Aytekin-Leseprobe: "Respekt ist alles"

Im Buch "Respekt ist alles - Was auf und neben dem Platz zählt" von DFB-Schiedsrichter Deniz Aytekin erhält der Leser exklusive Einblicke in den Profifußball. Der Unparteiische vermittelt seine Ansichten und Werte, die weit über den Fußball hinausgehen. Auf DFB.de gibt es eine Leseprobe. Sie beinhaltet Kapitel 1 "Jarolíms Abgang: Wie mein erstes Spiel beinahe mein letztes gewesen wäre" und einen Auszug aus Kapitel 2 "Hin- und hergerissen: Von Zirndorf nach Malkara und wieder zurück".

Der Titel "Respekt ist alles - Was auf und neben dem Platz zählt" von Autor Deniz Aytekin mit Andreas Hock erschien am 16. November 2021 im riva Verlag. Das Buch (ISBN: 978-3-7423-1910-4) umfasst 224 Seiten und kann für den Preis von 20 Euro (DE) / 20,60 Euro (A) hier bestellt werden.

Wie mein erstes Spiel beinahe mein letztes gewesen wäre

Mit 28 Jahren war ich dort angekommen, wovon ich immer geträumt hatte. Viele Jahre hatte ich extrem hart trainiert, um überhaupt auf diesem Niveau mithalten zu können. Dabei opferte ich unzählige Wochenenden, in denen ich mich von der Bezirksliga nach oben arbeitete. Sonntags brachte ich den Frust über meine Fehlentscheidungen mit nach Hause, und weil wegen der Pfeiferei sonst keine Zeit blieb, saß ich in den Nächten am Computer und widmete mich meinem eigentlichen Beruf. Und nun wäre mein allererstes Spiel in der Bundesliga um ein Haar auch mein letztes geworden!

Es war der 19. August 2006 - ein Tag, der für Hochsommer eindeutig zu kühl ausfiel. In Cottbus waren es nicht mal 20 Grad, der Himmel war bedeckt, am Vormittag gab es sogar ein paar Regenschauer. Trotzdem kochte das ausverkaufte Stadion der Freundschaft fast über. Der heimische FC Energie war gerade erst zum zweiten Mal in die 1. Bundesliga aufgestiegen und hatte am ersten Spieltag mit 0:2 in Mönchengladbach verloren. Nun stand die Heimspiel-Premiere an: gegen den Hamburger SV, der in der Vorsaison Dritter geworden war und mit seinen Topstars Rafael van der Vaart, Boubacar Sanogo oder Paolo Guerrero mehr oder weniger als Geheimfavorit für den Titel galt. Ich war 26 und stand das erste Mal in meinem Leben während eines Erstligaspiels auf dem Platz - oder besser gesagt: daneben. Während der vergangenen Saison war ich öfter in der 2. und 3. Liga beobachtet worden. Jetzt hatte mich der DFB offenbar für reif genug befunden, Günter Perl als Assistent in der höchsten deutschen Spielklasse zur Seite zu stehen. Als ich mit Günter und dem zweiten Assistenten Josef Maier den Rasen betrat, ahnte ich nicht, welche Überraschungen dieser Nachmittag bei idealen Bedingungen noch mit sich bringen sollte.

Es lief die 54. Minute. Die Situation war unübersichtlich, obwohl das Spiel bislang eher dahinplätscherte. Wir trafen eine völlig richtige Abseitsentscheidung; Perl gab drei berechtigte Gelbe Karten, und der Führungstreffer für den HSV durch Sanogo sechs Minuten vor der Halbzeitpause war ebenfalls unstrittig. Sonst passierte nicht viel. Nun aber drängte Cottbus, angefeuert vom eigenen Publikum, auf den Ausgleich und erzwang einen Eckball auf meiner Seite. Ich stand wie immer konzentriert an der Eckfahne und verfolgte, wie ein Energie-Spieler den Ball hereintrat und ein Stürmer zum Kopfball kam, der jedoch abgeblockt wurde. Plötzlich schoss Mariusz Kukiełka aus der zweiten Reihe. Ich fokussierte mich sofort auf das Gewühl vor dem HSV-Tor und sah Sekundenbruchteile später das, was fast alle 21.000 anderen Menschen im Stadion ebenfalls erkannten: ein Handspiel eines Feldspielers auf der Torlinie. Die Fans schrien, die Cottbusser reklamierten, nur Günter Perl hatte aus seiner Position anscheinend nichts bemerkt. Wir besaßen damals noch keinen Funk, über den wir Kontakt hätten aufnehmen können. Also suchte ich ihn mit meinen Augen und winkte wie verrückt mit meiner Fahne, um Günter anzuzeigen, dass da etwas nicht stimmte. Er entdeckte mein Signal und kam herüber.

"Was ist los?", fragte er mich, nachdem er zu mir an die Seitenlinie gerannt war.

"Klares Handspiel", antwortete ich.

"Okay. Von wem?", fragte er und sah mich eindringlich an.

"Keine Ahnung", sagte ich wahrheitsgemäß und merkte schlagartig, dass wir nun ein Problem hatten.

Die Regel war eindeutig: Nach einem Handspiel im Strafraum, das eine Torchance verhinderte, folgte ein Strafstoß - und Rot für denjenigen, der den Ball absichtlich mit der Hand berührt hatte. Es gab hier keinerlei Ermessensspielraum: Wir mussten neben dem Elfer zwingend einen Platzverweis verhängen. Doch der Sünder war nicht zu identifizieren, jedenfalls nicht für uns. Die Zuschauer auf den Rängen wurden unruhig. Günter lief zu meinem Kollegen schräg gegenüber, aber Josef und der vierte Offizielle Thomas Frank hatten nicht bemerkt, dass David Jarolím, der den Ball beinahe schon in Torwartmanier für seinen geschlagenen Keeper Sascha Kirschstein abfing, unsere Unaufmerksamkeit ausgenutzt und sich klammheimlich aus dem Staub gemacht hatte. Allerdings konnten die drei anderen Schiris gar nichts dafür: Die Beobachtung des Geschehens im Strafraum war in diesem Fall mein Job.

Wäre Jarolím auf der Linie stehen geblieben oder hätten sich die anderen Spieler nach dem Verstoß wie üblich um ihn herumgruppiert, wäre ich wahrscheinlich in der Lage gewesen, die Szene zu rekonstruieren. So aber nutzte er die Verwirrung und trollte sich unauffällig und außerhalb meines Blickfeldes in Richtung Mittelkreis. Von dort aus blickte er, wie man im Fernsehen später sehen konnte, aus sicherer Entfernung auf das Chaos. Es gab nichts zu deuten: Ich hatte einen Fehler gemacht. Und selbst wenn ich in den nachfolgenden 30 Minuten noch mehrere haarscharfe Abseitsstellungen auf den Millimeter genau erkannt hätte, war meine Premiere auf der großen Bühne ordentlich schiefgegangen. Mir war klar, was nun folgte: Ich würde abwechselnd in der Regionalliga Süd und in der 2. Liga pfeifen. Nun konnte ich davon ausgehen, dass das auch so bliebe, wenn überhaupt.

