Frauen-EURO 2025

Nadine Angerer: "Ich traue der DFB-Auswahl alles zu"

26.03.2025
Nadine Angerer (l.) über die Schweizer Nationalmannschaft: "Wir können noch etwas an unserer Winner-Mentalität arbeiten" Foto: IMAGO

Nadine Angerer hat im Fußball fast alles erlebt. Fast alles gewonnen. Die Torhüterin hat 146 Länderspiele für die deutsche Frauen-Nationalmannschaft bestritten. Sie ist Europameisterin, Weltmeisterin, Deutsche Meisterin, DFB-Pokalsiegerin – und das alles mehrfach. Seit März vergangenen Jahres arbeitet sie als Torwarttrainerin für die Schweizer Nationalmannschaft. Im DFB.de-Interview spricht die 46-Jährige über die Arbeit im Austragungsland der EURO in diesem Sommer und über die Vorfreude im Land. Zudem ordnet sie ein, welche Chancen sie für die Schweizer Nationalmannschaft sieht und wie sie die DFB-Auswahl einschätzt - heute, genau 100 Tage vor dem ersten deutschen EM-Spiel am 4. Juli (ab 21 Uhr) gegen Polen.

DFB.de: Nadine Angerer, Sie sind seit einem Jahr Torwarttrainerin der Schweizer Frauen-Nationalmannschaft. Welche Erfahrungen haben Sie in dieser Rolle bislang gemacht?

Nadine Angerer: Man kann sagen, dass ich von einem Extrem ins andere Extrem gekommen bin. Vorher habe ich bei den Portland Thorns gearbeitet. In den USA denken ja viele, dass sie die Besten der Welt sind. Hier in der Schweiz sind die Menschen immer eher etwas zurückhaltender. Da sind bei mir zwei Welten aufeinandergetroffen. Ein großer neuer Schritt war zudem, vom Vereinsfußball zu einer Nationalmannschaft zu wechseln. Das Jahr war auch deshalb superspannend und aufregend. Ich weiß, dass der Schritt für mich genau richtig war.

DFB.de: Wie sind Sie in der Schweiz aufgenommen worden?

Angerer: Wirklich hervorragend. Ich fühle mich total wohl. Seit dem ersten Tag. Auch die Arbeit mit den Torhüterinnen macht extrem viel Spaß. Die Frauen sind jung und lernwillig. Ich merke, dass unsere gemeinsame Arbeit die Torhüterinnen besser macht – das macht mich glücklich. Ich freue mich auf jeden Lehrgang.

DFB.de: Zum Kader zählen auch zwei Torhüterinnen, die in der Google Pixel Frauen-Bundesliga spielen: Elvira Herzog von RB Leipzig und Livia Peng vom SV Werder Bremen.

Angerer: Beide sind sehr gute Torhüterinnen. Und in diesem Zusammenhang sollte man auch Nadine Böhi nicht vergessen, die hier in der Schweiz für den FC St. Gallen spielt. Elvira Herzog ist im Moment die Nummer eins, die beiden anderen sind die Herausforderinnen. Das ist wirklich eine gute Truppe, die wir zusammen haben.

DFB.de: Sie haben es angesprochen: In Portland standen Sie nahezu jeden Tag mit den Torhüterinnen auf dem Rasen. In der Schweiz ist das nur bei den Lehrgängen der Fall. Wie gehen Sie damit um?

Angerer: Darüber habe ich mir im Vorfeld viele Gedanken gemacht. Denn eigentlich ist es mir sehr wichtig, die Torhüterinnen am besten täglich zu sehen, um sie für den Wettkampf am nächsten Wochenende bereit zu machen. Jetzt arbeite ich etwas anders, strategischer. Und ich bin viel unterwegs, um unsere Torhüterinnen am Wochenende persönlich beobachten zu können. Ich habe mein Konzept dahingehend etwas angepasst. Die Arbeit macht insgesamt wahnsinnig viel Spaß. Ich bin glücklich über die aktuelle Konstellation.

DFB.de: Ende des vergangenen Jahres gab es ein Länderspiel zwischen der Schweiz und Deutschland. Die DFB-Auswahl gewann mit 6:0. Wie schauen Sie mit etwas Abstand auf die Begegnung zurück?

Angerer: Das Ergebnis ist meiner Meinung nach etwas zu hoch ausgefallen und spiegelt den Spielverlauf nicht korrekt wider. Wir haben es als Lerneffekt abgehakt. In der Begegnung stand Elvira Herzog bei uns im Tor. Wir haben nachher über die entscheidenden Szenen gesprochen. Insgesamt trifft sie wenig Schuld. Bei dem einen oder anderen Gegentor haben wir uns hinterher nochmal ihre Positionierung angeschaut. Aber auch ihre guten Aktionen, denn daran soll sie sich orientieren. Es war sicher kein schlechtes Spiel von ihr. Auch, wenn das Ergebnis vielleicht etwas anderes suggerieren könnte.

DFB.de: Wie wichtig ist es für Sie, dass sowohl Elvira Herzog als auch Livia Peng in Deutschland Woche für Woche auf höchstem Niveau gefordert sind?

Angerer: Für die Entwicklung der beiden ist das ganz entscheidend. Man darf nicht vergessen, dass sie noch relativ unerfahren sind. Elvira hat 19 Länderspiele bestritten, Livia erst sieben. Deshalb ist es für mich - und auch für unsere Cheftrainerin Pia Sundhage - so wichtig, dass sie in Deutschland spielen und dort viel lernen.

