Marcel Reif: "Sei ein Mensch"

Der Jahresbericht der DFB-Stiftungen ist erschienen. Die 64 Seiten sind den Werten unseres Fußballs gewidmet und bieten einen Überblick der vielen Projekte der DFB-Kulturstiftung, der DFB-Stiftung Egidius Braun und der DFB-Stiftung Sepp Herberger.

Ein Interview mit Marcel Reif rundet den Bericht ab. Reif spricht über seine bewegende Rede im Bundestag anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages, über Antisemitismus in Deutschland und über sein Lebenswerk als der aus Sicht nicht weniger Fans beste Fußballkommentator des Landes.

DFB.de: Sie haben schon in größeren Sälen geredet und vor allem bei den Live-Übertragungen vor viel mehr Menschen. Hat es trotzdem ein wenig gekribbelt, als Sie ans Rednerpult gegangen sind?

Marcel Reif: "Ein bisschen" ist die Untertreibung des Tages. Das hat mit in ein Mikro, in irgendein Schaumstoffbällchen zu sprechen, nichts zu tun. Da sitzt der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Bundestagspräsidentin und das versammelte Plenum. Das war schon sehr aufregend. Gebe ich zu.

DFB.de: Wann war Ihnen klar, dass Sie über Ihren Vater reden würden?

Reif: Nach den Vorgesprächen. Ich hatte die Befürchtung, ich sollte für meinen Vater sprechen und seine Geschichte erzählen. Mir wurde von der Bundestagspräsidentin bedeutet, das sei überhaupt nicht die Idee, ich sollte meine Geschichte erzählen, als zweite Generation. Und da war mir klar, dass ich über meinen Vater sprechen muss.

DFB.de: Sie haben dem Deutschen Bundestag einen Satz von Leon Reif zurückgelassen, an den Sie sich, wie Sie selbst sagen, täglich mehr erinnern. "Sei ein Mensch" – droht es denn, dass wir diesen moralischen Imperativ verlieren? 

Reif: Nichts so allgemein und nicht flächendeckend. Das wäre ja noch schöner. An manchen Stellen aber, glaube ich, geht da was verloren. Gerade in Deutschland und gerade in der Beziehung, wie man mit andersartigen Menschen umgeht. Was ja in sich absurd ist. Jeder Mensch ist andersartig. Lassen Sie es mich besser sagen: Es geht etwas verloren, wie man mit dem anderen umgeht.

DFB.de: Müssen Hochrechnungen und Fantasien über Zwangsausweisungen deutscher Staatsbürger uns ängstigen? 

Reif: Dass muss einen nicht ängstigen, sondern entsetzen. Angst zu haben, reicht nicht, wir müssen das verhindern. Dass Dinge plötzlich normal oder gesellschaftsfähig werden, ist etwas, was nicht verhandelbar ist. 

DFB.de: Ihre Familie ist Mitte der fünfziger Jahre aus Polen über Israel nach Deutschland eingewandert.

Reif: Ja. Und wir können über jede Einwanderungspolitik, über Mechanismen, über Alles diskutieren. Aber wenn Dinge, die in diesem Land mal gang und gäbe waren, gewisse Denkweisen, wenn die sich wieder durchsetzen, dann hat Deutschland nichts begriffen. Dann hätte Deutschland seine zweite Chance vertan.

DFB.de: Auf das Potsdamer Treffen und die Correctiv-Reportage folgten Demonstrationen im ganzen Land. Endlich, dachten viele. In Ihrer Rede sprachen Sie vom "Wecken, wo nötig". Wie haben Sie es erlebt, dass der Satz Ihres Vaters auf unzähligen Schildern bei den Demos stand?

Reif: Erstmal ist es schön, wenn die Botschaft scheinbar einige, vielleicht viele Menschen erreicht hat. Der Satz ist ja auch von einer unfassbaren Einfachheit und Klarheit. Und Unmissverständlichkeit.

DFB.de: Gab es nach der Rede eine Reaktion, die Sie besonders gefreut hat? 