Günter hatte keine andere Wahl, als auf den Elfmeterpunkt zu zeigen und ansonsten auf dem Feld alles so zu belassen, wie es war. Die Cottbusser regten sich zwar auf und bedrängten ihn, aber nur auf Zuruf der Energie-Spieler konnte er David Jarolím natürlich nicht vom Platz stellen - und die von ihm befragten Hamburger hatten wundersamerweise ebenfalls nichts mitbekommen. Nach dem verwandelten Elfmeter wurde die Partie hektisch, woran auch die Atmosphäre im Stadion ihren Anteil hatte, an der wiederum ich gewissermaßen schuld war. Die Fans jubelten zwar über den Ausgleich, waren aber sauer darüber, dass der HSV noch vollzählig weiterspielen durfte. Das änderte sich erst recht nicht, als die Gäste den zwischenzeitlichen Cottbusser Führungstreffer in der 69. Minute kurz darauf wieder egalisierten. Neun Minuten vor dem Ende eskalierte das Geschehen: Die Spieler schubsten und rempelten sich meist nur noch, anschließend gab es eine wilde Rudelbildung mit mehreren Gelben Karten und einem Platzverweis für den Hamburger Guy Demel als Folge. Für den armen Günter war die Spielleitung zur Schwerstarbeit geworden, und jeder von uns war froh, als er endlich abpfiff.

* * *

Volker Roth, damals Vorsitzender des DFB-Schiedsrichterausschusses, legte großen Wert darauf, am Tag nach den Spielen einen kurzen Lagebericht der am Spieltag eingesetzten Kollegen zu erhalten. Dazu musste man ihn am nächsten Morgen in seiner Firma anrufen. Normalerweise dauerten die Gespräche nicht länger als 30 Sekunden, an deren Ende Roth kurz und knapp mitteilte, was ihm bei der Spielleitung gefallen hatte und was nicht.

"Drei Minuten achtundzwanzig", sagte Günter am Telefon zu mir, nachdem er mit dem Chef gesprochen hatte. Ich konnte mir denken, was das bedeutete. Perl hatte eine eigene, humorvolle Art, mit solchen Stürmen umzugehen.

Natürlich war Roth auf der Palme. Er verstand nicht, wie es passieren konnte, dass man in einem derart unmissverständlichen Moment so danebenlag. Genau auf solche Dinge wurden wir schließlich geschult. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich vermutlich in den nächsten Monaten vor dem heimischen Fernseher zusehen können, wie die anderen ihre Aufgabe an der Linie erledigten. Doch Günter schaffte es, ihn zu besänftigen und mich zu beruhigen. Er nahm die Schuld auf sich und setzte sich dafür ein, mir noch eine Chance zu geben.

"Der Rucksack ist schwer, Deniz", sagte er zu mir. "Du musst aufpassen, dass du nicht nach hinten kippst."

Diesen Satz merkte ich mir.

Ich dachte lange darüber nach, wie mir dieser Lapsus passieren konnte. Klar, Fehler gehörten dazu, und selbstverständlich waren mir auch in meinen bisherigen Spielen schon Sachen durchgerutscht, über die ich mich im Nachhinein sehr geärgert hatte. Die Wucht der Bundesliga aber war eine andere. Darauf war ich nicht vorbereitet.

"Vier Schiris. Acht Augen. Null Durchblick", titelte die Bild am Sonntag am nächsten Morgen. Nicht das deutliche 4:0 von Hertha BSC gegen Hannover 96 oder das überraschende Unentschieden, das Jürgen Klopps FSV Mainz bei Borussia Dortmund erreichte, lenkte die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Mein Blackout, der in der Wahrnehmung zu einem Totalversagen unseres Gespanns geworden war, dominierte die überregionale Berichterstattung.

Die Montagsausgabe des Kicker vergab für Günters Leistung eine glatte 5, verbunden mit einer vernichtenden Bewertung, die mir sehr leidtat. Ich als Assistent hingegen kam in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vor. Auch wenn es vermutlich nie einer der Betroffenen zugeben würde: Solche Beurteilungen konnten einen nachhaltig runterziehen. Doch Perl ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und verlor nie wieder ein Wort darüber, dass er nach außen hin die komplette Verantwortung übernommen hatte. Diese Haltung imponierte mir. Genauso wie er wollte ich es auch handhaben, sollte ich eines Tages tatsächlich mal in der 1. Bundesliga pfeifen dürfen und im Auge eines solchen Orkans stehen.

In den nächsten Tagen versuchte ich, das Cottbus-Spiel abzuhaken und mich auf meine kommenden Aufgaben zu fokussieren. Schon in einer Woche würde es dank Günters Einsatz für mich im Gottlieb-Daimler-Stadion weitergehen, wo ich an der Seite von Franz-Xaver Wack beim VfB Stuttgart gegen den BVB zum Einsatz kommen sollte. Ich wusste: Wenn ich weiterkommen wollte, musste ich aus meinen Fehlern lernen und mir ein dickeres Fell zulegen. Und beim nächsten Mal besser hinschauen!

Von Zirndorf nach Malkara und wieder zurück

Ich bin ein klassisches Gastarbeiterkind. Meine Eltern kamen in den siebziger Jahren nach Deutschland, zunächst mit meinen Großeltern, die aber schon nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat nach Malkara zurückkehrten - eine Stadt mit rund 50.000 Einwohnern nahe der griechischen Grenze im europäischen Teil der Türkei. Das Ziel meiner Eltern war, wie bei so vielen Türken jener Zeit, hier ausreichend Geld zu verdienen, um baldmöglichst zurückzukehren, ein bescheidenes Häuschen in der Heimat zu kaufen und sich eine Existenz in der Türkei aufzubauen.

Sie suchten sich Zirndorf als vorübergehendes Zuhause aus, ein beschauliches Örtchen vor den Toren Nürnbergs, das bald bekannt werden sollte für den immer größer werdenden Spielwarenhersteller Playmobil, der hier 1974 gegründet worden war. Und weil es in Zirndorf dadurch zwar viele kleine Männchen, aber keine Klinik mit einer Geburtsstation gab, kam ich am 21. Juli 1978 eben in Nürnberg zur Welt - kurioserweise exakt vier Wochen nach der "Schande von Córdoba", als die deutsche Nationalmannschaft ihr entscheidendes Spiel bei der WM in Argentinien mit 2:3 gegen Österreich verlor und aus dem Turnier ausschied.

Mein Vater Ali fand schnell eine Anstellung bei der berühmten AEG, die damals allerdings ihre Blütezeit bereits hinter sich hatte. Trotzdem waren im Nürnberger Werk noch ein paar Tausend Menschen damit beschäftigt, Waschmaschinen, Kühlschränke oder Elektroherde herzustellen. Zunächst arbeitete er als Maschineneinsteller, später fertigte er Kunststoffteile für verschiedene Geräte an. Gülsen, meine Mutter, fing in der Produktion bei Metz an, einem örtlichen Hersteller hochwertiger Fernseher, und wechselte später in die Kantine, wo sie als Reinigungskraft dafür sorgte, dass es dort immer aussah wie geleckt. Wenn ich sie dort besuchte und sah, mit welcher Akribie sie ihrem Job nachging und alles sauber hielt, während manche Menschen sie im besten Falle nicht einmal wahrnahmen, merkte ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich es hasste, wenn man anderen nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Noch heute macht es mich wütend, wenn jemand in einem Kaufhaus oder einem Restaurant grußlos oder ohne ein nettes Wort an einer Putzfrau vorbeiläuft. Das gehört sich einfach nicht.

* * *

Weil meine Eltern tagsüber und manchmal auch abends arbeiteten, wuchs ich in den ersten Jahren bei einer Tagesmutter auf, später ging ich in den Kindergarten. Zuhause war es bei uns immer ordentlich, aber sehr schlicht. Die Wohnung hatte nur zwei Zimmer, das Bad war winzig, und bis auf einen kleinen Fernseher ohne Fernbedienung gab es bei uns keinerlei Komfort.

