Zum Titel in fünf Etappen: Wolfgang Niersbachs WM-Tagebuch von 1990

Vor 25 Jahren feierte Deutschland den dritten Stern – zum dritten Mal wurde eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft Weltmeister. Am 8. Juli 1990 besiegte die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer Argentinien im Finale von Rom 1:0. DFB.de blickt in einer Serie auf die Helden von Rom, die Geschichten hinter dem WM-Triumph und den Jubel der deutschen Fans zurück.

Im vergangenen Jahr feierte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach in Rio de Janeiro den Gewinn des vierten WM-Titels einer deutschen Nationalmannschaft. Schon 25 Jahre zuvor war er ganz nah dran. Als Pressechef des DFB begleitete er die Weltmeister-Mannschaft von 1990 und Teamchef Franz Beckenbauer vom ersten Tag der Vorbereitung an in Malente bis zur triumphalen Rückkehr nach Frankfurt. Für das DFB-Journal hielt Wolfgang Niersbach seine Erlebnisse damals in einem WM-Tagebuch fest. Wir dokumentieren seine Aufzeichnungen in Auszügen.

Malente 14. – 18. Mai

14. Mai

Weit über 1.000 Schaulustige bilden das Begrüßungskomitee am Eingang der Sportschule und verfolgen das erste Training. Beim ersten gemeinsamen Essen müssen Bodo Illgner und Thomas Berhold viele Hände schütteln. Beide haben im Wonnemonat Mai geheiratet.

15. Mai

Aufregung um Thomas Häßler, den alle wegen seiner Berliner Herkunft nur "Icke" nennen. In einem offenen Brief hat der kleine große Fußballer seinen Kölner Vereinstrainer Christoph Daum attackiert, womit die gewünschte Ruhe doch empfindlich gestört wird, denn die Medienvertreter wollen natürlich mehr wissen.

16. Mai

"Litti"- und "Olaf"-Rufe begleiten das Training, derweil die "Italiener" an allen Antennen der Sportschule basteln, ehe sie tatsächlich "RAI tre" auf dem Bildschirm haben. Ihr Pech: Das UEFA-Cup-Finale AC Florenz – Juventus Turin kommt auf "RAI uno", umsonst also war die ganze Tüftelei.

17. Mai

Abends, vor einem Ausflug ins Restaurant "Schiffergesellschaft" in Lübeck, will eine örtliche Fernsehstation von Sepp Maier wissen, ob er denn den Geist von Malente gefunden habe. Seine Antwort: "Ich bin jetzt schon so oft und so lange hier gewesen, habe aber nur den Himbeergeist gefunden."

18. Mai

Beim Abschied von Malente, beim Abschied von der Sportschule, die für fünf Tage zum Nabel der bundesdeutschen Fußball-Welt wurde und deren Telefonnummer plötzlich alle Welt zu kennen schien, begleitet alle der Blick Sepp Herbergers, dessen Konterfei im Speisesaal hängt. Der frühere Bundes-Sepp, der 1977 starb, schien allen sagen zu wollen: "Männer, gebt alles in Italien, wie wir 1954 …".

Kaiserau 21. – 30. Mai

21. Mai

Trost benötigen bei der Ankunft in Kaiserau die beiden Bremer, denn Karl-Heinz Riedle stellt fest: "Zweimal hintereinander das Finale zu verlieren ist schon deprimierend. Nach einer halben Stunde lagen wir 0:3 gegen Kaiserslautern zurück – unfassbar! Unsere beiden Tore fielen zu spät."

22. Mai

Die erste Hälfte des Tages ist für die Fotografen reserviert. Rund 60 haben sich schon morgens um zehn eingefunden, denn es gilt, das offizielle Mannschaftsfoto zur WM Italia 90 sowie 26 Einzelporträts (22 Spieler plus vier Trainer) abzulichten.

23. Mai

Die Rückennummern für die WM werden vergeben. Diese Sache scheint sehr leicht zu sein, ist sie aber nicht, denn verschiedene Spieler wollen ein und dieselbe Nummer, weil sie die vom Verein gewohnt sind. Bei anderen schwingt jede Menge Aberglaube mit.