Reif: Da habe ich keine Rangliste aufgestellt. Ich habe zu 99,99 Prozent wunderbare Reaktionen bekommen. Meine Rede war das Weitergeben einer Geschichte und einer Erkenntnis. Ich habe auf die Rede Reaktionen von Parteivorsitzenden und Handwerkern bekommen. Wissen Sie, so eine Rede ist zu einem bestimmten Zeitpunkt und der ist schnell vergangen. Aber das Anliegen, die Sache ist zu wichtig.

DFB.de: Die Rede hat die Außenministerin zu Tränen gerührt. Haben Sie die Bilder auf Youtube oder anderswo gesehen?

Reif: Ja, natürlich. Aber noch einmal, mir ging es nicht um irgendeinen Effekt. Es ging mir um die Dinge, über die ich geredet habe.

DFB.de: Gemeinsam mit Kalle Rummenigge waren Sie vor ein paar Jahren Bühnengast bei der Verleihung des Julius Hirsch Preises. Erinnern Sie sich noch an die Preisverleihung?

Reif: Ja, ich habe die Laudatio für die Schickeria gehalten. Da war eine Preisverleihung mit Ecken und Kanten. Einerseits das Engagement der Münchner Ultras für die Erinnerung an den Klubpräsidenten Kurt Landauer. Ich habe der Schickeria ja auch während der Laudatio klar gesagt, für was sie den Julius Hirsch Preis nicht bekommen haben. Das war ambivalent. Aber, das will ich auch sagen, die haben sich meine Kritik uneingeschränkt angehört und wir haben uns anschließend sehr gut darüber unterhalten. Und dass hat mir damals besonders gefallen, dass man auch über strittige Punkte offen diskutieren konnte. Auch das droht uns verloren zu gehen. Wenn Sie nicht meiner Meinung sind, dann sind Sie schlecht und ich bin gut. Und umgekehrt. So kann Demokratie nicht funktionieren. Es braucht den lebendigen Diskurs. Und deshalb auch, weil Sie vorhin bei dieser einen Partei waren, ein Ausschlussverfahren wird nicht funktionieren. Wir müssen mit den Menschen, die die AfD wählen, die solchen Gedanken nachhängen, mit denen müssen wir in den politischen Diskurs gehen, die müssen wir decouvrieren. Mir haben die Demonstrationen nach der Offenlegung der Remigrations-Fantasien Hoffnung gemacht. Da wurde verstanden, dass wir uns äußern müssen. Eine schweigende Mehrheit darf es nie wieder geben. Eine schweigende Mehrheit, die vermeintlich nichts mitbekommen hat, die nichts gewusst hat, und wenn dann reagiert hat mit einem "So schlimm wird es schon nicht werden", so eine schweigende Mehrheit darf es nicht mehr geben. Das kann sehr schnell zu spät sein.

DFB.de: Die DFB-Stiftungen machen sich stark für viele Anliegen, etwa für Inklusion, für karitative Förderungen, gegen Antisemitismus, für Kultur, für Kinder aus finanziell schwächeren Familien, auch im Bereich Resozialisierung. Wie erleben und bewerten Sie das soziale Engagement des Fußballs? Und ärgert es Sie auch, wie uns gelegentlich, dass die Medien eben nicht über das Stiftungsengagement berichten?

Reif: Ja, das ist die Crux. Der Profifußball ist so laut geworden. Aber es wird Gutes getan und es wird das Richtige getan. Der Fußball hat irgendwann und vielleicht gerade noch rechtzeitig begriffen, dass man mit Glanz und Gloria und allem, was damit einhergeht, auch eine Verpflichtung hat. Wenn man schon so einen prominenten Platz in der Gesellschaft belegt, dann muss man sich auch entsprechend einbringen. Ich finde, die Stiftungen machen das sehr gut. Über das Stiftungsengagement und die vielen guten Geschichten wird medial nur selten berichtet, das stimmt, aber das zu beweinen oder zu beklagen, das ist ein bisschen wohlfeil. Das kann aber nicht dazu führen, dass man irgendwann beschließt, jetzt lassen wir es. Gutes tun und darüber reden. Und damit leben, dass die sehr schrillen Nebengeräusche des Fußballs manches übertönen. 