"Es ist ja nur vorübergehend", sagte mein Vater stets, um sich die räumliche Enge schönzureden. Gedanklich ackerte er vermutlich schon in seinem Gemüsegärtchen, das hinter unserem Haus in der Nähe von Malkara liegen würde und in dem neben vielen Schatten spendenden Obstbäumen auch Tomaten, Zwiebeln oder Paprika wachsen würden. Während ich durch die anderen Kinder, mit denen ich meine Wochentage verbrachte, schnell Deutsch lernte, wurde daheim vor allem türkisch gesprochen - obwohl meine Eltern im Vergleich zu vielen anderen Türken dieser Generation die neue Sprache recht passabel beherrschten. Trotzdem lag ihre Priorität auf der Arbeit: Sie versuchten, so fleißig zu sein wie irgendwie möglich - und alle Kraft darauf zu verwenden, möglichst viel Geld für später auf die Seite zu legen.

Kurz bevor ich eingeschult werden sollte, teilte mir meine Mutter mit, wieder schwanger zu sein. Ich freute mich auf ein Geschwisterchen, machte mir aber gleichzeitig Sorgen, wie wir zu viert in unserer kleinen Bude zurechtkommen würden. Es waren Gedanken, wie man sie sich als sechsjähriges Kind eben machte: Wo sollte ich künftig spielen, wenn noch ein Bettchen untergebracht werden musste? Wie sollte ich schlafen, wenn im selben Raum ein Baby schrie? Und wo würde ich meine Hausaufgaben machen können, wenn ich im Herbst in die erste Klasse ging? Meine Sorgen waren unbegründet, aber aus ganz anderen Gründen.

"Deniz, wir haben uns etwas überlegt", sagte mein Vater eines Tages zu mir, kurz nachdem meine Schwester Pinar auf die Welt gekommen war. "Es ist hier zu klein für uns alle."

Ich verstand erst nicht, worauf er hinauswollte. Dass es verdammt eng war, wusste ich schon. Vielleicht hatte er eine neue Wohnung gefunden, das wäre natürlich eine feine Sache gewesen. "Du wirst zu deinen Großeltern gehen und kommst in Malkara in die Schule. Alles ist vorbereitet", erklärte er mir, als sei es das Normalste der Welt, dass ein kleiner Junge, der in seinem Leben so gut wie nie etwas anderes gesehen hatte als die nähere Umgebung seines Heimatortes, nun über 2000 Kilometer entfernt von seinen Eltern in einem für ihn fremden Land aufwachsen sollte.

"Mach dir keine Sorgen", sagte er sanft, nachdem er meine aufkommende Panik bemerkt hatte. "Du wirst es gut dort haben. Und wir kommen bald nach, sobald wir genug Geld haben. Dann sind wir wieder zusammen."

* * *

Ich hatte keine Gelegenheit, mir viele Gedanken darüber zu machen, was mich in der Türkei erwarten würde. Es sollte bereits wenige Tage später losgehen. Meine Mutter blieb mit dem Baby in Deutschland, und als mein Vater und ich unten auf dem Parkplatz in unseren blauen Opel Kadett stiegen, der bis zum Dach mit meinen Sachen und etlichen Lebensmitteln, Seifen, Waschmitteln und anderen deutschen Produkten für Opa und Oma vollgestopft war, hätte es mir fast das Herz herausgerissen. Mama hatte Pinar auf dem Arm und Tränen in den Augen, als sie mir nachwinkte. Und ich wusste nicht, wann ich die beiden wiedersehen würde.

Wir fuhren über Österreich zuerst durch Jugoslawien, dann durch Bulgarien an Sofia vorbei, bis wir schließlich die griechisch-türkische Grenzregion erreichten, die praktisch nur aus Wäldern und Hügeln bestand. Die Fahrt dauerte eineinhalb Tage. Spätestens ab Belgrad waren die Straßen in einem furchterregenden Zustand, und es war ein kleines Wunder, dass der alte Opel diesen Höllenritt, den wir in den Jahren zuvor schon ein paarmal hinter uns gebracht hatten, auch dieses Mal durchhielt.

Während der Fahrt redeten wir nicht viel. Mein Vater war ohnehin kein Mann großer Worte. Er versuchte zwar, mich immer wieder zu beruhigen, aber ganz gelang ihm das nicht. Ich hatte viel zu große Angst vor dem, was mich erwartete. Auch wenn ich Opa Ismet und Oma Elif sehr gerne mochte und wir sie zuvor schon mehrmals besucht hatten, war die Sache jetzt nicht mehr nur ein kleines Ferienabenteuer. Es war die absolute Reise ins Unbekannte - damals, vor fast 40 Jahren, als man noch keinerlei Möglichkeit hatte, über SMS oder Whatsapp Kontakt zu halten oder sich vorab im Internet über alles Mögliche zu informieren, was einen dort erwarten könnte oder wie etwa der Schultag an einer türkischen Grundschule aussehen würde.

Aufgrund meiner bisherigen Besuche wusste ich nur, dass meine Großeltern unter der Woche ebenfalls in einer kleinen Wohnung in einem schmucklosen Hochhaus in Malkara lebten und an den Wochenenden regelmäßig ein paar Kilometer weiter aus der Stadt hinaus nach Saripolat fuhren, einem von kleineren Bergen umgebenen Dorf mit vielleicht 200 Einwohnern, in dem sich einige bescheidene Häuser um das Minarett der örtlichen Moschee gruppierten. Von dort stammten sie, und auch mein Vater war hier aufgewachsen. In Saripolat besaß unsere Familie noch immer eine Art Bauernhaus auf einem großen Grundstück. Ich fühlte mich dort stets wohl, weil dieser Flecken Erde am Ende der Welt mit seinen Schotterstraßen und der unberührten Natur ringsherum einen echten Gegensatz zum ordentlich strukturierten Vorstadtleben in Zirndorf darstellte. Dass ich jedoch dort meine weitere Kindheit verbringen sollte, hatte ich nicht auf dem Schirm. Jetzt aber lieferte mich mein Vater hier ab und blieb nur eine einzige Nacht, bevor er nach Deutschland zurückfuhr, weil er wieder arbeiten musste. Das war schon heftig.

"Mach’s gut, mein Junge", sagte er und drückte mich fest an sich, als er in den Kadett stieg, der auf der nicht asphaltierten Straße langsam in einer großen Staubwolke verschwand. Meine Großmutter schüttete dem Wagen noch einen halben Eimer Wasser hinterher; das war ein türkischer Brauch, der symbolisierte, dass der Weg des Reisenden wie das fließende Wasser einfach und ohne Hindernisse verlaufen sollte.

"Tez git, tez gel", sagte sie - "Fahre schnell und komme schnell wieder zurück". Ich wusste jedoch, dass das mit dem schnellen Zurückkommen nicht klappen würde. Hier war ich nun, in einer komplett anderen Welt, die ich nicht gut kannte und die ich vor allem nicht einschätzen konnte, ohne meine Eltern und mit einer ungewissen Zukunft vor Augen. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die ganze Nacht geweint habe.

Noch heute sind mir Abschiede aller Art ein Gräuel, und ich habe dabei jedes Mal Omas verbeulten Blecheimer vor Augen und das Wasser, das sich seinen Weg durch den Staub bahnte. Selbst wenn wir Jahrzehnte später unseren Familienhund Ebby für die Zeit der Ferien in der Tierpension abgaben, spürte ich ein beklemmendes Gefühl, das erst wieder verging, wenn alles wieder im Lot war.

