Österreich nach Vorrunde draußen

Die Tschechen konnten es verkraften: Sie und Italien standen schon als Achtelfinalisten fest. Ihr Trainer Dr. Josef Venglos hatte nach dem triumphalen 5:1 über die Amerikaner die Erwartungen dämpfen müssen: „Wir sind kein Eilzug, aber wir wissen, wo wir hinwollen.“ Dabei halfen auch zwei Spieler von Bundesligist FC St. Pauli, Jan Kocian und Ivo Knoflicek. Österreich dagegen musste wie die USA die Heimreise antreten.

In der Gruppe C setzte sich erwartungsgemäß Brasilien durch, aber das Wie ließ die Experten aufhorchen. Drei knappe Siege über Schweden (2:1), Costa Rica und Schottland (je 1:0) stellten die Heimat nicht zufrieden. Pelé sagte: „Man hat den Eindruck, Brasilien habe Angst. Das sind die Leute nicht gewohnt.“ Was aber waren die Sorgen der Brasilianer gegen die der Schotten? Die ewigen WM-Pechvögel fuhren auch nach ihrer sechsten Vorrunde heim – als einer von zwei Dritten, die im Quervergleich mit den anderen fünf Gruppen zu wenige Punkte hatten. Und mit ihnen die Schweden, die sogar sämtliche Spiele verloren.

Noch ein Außenseiter glänzt: Costa Rica

Dagegen konnte Costa Rica sein Glück kaum fassen: Gleich bei ihrer ersten WM-Teilnahme waren die Mittelamerikaner als Gruppenzweiter mit zwei Siegen ins Achtelfinale gekommen. Trainer-Weltenbummler Bora Milutinovic, der 1986 noch Mexiko ins Viertelfinale geführt hatte, machte es möglich. Damit waren die Reisepläne Makulatur, am 23. Juni sollte der Flieger eigentlich nach San José steigen. Nun sorgten sich die Spieler, fast alles Amateure, um ihre Arbeitsplätze, denn länger hatte keiner Urlaub eingereicht. Nur Volksheld Juan Cayasso, der Mann, der die Schotten abschoss, sah es entspannter: Der spätere Profi der Stuttgarter Kickers war selbständig – als Barbesitzer.

Weitere Sensationen brachte die Vorrunde nicht. Es sei denn, man betrachtet die Zahlenspiele der Gruppe F als sensationell. Fünf der sechs Duelle endeten Remis und brachten nur sieben Tore hervor. Englands 1:0 über Ägypten war der höchste, weil einzige Sieg in den Hitzeschlachten auf Sizilien. Den zweiten Platz nahmen die Iren und Europameister Niederlande gemeinsam ein, und weil der Spielplan dies nicht vorsah, musste der Dritte, also Gegner der deutschen Mannschaft, per Los ermittelt werden. Es fiel auf den alten Rivalen, der schon in der Qualifikation in der deutschen Gruppe gewesen war.

„Die Europäer sehen aus wie Wassertropfen"

In Gruppe E setzte sich Europa durch: Spanien und Belgien belegten die ersten beiden Plätze. Uruguay lief als Dritter ein, und Südkorea war nur ein einziges Tor vergönnt. Die Begründung der Asiaten für ihr erneut unbefriedigendes Abschneiden ist übrigens unbedingt erwähnenswert. Trainer Hoe-Taik Lee sagte: „Die Europäer sehen aus wie Wassertropfen – alle gleich.“

Das ist offenbar eine Frage der Perspektive. Jedenfalls spielten sie nicht alle gleich. Und keiner spielte in der Vorrunde besser als die deutsche Mannschaft, die in Mailand quasi drei Heimspiele hatte. Zum einen aufgrund der drei Lokalmatadoren Matthäus, Brehme und Klinsmann, zum anderen aufgrund der Vielzahl deutscher Fans, die sich auf den Weg in Norditaliens Modemetropole gemacht hatten.

Diskussionen in den Medien

Vor dem ersten und zugleich schwersten Spiel gegen Jugoslawien bestimmten die üblichen Diskussionen um die Aufstellung das Geschehen in den Medien und in Erba. Spaßvogel Pierre Littbarski gingen sie dermaßen auf den Geist, dass er eines Tages mit einem aufgeklebten Zettel auf der Brust vor der Presse erschien. Darauf stand: „Ich weigere mich heute, Auskunft über die Mannschaftsaufstellung zu geben. Nähere Informationen beim Pressechef des DFB.“

Am 10. Juni saß der Kölner auf der Bank, Beckenbauer hatte sich für Uwe Bein entschieden. In der Abwehr stand Buchwald für den angeschlagenen Kohler, dafür rückte Stefan Reuter auf die rechte Seite im Mittelfeld. Das war so noch nie geprobt worden, doch die Aufführung in der Mailänder Scala des Fußballs geriet zur Demonstration. Lothar Matthäus machte sein 75. und wohl bestes Länderspiel und eröffnete nach 29 Minuten den deutschen Torreigen mit einem satten Linksschuss. Einen Scorerpunkt verdiente sich Giovanni Trapattoni: der Trainer von Inter Mailand hatte Matthäus dazu verdonnert, intensiv seinen schwächeren Fuß zu trainieren und nun sah man das Ergebnis.