DFB.de: Reden wir also über Fußball. Sie haben mal Wolfgang Overath getunnelt. Und sind unbeschadet rausgekommen. Wie kam es dazu?

Reif: Aus purer Erschöpfung war ich nicht mehr in der Lage, den Versuch zu wagen, an ihm vorbeizulaufen. Also habe ich dem Ball den kürzesten Weg gegeben. Und als es passiert war, wurde mir schlagartig klar, was ich da getan hatte. Einem Idol den Ball durch die Beine gespielt. Das war damals bei einem Hallenkick der Kölschen Altprofis. Einmal die Wochen, die Granden spielten, und die haben mich eingeladen. Und dann passierte das. Ich habe versucht, das sofort mit Wolfgang Overath zu klären und es hat unserem Verhältnis nicht geschadet. Wir mögen uns gern. Aber ich bin damals ein großes Risiko eingegangen.

DFB.de: Overath hat auch im vorgerückten Alter seinen Ehrgeiz nie verloren.

Reif: Wer mit Wolfgang Overath Fußball spielte, musste wissen, worauf er sich einlässt. Verlieren ist keine Option. 

DFB.de: Gab es für Sie als junger Spieler mal den Traum von der Profikarriere?

Reif: Ich war sehr nah dran, spielte in der A-Jugend des 1. FC Kaiserslautern. Dann zogen meine Eltern von Kaiserslautern nach Halstenbek. Möglicherweise hat mir das Schicksal damit einen Hinweis gegeben. Irgendwann wurde mir klar, dass mir einige der Zutaten fehlten, die es neben dem Talent noch für eine Profikarriere bräuchte. Die Erkenntnis kam mir gottseidank rechtzeitig. So wie es am Ende gekommen ist, war es nicht verkehrt.

DFB.de: Welche Zutaten fehlten Ihnen?

Reif: Ach, so ein bisschen das, was man deutsche Tugenden nennt. Mit einer 1:0-Führung war ich ein Veranstalter rauschender Feste, da war ich bemerkenswert talentiert. Bei 0:1 war ich eher unsichtbar. Ich war ein Schönwetterfußballer.

DFB.de: Wie beurteilt der Fußballfachmann Marcel Reif den Einfluss des Fußballjournalisten Marcel Reif? Haben Sie den Livekommentar präziser gemacht?

Reif: Jetzt überfordern sie mich heillos. Ich bin nicht uneitel, aber über mich selbst sprechen…Jedenfalls war es nicht so, dass ich mir überlegt hätte, jetzt mache ich das mit dem Kommentar mal so. Beim Livekommentar über 90 Minuten da können sie nur so sein wie sie sind. Sie können das nicht Konfektionieren. Ich wurde angeleitet von wunderbaren Mentoren, Dieter Kürten als wichtigster. Die Dauer meiner Hervorbringungen in dem Metier ist Beleg dafür, dass ich es nicht ganz verkehrt gemacht habe. Manche fanden es gut, andere nicht. Was ich mir selbst zu gute halte ist, dass ich mein Handwerk verstand. Und das heißt Handwerk und fachliche Kompetenz.

DFB.de: Vor ihnen grassierte eine militärische und floskelreiche Sprache. Und manche Kommentatoren kannten nicht mal die Namen aller Spieler auf dem Platz.

Reif: Ach, das weiß ich nicht. Ich weiß noch, ich fing ja im politischen Journalismus an. Manchmal begegneten mir später Kollegen, die davon träumten, mal so richtig Journalismus zu machen. Ich habe denen gesagt: "Ihr habt sie wohl nicht alle. Die Quote, die wir kriegen mit einem Fußballspiel, da musste ich in der Politik lange für Stricken. Aber lasst es uns mit einem Wortschatz machen, der über den eines mittelmäßig begabten Schimpansen hinausgeht. Das war mir wichtig.

DFB.de: Wie macht es Wolff-Christoph Fuss, der damals ihre Nachfolge bei Premiere antrat?