* * *

Opa Ismet war eine beeindruckende Erscheinung. Er war sehr groß, hatte riesige Hände, markante Ohren und pechschwarze Haare. Wenn er in einen Raum hineinging, herrschte sofort Ruhe - aber nicht, weil man Angst vor ihm zu haben brauchte, sondern weil er diesen natürlichen Respekt ausstrahlte, den man sich nicht anlernen konnte. Er war streng, aber gerecht und nie aufbrausend. Im Grunde genommen wäre er mit seiner Präsenz und seiner Strahlkraft der perfekte Schiedsrichter gewesen. Oma Elif hingegen war die Güte in Person. Ihr Leben drehte sich ausschließlich um die Familie, und eigentlich kochte sie den ganzen Tag. Ich fragte mich immer, wer das alles essen sollte, was sie von früh bis abends in ihrer kleinen Küche zubereitete. Sie versuchte mit ihrer Liebe so gut es ging, meine Eltern zu ersetzen, aber das funktionierte natürlich nicht immer.

Allein den Kontakt nach Deutschland zu halten war eine echte Herausforderung. Erstaunlicherweise besaßen meine Großeltern nicht nur einen Fernseher, sondern zumindest in der Wohnung in Malkara auch ein Telefon, was beides keinesfalls selbstverständlich war. Allerdings kostete ein Ferngespräch Unsummen, sodass man sich schon allein aus Kostengründen nicht gegenseitig alle paar Tage erzählen konnte, was man auf dem Herzen hatte. Jeder der seltenen Anrufe musste sich auf das Allernötigste beschränken, weil sonst mein Großvater beim Anblick der Rechnung vermutlich einen Herzinfarkt bekommen hätte. So erfuhr ich lediglich kurz und knapp, wie es ihnen und der kleinen Pinar ging - und erzählte meinen Eltern im Gegenzug so schnell wie möglich von meinem ersten Schultag, den ich recht komisch fand.

Es fing damit an, dass ich wie alle anderen Schüler offiziell eingekleidet wurde. Es war Pflicht, ab der ersten Klasse eine Uniform zu tragen: blaue Hemden mit einem aufgestickten, bunten Logo, großen Seitentaschen und einem weißen Kragen, mit dem wir ein bisschen aussahen wie ein aus der Zeit gefallener Kinderchor. Nachdem wir einheitlich angezogen im Klassenzimmer saßen und auf den Unterrichtsbeginn warteten, flog die Tür auf, und alle Mitschüler erhoben sich rasch von ihren Stühlen, als der Lehrer den Raum betrat. Danach ertönte vom Band die türkische Nationalhymne, die es mitzusingen galt, und neben der Tafel hing ein Foto von Atatürk an der Wand. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles im Vergleich zu der Grundschule in Zirndorf ablief. Doch ich konnte mir - nach allem, was ich im Kindergarten mitbekommen hatte - beim besten Willen nicht vorstellen, dass man dort ebenfalls eine gewischt bekam oder einem vor aller Augen mit dem Lineal auf die Hand geschlagen wurde, wenn man nicht spurte. Hier konnte das allerdings schnell mal passieren, und die Liste der zu sanktionierenden Vergehen war recht lang. Zu meinem Leidwesen gehörte das Fußballspielen auf dem Schulhof ebenfalls dazu.

Auch wenn ich mich in den ersten Wochen noch schwertat, Anschluss zu finden und von dem einen oder anderen Mitschüler zunächst als "der Deutsche" angesehen wurde, klappte die Integration erstaunlich gut. Es gab noch einige andere Gastarbeiterkinder in der Klasse, die ebenfalls von ihren in Deutschland lebenden Eltern in der Türkei "geparkt" wurden, sodass ich mich mit meinem Schicksal nicht völlig allein fühlte. Außerdem war ich ein guter Schüler. Wenn ich in Türkisch oder Mathe ausnahmsweise nicht weiterkam, setzte sich mein Großvater am Spätnachmittag nach dem Sportunterricht gemeinsam mit mir an den Wohnzimmertisch und wir übten die Aufgaben so lange, bis ich sie beherrschte.

* * *

Nach einigen Wochen hatte ich erste Kontakte zu anderen Kindern geknüpft, was halbwegs einfach war, da wir jede freie Minute gemeinsam draußen verbrachten. Wir waren stets eine Menge Jungs, kickten mit alten Bällen ausnahmsweise auf dem asphaltierten Platz des Schulhofs und schossen ansonsten auf selbst gebastelte Tore, oder wir spielten Verstecken in den engen Gassen der Stadt oder kletterten auf Bäumen und Mauern herum. Es war im Grunde ein unbeschwertes, fröhliches Kinderleben. Nur abends fühlte ich oft eine große Traurigkeit, die dazu führte, dass ich mich regelmäßig in den Schlaf weinte. Mir war klar, dass ich meine Eltern monatelang nicht wiedersehen konnte. Und wenn sie denn mal für ein paar Wochen im Sommer zu Besuch kamen, zusammen mit meiner kleinen Schwester, auf die ich mich sehr freute, und mit einem Koffer voller Schokolade im Gepäck, dann hatte ich schon am ersten Tag Angst vor dem Moment, in dem der blaue Opel wieder im Staub verschwinden und das Wasser aus dem Eimer durch die Kieselsteine auf der Straße fließen würde.

Dafür konnte ich die Wochenenden kaum erwarten, an denen wir wieder nach Saripolat fuhren, wo die Umgebung noch viel aufregender war als in der Stadt. Im Dorf lebte auch Seçkin, ein gleichaltriger Junge, mit dem ich mich auf Anhieb verstand. Obwohl er noch so jung war, musste er zu Hause bereits mit anpacken wie ein Großer: den Stall ausmisten, die Kühe zur Wasserstelle führen oder die Ziegen auf der Weide einfangen. Seçkins Familie besaß zwei große Wachhunde, die auf das Gehöft und seine Bewohner aufpassten und denen ich nicht zu nahekommen wollte. Da es in ganz Saripolat jedoch kein Telefon gab, musste ich ihn schon aus einigen Hundert Metern Entfernung rufen, damit er die Hunde ankettete, wenn ich den Weg zum Haus entlanglief. Eine Pfeife hatte ich damals leider noch nicht.

Seçkin und ich trieben jede Menge Unsinn. Wir bastelten uns aus kleinen Astgabeln und alten Gummibändern Steinschleudern und machten Jagd auf Wildtauben. Ich traf nie irgendeinen Vogel, aber er landete ab und zu einen Treffer. Dann nahm seine Mutter die Taube fachgerecht aus und grillte sie für uns auf einer Feuerstelle. An anderen Tagen gingen wir angeln, und auch hier lachte sich Seçkin über meine unbeholfenen Versuche, einen Fisch aus dem Bach zu ziehen, kaputt. Nicht einmal das Jagdgewehr meines Opas, das er uns irgendwann einmal auslieh, konnte ich richtig bedienen. Für meinen Freund war ich nicht nur der Deutsche, sondern zugleich ein unverbesserlicher Stadtmensch, der hier auf dem Land gänzlich aufgeschmissen war, und vermutlich hatte er damit recht. Doch die Ursprünglichkeit dieses Ortes gefiel mir, und wenn wir sonntagabends nach Malkara zurückfuhren, konnte ich es kaum erwarten, wieder hier zu sein.

* * *

"Guck mal, hier ist ein Brief von deinen Eltern", sagte Oma Elif eines Tages zu mir und überreichte mir einen kleinen Umschlag.