Matthäus' Traumtore

Am Ende stand ein 4:1 (1:0), weil Matthäus noch ein sensationelles Tor nach einem unwiderstehlichen Solo erzielte – gerade als die Partie nach dem jugoslawischen Tor durch Jozic zu kippen drohte. Zum 3:1 nahm er allerdings wieder den „richtigen“ Fuß. Auch die anderen Tore gingen auf das Konto der Italiener: Klinsmann köpfte das 2:0 und Völler drückte Brehmes Schuss zum 4:1-Endstand über die Linie. Kurios: die Fifa hat das Tor Brehme gegeben, der DFB nach interner Zeugenbefragung Völler. „Rudi gab dem Ball den letzten Tick“, verkündete DFB-Pressechef Wolfgang Niersbach, „der Andy steht gerne zurück.“

Teamchef Franz Beckenbauer, der das Spiel durch eine schmale Brille beobachtete, gab den Spielern eineinhalb Tage frei als Lohn für den Start nach Maß. Als sie wieder zurück waren von ihren Ausflügen ins Umland, wartete schon hoher Besuch. Die Ehrenspielführer Fritz Walter und Uwe Seeler machten dem Team ihre Aufwartung. „Seit Jahren habe ich eine deutsche Elf nicht mehr so gut spielen gesehen“, sprach Walter ein Riesenkompliment aus berufenem Munde aus. Alle spürten von Beginn an: Diese WM kann etwas Besonderes werden.

5:1 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate

Bei Blitz und Donner gab es im zweiten Spiel gegen die Vereinigten Arabischen Emirate auch einen Torhagel. Das 5:1 sahen zumindest die Journalisten unter blauen Plastikplanen versteckt, denn ausgerechnet die mit Monitoren ausgestattete Pressetribüne war nicht regengeschützt. Allzu viel bildeten sich die Deutschen nicht ein auf den zweiten Sieg, der bereits das Achtelfinale bedeutete. Über ihre Treffer durch Klinsmann, Völler, Matthäus, Bein und ein Eigentor freuten sie sich dennoch, aber der Glücklichste stand auf der anderen Seite.

Der Scheich, der dem Fußballverband vorstand, stiftete dem ersten WM-Torschützen eine Luxus-Karosse im Wert von damals 120.000 D-Mark. Gegen Kolumbien (0:2) hatte sie sich noch keiner verdient, doch unmittelbar nach Wiederanpfiff nutzte Khalid Ismail Mubarak die Gunst der Stunde, sprich eine deutsche Unaufmerksamkeit, zum Premieren-Tor der Emirate.

Kolumbien schlägt zurück

Wer hinter Deutschland und Jugoslawien ins Achtelfinale gelangen sollte, entschied sich am 19. Juni erst in der letzten Minute des Spiels gegen Kolumbien, in dem die Deutschen an einem schwülen Nachmittag wieder vor einem Sieg standen. Der eingewechselte Pierre Littbarski hatte in der 87. Minute das fällige 1:0 erzielt, womit Kolumbien hätte ausscheiden müssen. Doch in der Nachspielzeit schickte Spielmacher Valderama, der die bemerkenswerteste Frisur dieser WM trug, Stürmer Rincon auf die Reise und der tunnelte Bodo Illgner. Das heftig umjubelte 1:1 bezeichnete Trainer Francisco Maturana als „das wichtigste Kapitel in der kolumbianischen Fußballgeschichte“ und selbst Franz Beckenbauer rang es ein Lächeln ab: „Es war Freude, dass Kolumbien für seinen prächtigen Fußball mit dem Weiterkommen beloht wurde.“

Im Achtelfinale ging es für beide weiter und für Beckenbauer begann „die Weltmeisterschaft erst jetzt richtig“ - mit dem Duell zwischen Deutschland und den Niederlanden, das der Rivalität der Nachbarn ein neues Kapitel hinzufügen sollte. Es galt wieder mal Revanche zu nehmen. Nun war es an den Deutschen, die 1988 im EM-Halbfinale unterlegen waren. Die Szenen, über die alle Welt am Tag danach sprach, hatte aber wenig mit Sport zu tun. In der 22. Minute stellte der argentinische Schiedsrichter Losteau Rudi Völler und Frank Rijkaard vom Platz. Was Völler, der Torwart van Breukelen gefährlich nahe gekommen war, aber noch ausweichen konnte, zusammengeprallt war, getan hatte, blieb schleierhaft. Rijkaard aber hatte den Römer wegen der Torwart-Attacke an den Ohren gezogen und angespuckt, bereits zum zweiten Mal. Ob der Schiedsrichter wirklich nur „Ruhe haben wollte“, wie Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge mutmaßte? In diesem Fall war es eher ein skandalöses denn salomonisches Urteil, beide vom Feld zu stellen.

