu groß, er schoss über die Latte und ersparte Thomas Berthold einen Nervenkrimi. Es war vollbracht, zum dritten Mal in Folge und zum sechsten Mal überhaupt stand Deutschland im Finale.

Die Bild-Zeitung titelte angesichts der starken Leistung: „Wir lieben diese Elf!“. Die jetzt den Titel heim holen und Revanche an Argentinien nehmen sollte. Am Vortag des Finales tröstete sich Italien noch mit dem dritten Platz und Toto Schillaci dank eines verwandelten Elfmeters zum 2:1 über England mit der Torjägerkrone. Wenigstens ein Titel für Italien, das 50.000 Zuschauern in Bari eine passable Abschiedsvorstellung bot. Sogar ein Feuerwerk wurde entzündet, als Engländer und Italiener Arm in Arm eine Ehrenrunde liefen.

Deutschland klarer Favorit im Finale

Dann kam der 8. Juli 1990. Dieser Tag sollte das einseitigste Finale der WM-Geschichte sehen. Die Vorzeichen ähnelten denen von 1986, nur umgekehrt. Damals war Deutschland glanzlos ins Finale eingedrungen, und Argentinien hatte begeistert. Beckenbauers Elf also war Favorit im Kampf von Rom. Er entschied sich im Mittelfeld für das Kölner Duo Littbarski/Häßler. Häßler erfuhr Dankbarkeit für sein Tor gegen Wales, wie Beckenbauer später zugab. Es war kein Fehler. Alle spielten sie gut an diesem Tag. Illgner musste nur einen gefährlichen Ball halten, es war eine hohe Rückgabe von Brehme.

Beckenbauer sagte: „Wir haben Argentinien an die Wand gespielt, die hatten in 90 Minuten keine Torchance.“ Die Deutschen umso mehr. Selbst die Verteidiger stürmten, Berthold köpfte knapp drüber, Libero Augenthaler wurde im Strafraum gelegt, der Elfmeter-Pfiff blieb aber aus. Buchwald schaltete Maradona aus und fand ebenfalls noch Zeit zum Stürmen. Nach 85 langen Minuten aber kam er doch. Die Argentinier, zu diesem Zeitpunkt schon zu zehnt und am Ende gar zu neunt – nach Platzverweisen für Monzon und Dezotti – brachten Völler im Strafraum zu Fall.

Brehme verwandelt souverän

Beckenbauer sagte süffisant: „Da hat der Rudi ein wenig nachgeholfen“, und der ARD-Reporter Gerd Rubenbauer fand das Foul an Augenthaler weit schlimmer. Aber sie nahmen das Geschenk von Schiedsrichter Mendez aus Mexiko gerne an. Lothar Matthäus allerdings verweigert den Dienst vom Kreidepunkt, er spielt mit neuen Schuhen und fühlt sich unsicher. In der Pause waren ein Stollen und die Sohle des rechten Schuhs gebrochen. Der Schuh war übrigens ein Geschenk seines Freundes Diego Maradona, der nun auf der anderen Seite stand.

Andy Brehme übernahm die Aufgabe, Deutschland zum dritten WM-Titel zu schießen. Er wurde nervös, weil der Ball erst nach zwei Minuten parat lag, aber das merkte dem Inter-Legionär aus Hamburg keiner an. Zentimeter neben dem Pfosten landete der Flachschuss im argentinischen Tor. Ein Schuss für die Ewigkeit. Noch heute wird ihm zugerufen: „Andy, unten links!“

Die letzten Minuten überstand die Mannschaft wie im Rausch, auf den Rängen wurde schon gefeiert. Dann, um 21.50 Uhr, pfiff Senor Mendez ab. Um 22.03 Uhr erhielt Lothar Matthäus, der überragende Spieler dieser WM, den Weltpokal aus den Händen des italienischen Staatspräsidenten Cossiga. Der Bundeskanzler Helmut Kohl, der in Mexiko noch tröstende Worte finden musste, durfte nun in der Kabine Glückwünsche aussprechen.

Beckenbauers leise Freude

Nur einer war in der Lage, sich still zu freuen. Das Bild vom einsam entrückten Franz Beckenbauer, der mit der Goldmedaille um den Hals über den Platz spazierte, über ihm ein strahlender Vollmond und ein aufsteigendes Flugzeug, ging um die Welt. Lichtgestalt hat man ihn irgendwann später genannt, vielleicht sogar wegen dieses Moments der Besinnung im Mondlicht.

Am nächsten Morgen lachte dann auch die Sonne über Deutschland, als die Weltmeister am Römer empfangen wurden. Nach durchfeierter Nacht waren nicht mehr alle bei Stimme, aber bester Laune. Sie ließen sich die Freude über das Erreichte nicht vermiesen durch die Stimmen aus dem Ausland, die auf dem umstrittenen Elfmeter herumritten und auch das Niveau des Finales kritisierten. L’Equipe aus Frankreich schrieb: „Die Bundesrepublik hätte besseres verdient. Die beste Mannschaft hat die Mondiale 90 gewonnen, aber das Finale hat das Ansehen eines enttäuschenden Wettkampfes nicht wieder angehoben.“ Nie fielen weniger Tore pro Spiel (2,21), nie gab es mehr Platzverweise (16). Aber nur selten gab es einen Weltmeister, der es so sehr verdient hatte wie die Deutschen anno 1990.