DFB.de: Vom 2. bis 27. Juli findet die Europameisterschaft der Frauen in der Schweiz statt. Wie ist die Stimmung dort aktuell, wie groß ist die Vorfreude?

Angerer: Die Vorfreude auf das Turnier ist riesig. Auch die Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauer bei unseren Länderspielen geht in die richtige Richtung. Gegen Australien waren 14.000 Fans da, gegen Frankreich sogar mehr als 16.000 – das sind für Schweizer Verhältnisse richtig gute Zahlen. Das Turnier ist überall präsent. Wenn ich durch Zürich laufe, sehe ich die beklebten Straßenbahnen, die auf die EURO hinweisen. Neulich bin ich mit dem Taxi gefahren und der Fahrer wusste auch schon genau Bescheid. Das sind für mich kleine, aber wichtige Indizien dafür, dass das Turnier in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit angekommen ist. Natürlich könnte es immer noch mehr sein. Aber wir sind auf einem vielversprechenden Weg.

DFB.de: Wie geht es Ihnen persönlich im Vorfeld des Turniers?

Angerer: Ich freue mich total darauf. Es ist mega, bei einer Heim-EM als Trainerin dabei sein zu dürfen. Ich sehe es als große Ehre an. Ich wünsche mir für unsere Spielerinnen, dass sie auch diese Freude spüren. Und dass sie zeigen können, welche Möglichkeiten der Schweizer Frauenfußball hat.

DFB.de: Wie wichtig ist das Turnier für den Frauenfußball in der Schweiz?

Angerer: Große Heimturniere sind immer sehr wichtig. Um dem Frauenfußball in der Schweiz nochmal einen richtigen Push zu geben, wäre ein erfolgreiches Turnier für uns natürlich entscheidend.

DFB.de: Was ist möglich aus Ihrer Sicht?

Angerer: Ich bin davon überzeugt, dass wir eine gute Rolle spielen können. Die Ergebnisse zuletzt zeigen das vielleicht nicht immer, gerade wenn ich an das Spiel gegen Deutschland denke. Aber wir haben gegen England nur knapp verloren und gegen Frankreich gewonnen. Das sind Topnationen im Frauenfußball. Wir sind derzeit die Nummer 23 der Weltrangliste. Wir sind jedoch dran. Mit uns ist zu rechnen.

DFB.de: Was fehlt noch für die absolute Weltspitze?

Angerer: Wir können noch etwas an unserer Winner-Mentalität arbeiten. Wir brauchen mehr Selbstvertrauen. Aber woher soll das auch kommen? Deutschland hat viele Titel gewonnen, die USA ebenfalls. Die Schweizerinnen noch nie. Wir brauchen große Erfolge. Das Potenzial ist auf jeden Fall da.

DFB.de: Es gibt immer wieder Beispiele, dass Gastgeberinnen oder Gastgeber bei Heimturnieren über sich hinauswachsen. Ist das auch Ihre Hoffnung?

Angerer: Ja, natürlich wäre das wünschenswert. Aber es gibt auch Beispiele für das Gegenteil: dass der Druck zu groß war. Wir müssen hier den richtigen Mittelweg finden. Ich traue es der Mannschaft in Zusammenarbeit mit den Fans zu, in einen Flow zu kommen. Wenn wir es hinbekommen, dass sich eine Eigendynamik entwickelt, ist vieles möglich. Wichtig ist, dass wir ohne Angst, aber mit viel Vorfreude ins Turnier gehen. Wir brauchen eine positive Arroganz.

DFB.de: Was trauen Sie der DFB-Auswahl zu?

Angerer: Alles. Aber man sieht an den Ergebnissen auch, dass vieles noch nicht stabil ist. Es gab einen großen Umbruch in der Mannschaft und im Trainerteam. Einmal spielt das Team unfassbar gut, dann liefert es ein Ergebnis ab, das für Deutschland untypisch ist. Ein Umbruch funktioniert nicht über Nacht. Geduld und Zeit sind nötig. Trotzdem zählt Deutschland natürlich zum Kreis der Favoriten.

DFB.de: Hatten Sie bereits die Möglichkeit, mit dem neuen Trainerteam der DFB-Auswahl zu sprechen?

Angerer: Mit Christian Wück habe ich nur kurz im Rahmen unseres Länderspiels Ende des vergangenen Jahres gesprochen. Aber die beiden Assistentinnen Maren Meinert und Saskia Bartusiak kenne ich natürlich sehr gut. Das sind zwei super Typen und absolute Expertinnen auf ihrem Gebiet. Da hat der DFB definitiv eine sehr gute Wahl getroffen.

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In Leipzig, genauer gesagt im "Restaurant zum Mariengarten", wurde am 28. Januar 1900 der Deutsche Fußball-Bund gegründet. Seinerzeit gehörten dem Verband überschaubare 90 Vereine an, aber das änderte sich rasch. Heute gibt es mehr als 24.000 Klubs mit mehr als 7,7 Millionen Mitgliedern. Dazwischen hat der DFB eine bewegte und bewegende Geschichte hingelegt, mit vielen Titeln, Tränen und Triumphen. 125 Jahre DFB bedeuten auch 125 Jahre Fußballliebe - für uns Anlass genug, auf dfb.de/fussballliebe zu sagen: "Ti amo, Fußball!" Auf dieser DFB.de-Subsite wollen wir auch mit den Fans und Fußballinteressierten in den Austausch kommen. Hier sammeln wir eure Themen - und machen sie zu unseren Themen.

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Autor: sw