Reif: Das habe ich nie gemacht und werde ich auch nicht über Kollegen und Kolleginnen urteilen. Wenn er es nicht angemessen machen würde, würden es die Leute ihn auch nicht machen lassen. Wissen Sie, ich musste einmal wegen Krankheit absagen. Das Schlimme war, die haben trotzdem gespielt.

DFB.de: Wie viel Spaß macht Ihnen "Reif ist live"?

Reif: Sehr viel Spaß, sonst würde ich es nicht machen. Die Form passt, ich kann mich noch wichtig machen, ich kann noch auf den Markt tragen, was mich bewegt. Zweimal die Woche in Berlin, immer live. Ich muss morgens sehr früh aufstehen. Das hält Disziplin. In dem Moment, wo ich zum ersten Mal sage, was bitte wurde gerade gefragt, woher soll ich das wissen, verspreche ich Ihnen, verlasse ich auf dem Absatz kehrt machend das Studio.

DFB.de: Zum Abschluss: schauen Sie doch bitte nochmal auf die deutsche Gruppe bei der EM. Ihre Wahlheimat Schweiz, Schottland und Ungarn. Wie spannend wird die Gruppenphase?

Reif: Sie ist spannend, weil es Mannschaften sind, die durchaus eine eigene Qualität entwickelt haben. Die Schweizer halten inzwischen bei jedem Turnier auf hohem Niveau mit. Ein Ländchen mit 8,5 Millionen Einwohnern, faszinierend, wie gut die das hinkriegen. Die Ungarn, das ist die Wiedergeburt einer großen Fußballnation. Die Älteren wissen das, die anderen mögen schnell mal nachkucken. Und Schottland ist für mich ein Herzensland. Ich mag ihre Lust am Scheitern. Um es kurz zu machen, die deutsche Mannschaft ist für in dieser Gruppe Favorit. Aber wenn sie glaubt, damit wäre es schon erledigt, macht sie einen großen Fehler. Aber wenn man es seriös angeht, müsste man weiterkommen. Und dann kucken wir mal, was aus so einer EM zuhause werden kann.

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Der Jahresbericht der DFB-Stiftungen ist erschienen. Die 64 Seiten sind den Werten unseres Fußballs gewidmet und bieten einen Überblick der vielen Projekte der DFB-Kulturstiftung, der DFB-Stiftung Egidius Braun und der DFB-Stiftung Sepp Herberger.

Ein Interview mit Marcel Reif rundet den Bericht ab. Reif spricht über seine bewegende Rede im Bundestag anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages, über Antisemitismus in Deutschland und über sein Lebenswerk als der aus Sicht nicht weniger Fans beste Fußballkommentator des Landes.

DFB.de: Sie haben schon in größeren Sälen geredet und vor allem bei den Live-Übertragungen vor viel mehr Menschen. Hat es trotzdem ein wenig gekribbelt, als Sie ans Rednerpult gegangen sind?

Marcel Reif: "Ein bisschen" ist die Untertreibung des Tages. Das hat mit in ein Mikro, in irgendein Schaumstoffbällchen zu sprechen, nichts zu tun. Da sitzt der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Bundestagspräsidentin und das versammelte Plenum. Das war schon sehr aufregend. Gebe ich zu.

DFB.de: Wann war Ihnen klar, dass Sie über Ihren Vater reden würden?

Reif: Nach den Vorgesprächen. Ich hatte die Befürchtung, ich sollte für meinen Vater sprechen und seine Geschichte erzählen. Mir wurde von der Bundestagspräsidentin bedeutet, das sei überhaupt nicht die Idee, ich sollte meine Geschichte erzählen, als zweite Generation. Und da war mir klar, dass ich über meinen Vater sprechen muss.

DFB.de: Sie haben dem Deutschen Bundestag einen Satz von Leon Reif zurückgelassen, an den Sie sich, wie Sie selbst sagen, täglich mehr erinnern. "Sei ein Mensch" – droht es denn, dass wir diesen moralischen Imperativ verlieren? 