[dfb]

Im Buch "Respekt ist alles - Was auf und neben dem Platz zählt" von DFB-Schiedsrichter Deniz Aytekin erhält der Leser exklusive Einblicke in den Profifußball. Der Unparteiische vermittelt seine Ansichten und Werte, die weit über den Fußball hinausgehen. Auf DFB.de gibt es eine Leseprobe. Sie beinhaltet Kapitel 1 "Jarolíms Abgang: Wie mein erstes Spiel beinahe mein letztes gewesen wäre" und einen Auszug aus Kapitel 2 "Hin- und hergerissen: Von Zirndorf nach Malkara und wieder zurück".

Der Titel "Respekt ist alles - Was auf und neben dem Platz zählt" von Autor Deniz Aytekin mit Andreas Hock erschien am 16. November 2021 im riva Verlag. Das Buch (ISBN: 978-3-7423-1910-4) umfasst 224 Seiten und kann für den Preis von 20 Euro (DE) / 20,60 Euro (A) hier bestellt werden.

Wie mein erstes Spiel beinahe mein letztes gewesen wäre

Mit 28 Jahren war ich dort angekommen, wovon ich immer geträumt hatte. Viele Jahre hatte ich extrem hart trainiert, um überhaupt auf diesem Niveau mithalten zu können. Dabei opferte ich unzählige Wochenenden, in denen ich mich von der Bezirksliga nach oben arbeitete. Sonntags brachte ich den Frust über meine Fehlentscheidungen mit nach Hause, und weil wegen der Pfeiferei sonst keine Zeit blieb, saß ich in den Nächten am Computer und widmete mich meinem eigentlichen Beruf. Und nun wäre mein allererstes Spiel in der Bundesliga um ein Haar auch mein letztes geworden!

Es war der 19. August 2006 - ein Tag, der für Hochsommer eindeutig zu kühl ausfiel. In Cottbus waren es nicht mal 20 Grad, der Himmel war bedeckt, am Vormittag gab es sogar ein paar Regenschauer. Trotzdem kochte das ausverkaufte Stadion der Freundschaft fast über. Der heimische FC Energie war gerade erst zum zweiten Mal in die 1. Bundesliga aufgestiegen und hatte am ersten Spieltag mit 0:2 in Mönchengladbach verloren. Nun stand die Heimspiel-Premiere an: gegen den Hamburger SV, der in der Vorsaison Dritter geworden war und mit seinen Topstars Rafael van der Vaart, Boubacar Sanogo oder Paolo Guerrero mehr oder weniger als Geheimfavorit für den Titel galt. Ich war 26 und stand das erste Mal in meinem Leben während eines Erstligaspiels auf dem Platz - oder besser gesagt: daneben. Während der vergangenen Saison war ich öfter in der 2. und 3. Liga beobachtet worden. Jetzt hatte mich der DFB offenbar für reif genug befunden, Günter Perl als Assistent in der höchsten deutschen Spielklasse zur Seite zu stehen. Als ich mit Günter und dem zweiten Assistenten Josef Maier den Rasen betrat, ahnte ich nicht, welche Überraschungen dieser Nachmittag bei idealen Bedingungen noch mit sich bringen sollte.

Es lief die 54. Minute. Die Situation war unübersichtlich, obwohl das Spiel bislang eher dahinplätscherte. Wir trafen eine völlig richtige Abseitsentscheidung; Perl gab drei berechtigte Gelbe Karten, und der Führungstreffer für den HSV durch Sanogo sechs Minuten vor der Halbzeitpause war ebenfalls unstrittig. Sonst passierte nicht viel. Nun aber drängte Cottbus, angefeuert vom eigenen Publikum, auf den Ausgleich und erzwang einen Eckball auf meiner Seite. Ich stand wie immer konzentriert an der Eckfahne und verfolgte, wie ein Energie-Spieler den Ball hereintrat und ein Stürmer zum Kopfball kam, der jedoch abgeblockt wurde. Plötzlich schoss Mariusz Kukiełka aus der zweiten Reihe. Ich fokussierte mich sofort auf das Gewühl vor dem HSV-Tor und sah Sekundenbruchteile später das, was fast alle 21.000 anderen Menschen im Stadion ebenfalls erkannten: ein Handspiel eines Feldspielers auf der Torlinie. Die Fans schrien, die Cottbusser reklamierten, nur Günter Perl hatte aus seiner Position anscheinend nichts bemerkt. Wir besaßen damals noch keinen Funk, über den wir Kontakt hätten aufnehmen können. Also suchte ich ihn mit meinen Augen und winkte wie verrückt mit meiner Fahne, um Günter anzuzeigen, dass da etwas nicht stimmte. Er entdeckte mein Signal und kam herüber.

"Was ist los?", fragte er mich, nachdem er zu mir an die Seitenlinie gerannt war.

"Klares Handspiel", antwortete ich.

"Okay. Von wem?", fragte er und sah mich eindringlich an.

"Keine Ahnung", sagte ich wahrheitsgemäß und merkte schlagartig, dass wir nun ein Problem hatten.

Die Regel war eindeutig: Nach einem Handspiel im Strafraum, das eine Torchance verhinderte, folgte ein Strafstoß - und Rot für denjenigen, der den Ball absichtlich mit der Hand berührt hatte. Es gab hier keinerlei Ermessensspielraum: Wir mussten neben dem Elfer zwingend einen Platzverweis verhängen. Doch der Sünder war nicht zu identifizieren, jedenfalls nicht für uns. Die Zuschauer auf den Rängen wurden unruhig. Günter lief zu meinem Kollegen schräg gegenüber, aber Josef und der vierte Offizielle Thomas Frank hatten nicht bemerkt, dass David Jarolím, der den Ball beinahe schon in Torwartmanier für seinen geschlagenen Keeper Sascha Kirschstein abfing, unsere Unaufmerksamkeit ausgenutzt und sich klammheimlich aus dem Staub gemacht hatte. Allerdings konnten die drei anderen Schiris gar nichts dafür: Die Beobachtung des Geschehens im Strafraum war in diesem Fall mein Job.

Wäre Jarolím auf der Linie stehen geblieben oder hätten sich die anderen Spieler nach dem Verstoß wie üblich um ihn herumgruppiert, wäre ich wahrscheinlich in der Lage gewesen, die Szene zu rekonstruieren. So aber nutzte er die Verwirrung und trollte sich unauffällig und außerhalb meines Blickfeldes in Richtung Mittelkreis. Von dort aus blickte er, wie man im Fernsehen später sehen konnte, aus sicherer Entfernung auf das Chaos. Es gab nichts zu deuten: Ich hatte einen Fehler gemacht. Und selbst wenn ich in den nachfolgenden 30 Minuten noch mehrere haarscharfe Abseitsstellungen auf den Millimeter genau erkannt hätte, war meine Premiere auf der großen Bühne ordentlich schiefgegangen. Mir war klar, was nun folgte: Ich würde abwechselnd in der Regionalliga Süd und in der 2. Liga pfeifen. Nun konnte ich davon ausgehen, dass das auch so bliebe, wenn überhaupt.