Siegen für Rudi

Die Deutschen hatten fortan eine Zusatzmotivation: Siegen für Rudi. Sturmpartner Jürgen Klinsmann machte an diesem 25. Juni sein vielleicht bestes Länderspiel überhaupt, verausgabte sich nach Kräften, traf den Pfosten und in der 51. Minute nach Buchwalds Linksflanke ins Tor. Weitere Chancen einer entfesselt stürmenden deutschen Mannschaft blieben ungenutzt, aber hinten brannte nichts an. Erstmals stand Jürgen Kohler in der Elf und neben ihm noch fünf Defensive, was Beckenbauer selbst als „etwas konservativere Einstellung“ einschätzte. Pierre Littbarski vertrat seinen Kumpel Thomas Häßler glänzend.

Einer der Defensiven entschied dann den bisher spannendsten Abend von San Siro, das offiziell Giuseppe Meazza-Stadion heißt: Der nach seiner Gelb-Sperre zurückgekehrte Andreas Brehme schlenzte von der linken Strafraumecke herrlich ins lange Eck zum 2:0 (85.) – sehr zur Freude von diesmal rund 40.000 deutschen Fans. Die Niederländer schafften nur noch ein Elfmeter-Tor. Van Basten verwandelte den umstrittenen Strafstoß, der nichts an den Tatsachen änderte: Deutschland stand im Viertelfinale, die Niederlande am nächsten Morgen am Flughafen.

Argentinien schaltet Brasilien aus

Eine Niederlage gab es dann doch: Rudi Völler wurde für ein Spiel gesperrt. Aber diese Mannschaft war stark genug, solche Rückschläge wegzustecken und sonnte sich in ihrer plötzlichen Favoritenrolle. Denn Brasilien, das war nach dem Spektakel von Mailand der zweite Aufreger des Achtelfinals, schied aus – gegen die Argentinier unterlagen sie in Turin mit 0:1. Das goldene Tor von Claudio Caniggia bereitete Maradona vor und stellte den Spielverlauf auf den Kopf. Dabei hatte Brasilien erstmals überzeugt, offensiv gespielt und Chancen "im Dutzend billiger" erwirtschaftet.

Genauso weit wie Argentinien war auch sein bisher einziger Bezwinger schon gekommen: Kamerun setzte sich in Turin gegen Kolumbien in der Verlängerung 2:1 durch und kopierte quasi den Sieg über Rumänien. Wieder wurde beim Stand von 0:0 Senior Roger Milla eingewechselt, wieder schlug er zwei Mal zu (106. und 109. Minute), und das Gegentor störte keinen mehr. Erstmals war Afrika in einem WM-Viertelfinale vertreten und die Welt horchte auf.

Sperrstunde in den Londoner Pubs aufgehoben

Für die Exoten von Costa Rica war indes im Achtelfinale Endstation. Weil sie das Weiterkommen nicht eingeplant hatten, hatte ihr Trainer Bora Milutinovic selbst noch kurzfristig auf Quartiersuche in Bari gehen müssen. Der baumlange Tscheche Tomas Skuhravy traf gleich drei Mal beim erst im letzten Spieldrittel gesicherten 4:1-Sieg. England kam 37 Sekunden vor Schluss gegen Belgien um ein Elfmeterschießen herum. Es war 23.23 Uhr, als David Platts Tor die Sperrstunde in den Londoner Pubs aufhob und England zum Feiern brachte.

WM-Debütant Irland quälte sich in Genua nach zwei torlosen Stunden gegen Rumänien sogar bis ins Elfmeterschießen und verwandelte dort jeden Ball. 5:4 hieß es am Ende. Trainer Jackie Charlton trank im Teamquartier in Ruhe ein paar Bierchen und überlegte, „wie wir die Italiener schlagen können“. Die waren programmgemäß noch im Rennen. Geburtstagskind Aldo Serena, er wurde 30, beschenkte sich und das ganze Land im Spiel gegen Uruguay. In der 65. Minute legte er Nationalheld Schillaci das 1:0 auf, das 2:0 erzielte er selbst (83.). Italien hatte nicht geglänzt, aber es blieb im Rennen und Torwart Walter Zenga nun schon 832 Minuten ohne Gegentor.