24. Mai

Nachmittags beeindruckt Pierre Littbarski mit seiner Schlagfertigkeit und seinem Berliner Mutterwitz bei einem Redaktionsbesuch bei der Rheinischen Post in Düsseldorf. "Im Gegensatz zu Mexiko gibt es keine Cliquen-Wirtschaft. Das ist einer von vielen Vorteilen."

25. Mai

Beim gemeinsamen Mittagessen ermuntert Helmut Kohl die Spieler: "Lasst Euch nicht von den Medien verrückt machen. Bei einigen Journalisten stehe ich schon seit Jahren auf der Abstiegsliste, trotzdem spiele ich immer noch im Europapokal."

26. Mai

Beim leichten Vormittagstraining verspürt Karl-Heinz Riedle plötzlich starke Schmerzen im rechten Fuß. Ihm wird deshalb eine Pause verordnet.

27. Mai

Klaus Augenthaler lässt an diesem Sonntag seine Offensiv-Qualitäten erkennen. Im direkten Gespräch mit der versammelten Journaille wehrt sich der Bayern-Kapitän gegen die Darstellung, er habe einen handfesten Streit mit Franz Beckenbauer vom Zaun gebrochen.

28. Mai

Beim Fußball-Tennis nach Tischtennis-Regeln – diese Spielform erfreut sich größter Beliebtheit – behält Franz Beckenbauer knapp mit 21:18 und 21:15 die Oberhand über Berti Vogts.

29. Mai

Über 3.000 Zuschauer verfolgen das Training, und Franz Beckenbauer muss an diesem Tag etwa zehn Sonderinterviews für alle möglichen Fernsehstationen geben. Der "Kaiser" gerät ganz schön ins Schwitzen.

30. Mai

Abends, beim letzten WM-Test, gibt es einige Missstimmung, weil Franz Beckenbauer bis auf Torwart Bodo Illgner alle anderen Spieler zum Einsatz bringt. Insgesamt 21 an der Zahl – ein Novum in der Länderspiel-Geschichte des DFB. Nicht wenige Kritiker merken an, die "Institution" Länderspiel sei durch ein solches Wechselmanöver stark abgewertet worden.

Kaltern 2. – 8. Juni

2. Juni

Als der Bus im Hotel Seeleiten in Kaltern eintrifft, herrscht eine beispiellose Begeisterung. Tausende stehen am Straßenrand, auf dem Hotelhof intoniert die Blaskapelle Südtirol einen schmissigen Marsch, Landeshauptmann Dr. Luis Durnwalder spricht einige Begrüßungsworte, und die "Zeitung am Sonntag" druckt für ihre Pfingstausgabe die Schlagzeile: "Kaltern: Jetzt regiert König Fußball".

3. Juni

Obwohl sich gut 3.000 Zuschauer auf der Anlage drängeln, klappen die Absperrungen hervorragend. Der Ordnungsdienst funktioniert nur nicht, als ein Original-WM-Ball von einem Schlachtenbummler stiebitzt wird.

4. Juni

Der Umzug nach Eppan bringt Jürgen Kohler Unglück. Bei einer Sprintübung zieht er sich einen Muskelfaserriss zu, wie Prof. Heinrich Hess und Physiotherapeut Hans Montag mit kummervoller Miene diagnostizieren. Dies bedeutet: Die vermeintliche Wunschformation für den WM-Start ist geplatzt, denn "Koks" Kohler muss, wie er auch selber deprimiert feststellt, mindestens zehn Tage pausieren.

5. Juni

Die Volksfeststimmung in Südtirol strebt einem neuen, ungeahnten Höhepunkt entgegen, denn angesagt ist ein Testspiel gegen eine Südtiroler Amateurauswahl. Über 6.000 Zuschauer (Rekordbesuch) pilgern zur malerisch gelegenen Anlage im Wald hoch über Kaltern und sorgen für eine Einnahme von 55.000 Mark, die der DFB einem Waisenhaus in Brixen stiftet.