Günter hatte keine andere Wahl, als auf den Elfmeterpunkt zu zeigen und ansonsten auf dem Feld alles so zu belassen, wie es war. Die Cottbusser regten sich zwar auf und bedrängten ihn, aber nur auf Zuruf der Energie-Spieler konnte er David Jarolím natürlich nicht vom Platz stellen - und die von ihm befragten Hamburger hatten wundersamerweise ebenfalls nichts mitbekommen. Nach dem verwandelten Elfmeter wurde die Partie hektisch, woran auch die Atmosphäre im Stadion ihren Anteil hatte, an der wiederum ich gewissermaßen schuld war. Die Fans jubelten zwar über den Ausgleich, waren aber sauer darüber, dass der HSV noch vollzählig weiterspielen durfte. Das änderte sich erst recht nicht, als die Gäste den zwischenzeitlichen Cottbusser Führungstreffer in der 69. Minute kurz darauf wieder egalisierten. Neun Minuten vor dem Ende eskalierte das Geschehen: Die Spieler schubsten und rempelten sich meist nur noch, anschließend gab es eine wilde Rudelbildung mit mehreren Gelben Karten und einem Platzverweis für den Hamburger Guy Demel als Folge. Für den armen Günter war die Spielleitung zur Schwerstarbeit geworden, und jeder von uns war froh, als er endlich abpfiff.

* * *

Volker Roth, damals Vorsitzender des DFB-Schiedsrichterausschusses, legte großen Wert darauf, am Tag nach den Spielen einen kurzen Lagebericht der am Spieltag eingesetzten Kollegen zu erhalten. Dazu musste man ihn am nächsten Morgen in seiner Firma anrufen. Normalerweise dauerten die Gespräche nicht länger als 30 Sekunden, an deren Ende Roth kurz und knapp mitteilte, was ihm bei der Spielleitung gefallen hatte und was nicht.

"Drei Minuten achtundzwanzig", sagte Günter am Telefon zu mir, nachdem er mit dem Chef gesprochen hatte. Ich konnte mir denken, was das bedeutete. Perl hatte eine eigene, humorvolle Art, mit solchen Stürmen umzugehen.

Natürlich war Roth auf der Palme. Er verstand nicht, wie es passieren konnte, dass man in einem derart unmissverständlichen Moment so danebenlag. Genau auf solche Dinge wurden wir schließlich geschult. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich vermutlich in den nächsten Monaten vor dem heimischen Fernseher zusehen können, wie die anderen ihre Aufgabe an der Linie erledigten. Doch Günter schaffte es, ihn zu besänftigen und mich zu beruhigen. Er nahm die Schuld auf sich und setzte sich dafür ein, mir noch eine Chance zu geben.

"Der Rucksack ist schwer, Deniz", sagte er zu mir. "Du musst aufpassen, dass du nicht nach hinten kippst."

Diesen Satz merkte ich mir.

Ich dachte lange darüber nach, wie mir dieser Lapsus passieren konnte. Klar, Fehler gehörten dazu, und selbstverständlich waren mir auch in meinen bisherigen Spielen schon Sachen durchgerutscht, über die ich mich im Nachhinein sehr geärgert hatte. Die Wucht der Bundesliga aber war eine andere. Darauf war ich nicht vorbereitet.

"Vier Schiris. Acht Augen. Null Durchblick", titelte die Bild am Sonntag am nächsten Morgen. Nicht das deutliche 4:0 von Hertha BSC gegen Hannover 96 oder das überraschende Unentschieden, das Jürgen Klopps FSV Mainz bei Borussia Dortmund erreichte, lenkte die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Mein Blackout, der in der Wahrnehmung zu einem Totalversagen unseres Gespanns geworden war, dominierte die überregionale Berichterstattung.

Die Montagsausgabe des Kicker vergab für Günters Leistung eine glatte 5, verbunden mit einer vernichtenden Bewertung, die mir sehr leidtat. Ich als Assistent hingegen kam in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vor. Auch wenn es vermutlich nie einer der Betroffenen zugeben würde: Solche Beurteilungen konnten einen nachhaltig runterziehen. Doch Perl ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und verlor nie wieder ein Wort darüber, dass er nach außen hin die komplette Verantwortung übernommen hatte. Diese Haltung imponierte mir. Genauso wie er wollte ich es auch handhaben, sollte ich eines Tages tatsächlich mal in der 1. Bundesliga pfeifen dürfen und im Auge eines solchen Orkans stehen.

In den nächsten Tagen versuchte ich, das Cottbus-Spiel abzuhaken und mich auf meine kommenden Aufgaben zu fokussieren. Schon in einer Woche würde es dank Günters Einsatz für mich im Gottlieb-Daimler-Stadion weitergehen, wo ich an der Seite von Franz-Xaver Wack beim VfB Stuttgart gegen den BVB zum Einsatz kommen sollte. Ich wusste: Wenn ich weiterkommen wollte, musste ich aus meinen Fehlern lernen und mir ein dickeres Fell zulegen. Und beim nächsten Mal besser hinschauen!

Von Zirndorf nach Malkara und wieder zurück

Ich bin ein klassisches Gastarbeiterkind. Meine Eltern kamen in den siebziger Jahren nach Deutschland, zunächst mit meinen Großeltern, die aber schon nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat nach Malkara zurückkehrten - eine Stadt mit rund 50.000 Einwohnern nahe der griechischen Grenze im europäischen Teil der Türkei. Das Ziel meiner Eltern war, wie bei so vielen Türken jener Zeit, hier ausreichend Geld zu verdienen, um baldmöglichst zurückzukehren, ein bescheidenes Häuschen in der Heimat zu kaufen und sich eine Existenz in der Türkei aufzubauen.

Sie suchten sich Zirndorf als vorübergehendes Zuhause aus, ein beschauliches Örtchen vor den Toren Nürnbergs, das bald bekannt werden sollte für den immer größer werdenden Spielwarenhersteller Playmobil, der hier 1974 gegründet worden war. Und weil es in Zirndorf dadurch zwar viele kleine Männchen, aber keine Klinik mit einer Geburtsstation gab, kam ich am 21. Juli 1978 eben in Nürnberg zur Welt - kurioserweise exakt vier Wochen nach der "Schande von Córdoba", als die deutsche Nationalmannschaft ihr entscheidendes Spiel bei der WM in Argentinien mit 2:3 gegen Österreich verlor und aus dem Turnier ausschied.

Mein Vater Ali fand schnell eine Anstellung bei der berühmten AEG, die damals allerdings ihre Blütezeit bereits hinter sich hatte. Trotzdem waren im Nürnberger Werk noch ein paar Tausend Menschen damit beschäftigt, Waschmaschinen, Kühlschränke oder Elektroherde herzustellen. Zunächst arbeitete er als Maschineneinsteller, später fertigte er Kunststoffteile für verschiedene Geräte an. Gülsen, meine Mutter, fing in der Produktion bei Metz an, einem örtlichen Hersteller hochwertiger Fernseher, und wechselte später in die Kantine, wo sie als Reinigungskraft dafür sorgte, dass es dort immer aussah wie geleckt. Wenn ich sie dort besuchte und sah, mit welcher Akribie sie ihrem Job nachging und alles sauber hielt, während manche Menschen sie im besten Falle nicht einmal wahrnahmen, merkte ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich es hasste, wenn man anderen nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Noch heute macht es mich wütend, wenn jemand in einem Kaufhaus oder einem Restaurant grußlos oder ohne ein nettes Wort an einer Putzfrau vorbeiläuft. Das gehört sich einfach nicht.

* * *

Weil meine Eltern tagsüber und manchmal auch abends arbeiteten, wuchs ich in den ersten Jahren bei einer Tagesmutter auf, später ging ich in den Kindergarten. Zuhause war es bei uns immer ordentlich, aber sehr schlicht. Die Wohnung hatte nur zwei Zimmer, das Bad war winzig, und bis auf einen kleinen Fernseher ohne Fernbedienung gab es bei uns keinerlei Komfort.