Reif: Nichts so allgemein und nicht flächendeckend. Das wäre ja noch schöner. An manchen Stellen aber, glaube ich, geht da was verloren. Gerade in Deutschland und gerade in der Beziehung, wie man mit andersartigen Menschen umgeht. Was ja in sich absurd ist. Jeder Mensch ist andersartig. Lassen Sie es mich besser sagen: Es geht etwas verloren, wie man mit dem anderen umgeht.

DFB.de: Müssen Hochrechnungen und Fantasien über Zwangsausweisungen deutscher Staatsbürger uns ängstigen? 

Reif: Dass muss einen nicht ängstigen, sondern entsetzen. Angst zu haben, reicht nicht, wir müssen das verhindern. Dass Dinge plötzlich normal oder gesellschaftsfähig werden, ist etwas, was nicht verhandelbar ist. 

DFB.de: Ihre Familie ist Mitte der fünfziger Jahre aus Polen über Israel nach Deutschland eingewandert.

Reif: Ja. Und wir können über jede Einwanderungspolitik, über Mechanismen, über Alles diskutieren. Aber wenn Dinge, die in diesem Land mal gang und gäbe waren, gewisse Denkweisen, wenn die sich wieder durchsetzen, dann hat Deutschland nichts begriffen. Dann hätte Deutschland seine zweite Chance vertan.

DFB.de: Auf das Potsdamer Treffen und die Correctiv-Reportage folgten Demonstrationen im ganzen Land. Endlich, dachten viele. In Ihrer Rede sprachen Sie vom "Wecken, wo nötig". Wie haben Sie es erlebt, dass der Satz Ihres Vaters auf unzähligen Schildern bei den Demos stand?

Reif: Erstmal ist es schön, wenn die Botschaft scheinbar einige, vielleicht viele Menschen erreicht hat. Der Satz ist ja auch von einer unfassbaren Einfachheit und Klarheit. Und Unmissverständlichkeit.

DFB.de: Gab es nach der Rede eine Reaktion, die Sie besonders gefreut hat? 

Reif: Da habe ich keine Rangliste aufgestellt. Ich habe zu 99,99 Prozent wunderbare Reaktionen bekommen. Meine Rede war das Weitergeben einer Geschichte und einer Erkenntnis. Ich habe auf die Rede Reaktionen von Parteivorsitzenden und Handwerkern bekommen. Wissen Sie, so eine Rede ist zu einem bestimmten Zeitpunkt und der ist schnell vergangen. Aber das Anliegen, die Sache ist zu wichtig.

DFB.de: Die Rede hat die Außenministerin zu Tränen gerührt. Haben Sie die Bilder auf Youtube oder anderswo gesehen?

Reif: Ja, natürlich. Aber noch einmal, mir ging es nicht um irgendeinen Effekt. Es ging mir um die Dinge, über die ich geredet habe.

DFB.de: Gemeinsam mit Kalle Rummenigge waren Sie vor ein paar Jahren Bühnengast bei der Verleihung des Julius Hirsch Preises. Erinnern Sie sich noch an die Preisverleihung?

Reif: Ja, ich habe die Laudatio für die Schickeria gehalten. Da war eine Preisverleihung mit Ecken und Kanten. Einerseits das Engagement der Münchner Ultras für die Erinnerung an den Klubpräsidenten Kurt Landauer. Ich habe der Schickeria ja auch während der Laudatio klar gesagt, für was sie den Julius Hirsch Preis nicht bekommen haben. Das war ambivalent. Aber, das will ich auch sagen, die haben sich meine Kritik uneingeschränkt angehört und wir haben uns anschließend sehr gut darüber unterhalten. Und dass hat mir damals besonders gefallen, dass man auch über strittige Punkte offen diskutieren konnte. Auch das droht uns verloren zu gehen. Wenn Sie nicht meiner Meinung sind, dann sind Sie schlecht und ich bin gut. Und umgekehrt. So kann Demokratie nicht funktionieren. Es braucht den lebendigen Diskurs. Und deshalb auch, weil Sie vorhin bei dieser einen Partei waren, ein Ausschlussverfahren wird nicht funktionieren. Wir müssen mit den Menschen, die die AfD wählen, die solchen Gedanken nachhängen, mit denen müssen wir in den politischen Diskurs gehen, die müssen wir decouvrieren. Mir haben die Demonstrationen nach der Offenlegung der Remigrations-Fantasien Hoffnung gemacht. Da wurde verstanden, dass wir uns äußern müssen. Eine schweigende Mehrheit darf es nie wieder geben. Eine schweigende Mehrheit, die vermeintlich nichts mitbekommen hat, die nichts gewusst hat, und wenn dann reagiert hat mit einem "So schlimm wird es schon nicht werden", so eine schweigende Mehrheit darf es nicht mehr geben. Das kann sehr schnell zu spät sein.