6. Juni

Das Presseaufkommen wird immer größer, und einem wird es sogar zu bunt. Pierre Littbarski, ein "Wackelkandidat" in der voraussichtlichen WM-Formation, mag die Fragen, ob er denn nun spiele oder nicht, nicht mehr hören und hat sich deshalb einen Zettel auf sein Jersey geklebt, wo zu lesen ist: "Ich weigere mich, heute Auskunft über die Mannschaftsaufstellung zu geben. Nähere Informationen beim Pressechef des DFB".

7. Juni

Der Gaudibursch Sepp Maier hat sich mal wieder etwas einfallen lassen. Der Massage-Koffer des Physiotherapeuten Adolf Katzenmaier wird vertauscht, in den präparierten Koffer kommt ein lebendiger Hase, dann täuscht beim Training ein Spieler (Andreas Brehme) eine Verletzung vor, "Adi" läuft auf den Platz, und heraus springt der Hase – so der Sepp Maier-Plan, der schon tagelang diskutiert wird und für Heiterkeitserfolge sorgt. Tatsächlich funktioniert er auch zur Freude der Kameraleute und Fotografen, allerdings mit einem Handicap: Der Hase ist bewegungsarm und guckt den verdutzten "Adi" nur müde an, als der Koffer geöffnet wird.

8. Juni

Als der Bus abfährt, verdrücken die Südtiroler Gastgeber manche Träne. Viele stehen winkend in den Fenstern ihrer Häuser. Was sie ausdrücken wollen, ist klar: "Macht es gut bei der WM, wir drücken Euch die Daumen!"

Erba 8. Juni – 6. Juli

8. Juni

Von wegen "Bella Italia"! Während der über dreistündigen Busfahrt von Kaltern nach Erba regnet es fast ununterbrochen, und als das "Castello di Casiglio" endlich erreicht ist, öffnet der Himmel noch einmal besonders heftig seine Schleusen. Die wenigen Meter zum Eingang des WM-Quartiers müssen im Sprinttempo zurückgelegt werden.

9. Juni

Um den neu verlegten Rasen im Meazza-Stadion zu schonen, hat die FIFA jegliches Training untersagt. Dennoch entschließt sich die DFB-Equipe zu einer Ortsbesichtigung mit Turnschuhen – für die drei Inter-Spieler eine willkommene Gelegenheit, jeden Bediensteten der prachtvollen Arena freundschaftlich zu grüßen. "Ciao Franco, Ciao Marco, Ciao Stefano", und so weiter. Keine Frage: Auf Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann (die Italiener rufen immer "Jurgen") warten richtige Heimspiele.

10. Juni

4:1 gegen Jugoslawien, ein phantastischer WM-Auftakt und letztlich zum Abschied eines wunderschönen Tages, der erst am Morgen des 11. Juni endet, eine Rückfahrt, die ein einziger Triumphzug wird. Kilometerlang nur Menschen, die begeistert winken, jubeln, applaudieren, deren ehrliche Freude an den Gesichtern abzulesen ist.

11. Juni

Erste Glückwunschtelegramme treffen ein: Von Hans-Dietrich Genscher über Udo Jürgens bis hin zum Präsidenten des AS Rom. In der jugoslawischen Presse steht, die deutsche Mannschaft habe Fußball aus dem "21. Jahrhundert" gezeigt und einer sei der große Inspirator: Lothar Matthäus.

13. Juni

Beim Training taucht plötzlich ein Scheich auf. Etwa ein Spion der Emirate? "Das nutzt Euch auch nichts", zischt Jürgen Kohler, als er bemerkt, wie eifrig sich der Beobachter Notizen macht. Allerdings handelt es sich um einen Reporter der Bild-Zeitung, der sich so ungewohnt gewandet hat, um mal zu testen, wie Trainer und Mannschaft reagieren.

14. Juni

Lothar Matthäus ist zum besten Spieler der Auftakt-Begegnung mit Jugoslawien gewählt worden. Eine noble Geste: Die Prämie von 1.000 Dollar stiftet der Kapitän für die Mexiko-Hilfe des DFB.