"Es ist ja nur vorübergehend", sagte mein Vater stets, um sich die räumliche Enge schönzureden. Gedanklich ackerte er vermutlich schon in seinem Gemüsegärtchen, das hinter unserem Haus in der Nähe von Malkara liegen würde und in dem neben vielen Schatten spendenden Obstbäumen auch Tomaten, Zwiebeln oder Paprika wachsen würden. Während ich durch die anderen Kinder, mit denen ich meine Wochentage verbrachte, schnell Deutsch lernte, wurde daheim vor allem türkisch gesprochen - obwohl meine Eltern im Vergleich zu vielen anderen Türken dieser Generation die neue Sprache recht passabel beherrschten. Trotzdem lag ihre Priorität auf der Arbeit: Sie versuchten, so fleißig zu sein wie irgendwie möglich - und alle Kraft darauf zu verwenden, möglichst viel Geld für später auf die Seite zu legen.

Kurz bevor ich eingeschult werden sollte, teilte mir meine Mutter mit, wieder schwanger zu sein. Ich freute mich auf ein Geschwisterchen, machte mir aber gleichzeitig Sorgen, wie wir zu viert in unserer kleinen Bude zurechtkommen würden. Es waren Gedanken, wie man sie sich als sechsjähriges Kind eben machte: Wo sollte ich künftig spielen, wenn noch ein Bettchen untergebracht werden musste? Wie sollte ich schlafen, wenn im selben Raum ein Baby schrie? Und wo würde ich meine Hausaufgaben machen können, wenn ich im Herbst in die erste Klasse ging? Meine Sorgen waren unbegründet, aber aus ganz anderen Gründen.

"Deniz, wir haben uns etwas überlegt", sagte mein Vater eines Tages zu mir, kurz nachdem meine Schwester Pinar auf die Welt gekommen war. "Es ist hier zu klein für uns alle."

Ich verstand erst nicht, worauf er hinauswollte. Dass es verdammt eng war, wusste ich schon. Vielleicht hatte er eine neue Wohnung gefunden, das wäre natürlich eine feine Sache gewesen. "Du wirst zu deinen Großeltern gehen und kommst in Malkara in die Schule. Alles ist vorbereitet", erklärte er mir, als sei es das Normalste der Welt, dass ein kleiner Junge, der in seinem Leben so gut wie nie etwas anderes gesehen hatte als die nähere Umgebung seines Heimatortes, nun über 2000 Kilometer entfernt von seinen Eltern in einem für ihn fremden Land aufwachsen sollte.

"Mach dir keine Sorgen", sagte er sanft, nachdem er meine aufkommende Panik bemerkt hatte. "Du wirst es gut dort haben. Und wir kommen bald nach, sobald wir genug Geld haben. Dann sind wir wieder zusammen."

* * *

Ich hatte keine Gelegenheit, mir viele Gedanken darüber zu machen, was mich in der Türkei erwarten würde. Es sollte bereits wenige Tage später losgehen. Meine Mutter blieb mit dem Baby in Deutschland, und als mein Vater und ich unten auf dem Parkplatz in unseren blauen Opel Kadett stiegen, der bis zum Dach mit meinen Sachen und etlichen Lebensmitteln, Seifen, Waschmitteln und anderen deutschen Produkten für Opa und Oma vollgestopft war, hätte es mir fast das Herz herausgerissen. Mama hatte Pinar auf dem Arm und Tränen in den Augen, als sie mir nachwinkte. Und ich wusste nicht, wann ich die beiden wiedersehen würde.

Wir fuhren über Österreich zuerst durch Jugoslawien, dann durch Bulgarien an Sofia vorbei, bis wir schließlich die griechisch-türkische Grenzregion erreichten, die praktisch nur aus Wäldern und Hügeln bestand. Die Fahrt dauerte eineinhalb Tage. Spätestens ab Belgrad waren die Straßen in einem furchterregenden Zustand, und es war ein kleines Wunder, dass der alte Opel diesen Höllenritt, den wir in den Jahren zuvor schon ein paarmal hinter uns gebracht hatten, auch dieses Mal durchhielt.

Während der Fahrt redeten wir nicht viel. Mein Vater war ohnehin kein Mann großer Worte. Er versuchte zwar, mich immer wieder zu beruhigen, aber ganz gelang ihm das nicht. Ich hatte viel zu große Angst vor dem, was mich erwartete. Auch wenn ich Opa Ismet und Oma Elif sehr gerne mochte und wir sie zuvor schon mehrmals besucht hatten, war die Sache jetzt nicht mehr nur ein kleines Ferienabenteuer. Es war die absolute Reise ins Unbekannte - damals, vor fast 40 Jahren, als man noch keinerlei Möglichkeit hatte, über SMS oder Whatsapp Kontakt zu halten oder sich vorab im Internet über alles Mögliche zu informieren, was einen dort erwarten könnte oder wie etwa der Schultag an einer türkischen Grundschule aussehen würde.

Aufgrund meiner bisherigen Besuche wusste ich nur, dass meine Großeltern unter der Woche ebenfalls in einer kleinen Wohnung in einem schmucklosen Hochhaus in Malkara lebten und an den Wochenenden regelmäßig ein paar Kilometer weiter aus der Stadt hinaus nach Saripolat fuhren, einem von kleineren Bergen umgebenen Dorf mit vielleicht 200 Einwohnern, in dem sich einige bescheidene Häuser um das Minarett der örtlichen Moschee gruppierten. Von dort stammten sie, und auch mein Vater war hier aufgewachsen. In Saripolat besaß unsere Familie noch immer eine Art Bauernhaus auf einem großen Grundstück. Ich fühlte mich dort stets wohl, weil dieser Flecken Erde am Ende der Welt mit seinen Schotterstraßen und der unberührten Natur ringsherum einen echten Gegensatz zum ordentlich strukturierten Vorstadtleben in Zirndorf darstellte. Dass ich jedoch dort meine weitere Kindheit verbringen sollte, hatte ich nicht auf dem Schirm. Jetzt aber lieferte mich mein Vater hier ab und blieb nur eine einzige Nacht, bevor er nach Deutschland zurückfuhr, weil er wieder arbeiten musste. Das war schon heftig.

"Mach’s gut, mein Junge", sagte er und drückte mich fest an sich, als er in den Kadett stieg, der auf der nicht asphaltierten Straße langsam in einer großen Staubwolke verschwand. Meine Großmutter schüttete dem Wagen noch einen halben Eimer Wasser hinterher; das war ein türkischer Brauch, der symbolisierte, dass der Weg des Reisenden wie das fließende Wasser einfach und ohne Hindernisse verlaufen sollte.

"Tez git, tez gel", sagte sie - "Fahre schnell und komme schnell wieder zurück". Ich wusste jedoch, dass das mit dem schnellen Zurückkommen nicht klappen würde. Hier war ich nun, in einer komplett anderen Welt, die ich nicht gut kannte und die ich vor allem nicht einschätzen konnte, ohne meine Eltern und mit einer ungewissen Zukunft vor Augen. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die ganze Nacht geweint habe.

Noch heute sind mir Abschiede aller Art ein Gräuel, und ich habe dabei jedes Mal Omas verbeulten Blecheimer vor Augen und das Wasser, das sich seinen Weg durch den Staub bahnte. Selbst wenn wir Jahrzehnte später unseren Familienhund Ebby für die Zeit der Ferien in der Tierpension abgaben, spürte ich ein beklemmendes Gefühl, das erst wieder verging, wenn alles wieder im Lot war.