DFB.de: Die DFB-Stiftungen machen sich stark für viele Anliegen, etwa für Inklusion, für karitative Förderungen, gegen Antisemitismus, für Kultur, für Kinder aus finanziell schwächeren Familien, auch im Bereich Resozialisierung. Wie erleben und bewerten Sie das soziale Engagement des Fußballs? Und ärgert es Sie auch, wie uns gelegentlich, dass die Medien eben nicht über das Stiftungsengagement berichten?

Reif: Ja, das ist die Crux. Der Profifußball ist so laut geworden. Aber es wird Gutes getan und es wird das Richtige getan. Der Fußball hat irgendwann und vielleicht gerade noch rechtzeitig begriffen, dass man mit Glanz und Gloria und allem, was damit einhergeht, auch eine Verpflichtung hat. Wenn man schon so einen prominenten Platz in der Gesellschaft belegt, dann muss man sich auch entsprechend einbringen. Ich finde, die Stiftungen machen das sehr gut. Über das Stiftungsengagement und die vielen guten Geschichten wird medial nur selten berichtet, das stimmt, aber das zu beweinen oder zu beklagen, das ist ein bisschen wohlfeil. Das kann aber nicht dazu führen, dass man irgendwann beschließt, jetzt lassen wir es. Gutes tun und darüber reden. Und damit leben, dass die sehr schrillen Nebengeräusche des Fußballs manches übertönen. 

DFB.de: Reden wir also über Fußball. Sie haben mal Wolfgang Overath getunnelt. Und sind unbeschadet rausgekommen. Wie kam es dazu?

Reif: Aus purer Erschöpfung war ich nicht mehr in der Lage, den Versuch zu wagen, an ihm vorbeizulaufen. Also habe ich dem Ball den kürzesten Weg gegeben. Und als es passiert war, wurde mir schlagartig klar, was ich da getan hatte. Einem Idol den Ball durch die Beine gespielt. Das war damals bei einem Hallenkick der Kölschen Altprofis. Einmal die Wochen, die Granden spielten, und die haben mich eingeladen. Und dann passierte das. Ich habe versucht, das sofort mit Wolfgang Overath zu klären und es hat unserem Verhältnis nicht geschadet. Wir mögen uns gern. Aber ich bin damals ein großes Risiko eingegangen.

DFB.de: Overath hat auch im vorgerückten Alter seinen Ehrgeiz nie verloren.

Reif: Wer mit Wolfgang Overath Fußball spielte, musste wissen, worauf er sich einlässt. Verlieren ist keine Option. 

DFB.de: Gab es für Sie als junger Spieler mal den Traum von der Profikarriere?

Reif: Ich war sehr nah dran, spielte in der A-Jugend des 1. FC Kaiserslautern. Dann zogen meine Eltern von Kaiserslautern nach Halstenbek. Möglicherweise hat mir das Schicksal damit einen Hinweis gegeben. Irgendwann wurde mir klar, dass mir einige der Zutaten fehlten, die es neben dem Talent noch für eine Profikarriere bräuchte. Die Erkenntnis kam mir gottseidank rechtzeitig. So wie es am Ende gekommen ist, war es nicht verkehrt.

DFB.de: Welche Zutaten fehlten Ihnen?