* * *

Opa Ismet war eine beeindruckende Erscheinung. Er war sehr groß, hatte riesige Hände, markante Ohren und pechschwarze Haare. Wenn er in einen Raum hineinging, herrschte sofort Ruhe - aber nicht, weil man Angst vor ihm zu haben brauchte, sondern weil er diesen natürlichen Respekt ausstrahlte, den man sich nicht anlernen konnte. Er war streng, aber gerecht und nie aufbrausend. Im Grunde genommen wäre er mit seiner Präsenz und seiner Strahlkraft der perfekte Schiedsrichter gewesen. Oma Elif hingegen war die Güte in Person. Ihr Leben drehte sich ausschließlich um die Familie, und eigentlich kochte sie den ganzen Tag. Ich fragte mich immer, wer das alles essen sollte, was sie von früh bis abends in ihrer kleinen Küche zubereitete. Sie versuchte mit ihrer Liebe so gut es ging, meine Eltern zu ersetzen, aber das funktionierte natürlich nicht immer.

Allein den Kontakt nach Deutschland zu halten war eine echte Herausforderung. Erstaunlicherweise besaßen meine Großeltern nicht nur einen Fernseher, sondern zumindest in der Wohnung in Malkara auch ein Telefon, was beides keinesfalls selbstverständlich war. Allerdings kostete ein Ferngespräch Unsummen, sodass man sich schon allein aus Kostengründen nicht gegenseitig alle paar Tage erzählen konnte, was man auf dem Herzen hatte. Jeder der seltenen Anrufe musste sich auf das Allernötigste beschränken, weil sonst mein Großvater beim Anblick der Rechnung vermutlich einen Herzinfarkt bekommen hätte. So erfuhr ich lediglich kurz und knapp, wie es ihnen und der kleinen Pinar ging - und erzählte meinen Eltern im Gegenzug so schnell wie möglich von meinem ersten Schultag, den ich recht komisch fand.

Es fing damit an, dass ich wie alle anderen Schüler offiziell eingekleidet wurde. Es war Pflicht, ab der ersten Klasse eine Uniform zu tragen: blaue Hemden mit einem aufgestickten, bunten Logo, großen Seitentaschen und einem weißen Kragen, mit dem wir ein bisschen aussahen wie ein aus der Zeit gefallener Kinderchor. Nachdem wir einheitlich angezogen im Klassenzimmer saßen und auf den Unterrichtsbeginn warteten, flog die Tür auf, und alle Mitschüler erhoben sich rasch von ihren Stühlen, als der Lehrer den Raum betrat. Danach ertönte vom Band die türkische Nationalhymne, die es mitzusingen galt, und neben der Tafel hing ein Foto von Atatürk an der Wand. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles im Vergleich zu der Grundschule in Zirndorf ablief. Doch ich konnte mir - nach allem, was ich im Kindergarten mitbekommen hatte - beim besten Willen nicht vorstellen, dass man dort ebenfalls eine gewischt bekam oder einem vor aller Augen mit dem Lineal auf die Hand geschlagen wurde, wenn man nicht spurte. Hier konnte das allerdings schnell mal passieren, und die Liste der zu sanktionierenden Vergehen war recht lang. Zu meinem Leidwesen gehörte das Fußballspielen auf dem Schulhof ebenfalls dazu.

Auch wenn ich mich in den ersten Wochen noch schwertat, Anschluss zu finden und von dem einen oder anderen Mitschüler zunächst als "der Deutsche" angesehen wurde, klappte die Integration erstaunlich gut. Es gab noch einige andere Gastarbeiterkinder in der Klasse, die ebenfalls von ihren in Deutschland lebenden Eltern in der Türkei "geparkt" wurden, sodass ich mich mit meinem Schicksal nicht völlig allein fühlte. Außerdem war ich ein guter Schüler. Wenn ich in Türkisch oder Mathe ausnahmsweise nicht weiterkam, setzte sich mein Großvater am Spätnachmittag nach dem Sportunterricht gemeinsam mit mir an den Wohnzimmertisch und wir übten die Aufgaben so lange, bis ich sie beherrschte.

* * *

Nach einigen Wochen hatte ich erste Kontakte zu anderen Kindern geknüpft, was halbwegs einfach war, da wir jede freie Minute gemeinsam draußen verbrachten. Wir waren stets eine Menge Jungs, kickten mit alten Bällen ausnahmsweise auf dem asphaltierten Platz des Schulhofs und schossen ansonsten auf selbst gebastelte Tore, oder wir spielten Verstecken in den engen Gassen der Stadt oder kletterten auf Bäumen und Mauern herum. Es war im Grunde ein unbeschwertes, fröhliches Kinderleben. Nur abends fühlte ich oft eine große Traurigkeit, die dazu führte, dass ich mich regelmäßig in den Schlaf weinte. Mir war klar, dass ich meine Eltern monatelang nicht wiedersehen konnte. Und wenn sie denn mal für ein paar Wochen im Sommer zu Besuch kamen, zusammen mit meiner kleinen Schwester, auf die ich mich sehr freute, und mit einem Koffer voller Schokolade im Gepäck, dann hatte ich schon am ersten Tag Angst vor dem Moment, in dem der blaue Opel wieder im Staub verschwinden und das Wasser aus dem Eimer durch die Kieselsteine auf der Straße fließen würde.

Dafür konnte ich die Wochenenden kaum erwarten, an denen wir wieder nach Saripolat fuhren, wo die Umgebung noch viel aufregender war als in der Stadt. Im Dorf lebte auch Seçkin, ein gleichaltriger Junge, mit dem ich mich auf Anhieb verstand. Obwohl er noch so jung war, musste er zu Hause bereits mit anpacken wie ein Großer: den Stall ausmisten, die Kühe zur Wasserstelle führen oder die Ziegen auf der Weide einfangen. Seçkins Familie besaß zwei große Wachhunde, die auf das Gehöft und seine Bewohner aufpassten und denen ich nicht zu nahekommen wollte. Da es in ganz Saripolat jedoch kein Telefon gab, musste ich ihn schon aus einigen Hundert Metern Entfernung rufen, damit er die Hunde ankettete, wenn ich den Weg zum Haus entlanglief. Eine Pfeife hatte ich damals leider noch nicht.

Seçkin und ich trieben jede Menge Unsinn. Wir bastelten uns aus kleinen Astgabeln und alten Gummibändern Steinschleudern und machten Jagd auf Wildtauben. Ich traf nie irgendeinen Vogel, aber er landete ab und zu einen Treffer. Dann nahm seine Mutter die Taube fachgerecht aus und grillte sie für uns auf einer Feuerstelle. An anderen Tagen gingen wir angeln, und auch hier lachte sich Seçkin über meine unbeholfenen Versuche, einen Fisch aus dem Bach zu ziehen, kaputt. Nicht einmal das Jagdgewehr meines Opas, das er uns irgendwann einmal auslieh, konnte ich richtig bedienen. Für meinen Freund war ich nicht nur der Deutsche, sondern zugleich ein unverbesserlicher Stadtmensch, der hier auf dem Land gänzlich aufgeschmissen war, und vermutlich hatte er damit recht. Doch die Ursprünglichkeit dieses Ortes gefiel mir, und wenn wir sonntagabends nach Malkara zurückfuhren, konnte ich es kaum erwarten, wieder hier zu sein.

* * *

"Guck mal, hier ist ein Brief von deinen Eltern", sagte Oma Elif eines Tages zu mir und überreichte mir einen kleinen Umschlag.

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