Reif: Ach, so ein bisschen das, was man deutsche Tugenden nennt. Mit einer 1:0-Führung war ich ein Veranstalter rauschender Feste, da war ich bemerkenswert talentiert. Bei 0:1 war ich eher unsichtbar. Ich war ein Schönwetterfußballer.

DFB.de: Wie beurteilt der Fußballfachmann Marcel Reif den Einfluss des Fußballjournalisten Marcel Reif? Haben Sie den Livekommentar präziser gemacht?

Reif: Jetzt überfordern sie mich heillos. Ich bin nicht uneitel, aber über mich selbst sprechen…Jedenfalls war es nicht so, dass ich mir überlegt hätte, jetzt mache ich das mit dem Kommentar mal so. Beim Livekommentar über 90 Minuten da können sie nur so sein wie sie sind. Sie können das nicht Konfektionieren. Ich wurde angeleitet von wunderbaren Mentoren, Dieter Kürten als wichtigster. Die Dauer meiner Hervorbringungen in dem Metier ist Beleg dafür, dass ich es nicht ganz verkehrt gemacht habe. Manche fanden es gut, andere nicht. Was ich mir selbst zu gute halte ist, dass ich mein Handwerk verstand. Und das heißt Handwerk und fachliche Kompetenz.

DFB.de: Vor ihnen grassierte eine militärische und floskelreiche Sprache. Und manche Kommentatoren kannten nicht mal die Namen aller Spieler auf dem Platz.

Reif: Ach, das weiß ich nicht. Ich weiß noch, ich fing ja im politischen Journalismus an. Manchmal begegneten mir später Kollegen, die davon träumten, mal so richtig Journalismus zu machen. Ich habe denen gesagt: "Ihr habt sie wohl nicht alle. Die Quote, die wir kriegen mit einem Fußballspiel, da musste ich in der Politik lange für Stricken. Aber lasst es uns mit einem Wortschatz machen, der über den eines mittelmäßig begabten Schimpansen hinausgeht. Das war mir wichtig.

DFB.de: Wie macht es Wolff-Christoph Fuss, der damals ihre Nachfolge bei Premiere antrat?

Reif: Das habe ich nie gemacht und werde ich auch nicht über Kollegen und Kolleginnen urteilen. Wenn er es nicht angemessen machen würde, würden es die Leute ihn auch nicht machen lassen. Wissen Sie, ich musste einmal wegen Krankheit absagen. Das Schlimme war, die haben trotzdem gespielt.

DFB.de: Wie viel Spaß macht Ihnen "Reif ist live"?

Reif: Sehr viel Spaß, sonst würde ich es nicht machen. Die Form passt, ich kann mich noch wichtig machen, ich kann noch auf den Markt tragen, was mich bewegt. Zweimal die Woche in Berlin, immer live. Ich muss morgens sehr früh aufstehen. Das hält Disziplin. In dem Moment, wo ich zum ersten Mal sage, was bitte wurde gerade gefragt, woher soll ich das wissen, verspreche ich Ihnen, verlasse ich auf dem Absatz kehrt machend das Studio.

DFB.de: Zum Abschluss: schauen Sie doch bitte nochmal auf die deutsche Gruppe bei der EM. Ihre Wahlheimat Schweiz, Schottland und Ungarn. Wie spannend wird die Gruppenphase?

Reif: Sie ist spannend, weil es Mannschaften sind, die durchaus eine eigene Qualität entwickelt haben. Die Schweizer halten inzwischen bei jedem Turnier auf hohem Niveau mit. Ein Ländchen mit 8,5 Millionen Einwohnern, faszinierend, wie gut die das hinkriegen. Die Ungarn, das ist die Wiedergeburt einer großen Fußballnation. Die Älteren wissen das, die anderen mögen schnell mal nachkucken. Und Schottland ist für mich ein Herzensland. Ich mag ihre Lust am Scheitern. Um es kurz zu machen, die deutsche Mannschaft ist für in dieser Gruppe Favorit. Aber wenn sie glaubt, damit wäre es schon erledigt, macht sie einen großen Fehler. Aber wenn man es seriös angeht, müsste man weiterkommen. Und dann kucken wir mal, was aus so einer EM zuhause werden kann.

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