15. Juni

Der Rasen verdaut die sintflutartigen Regengüsse erstaunlich gut. Die deutsche Mannschaft dagegen vergibt zunächst mehrere glasklare Torchancen, ehe sie sich letztlich doch souverän mit 5:1 durchsetzt. Damit ist das Achtelfinale schon erreicht.

16. Juni

Lothar Matthäus spielt für Andreas Möller den Fremdenführer in Como, Franz Beckenbauer trifft sich mit seiner Frau Sybille in Bellagio, nur für Berti Vogts und Holger Osieck ist keine Ruhe angesagt. Sie beobachten in Turin und Genua mögliche Gegner, die wiederum mit Hochachtung vom deutschen Team sprechen.

17. Juni

Der Ehrgeiz ist schon immer seine große Stärke gewesen, deshalb verwundert es nicht, wie verbissen und zäh Jürgen Kohler an seinem Comeback arbeitet. Er quält sich im Einzeltraining mit Berti Vogts, ist total kaputt und trotzdem glücklich, denn er spürt: "Die Verletzung ist überwunden, der Muskelfaserriss ausgeheilt."

18. Juni

Weniger gut gelaunt ist Andreas Brehme. Grund: Nach zwei Gelben Karten ist er für das dritte WM-Spiel gesperrt. "In zwei Spielen habe ich zwei Fouls begangen, muss jetzt aussetzen und soll obendrein noch 5.000 Schweizer Franken zahlen."

19. Juni

"Wer sich gegen Kolumbien nicht richtig reinhängt, kann neben mir auf der Bank Platz nehmen." Trotz dieser eindringlichen Mahnung des Teamchefs läuft im dritten Gruppenspiel, von den ersten 20 Minuten einmal abgesehen, nur wenig nach Wunsch. Die Tore zum 1:1-Endstand fallen bei drückender Schwüle erst in einer hektischen Schlussphase, wobei die Frage erlaubt sein muss, warum der Unparteiische Alan Snoddy aus Nordirland bei drückender Schwüle – Spielbeginn war diesmal 17.00 Uhr – geschlagene vier Minuten nachspielen lässt.

20. Juni

Berti Vogts reist nach Turin zum Spiel Brasilien – Schottland (1:0), während sich Silvia Matthäus und Pilar Brehme zu einem Kurztrip nach Mainz verabschieden. Sie treten in einer Show-Sendung des ZDF auf und sprechen via Bild-/Ton-Leitung am Abend auch mit ihren Männern.

21. Juni

Spaßvogel Pierre Littbarski (wer sonst?) tritt gemeinsam mit Bodo Illgner als Team des DNF auf, des Deutschen Nationalelf-Fernsehens. Ausgerüstet mit Mütze, Sonnenbrille, Akkreditierung und einer ZDF-Kamera interviewt "Litti" die Berichterstatter und die Trainer.

22. Juni

Beim Pressemeeting fallen die Holländer ein, und ein Kollege aus den Niederlanden meint: "Die deutsche Mannschaft ist gegenüber 1988 viel stärker geworden. Wir wären sehr überrascht, wenn Holland gewinnt." Franz Beckenbauers Reaktion: "Wir auch."

23. Juni

Das "Castello di Casiglio" ist eine Art Wallfahrtsort geworden. Auf dem Parkplatz vor dem Quartier campieren viele deutsche Fans in der Hoffnung, irgendwann im Laufe eines Tages in direkten Kontakt mit den Spielern zu kommen, was ab und an auch möglich gemacht wird. Andere Schlachtenbummler sind mit der Hoffnung angereist, noch Tickets ergattern zu können.

24. Juni

In der Umkleidekabine geht es zu wie in einem Tollhaus mit Sauna-Temperaturen. Erstmals ertönen Freudengesänge, jeder fällt jedem um den Hals. Die Erleichterung, das Viertelfinale erreicht zu haben, dazu noch gegen die Holländer, die ja im Halbfinale der EURO 88 für einen schmerzhaften K.o. gesorgt hatten, ist unvorstellbar groß.

25. Juni

Mittags – die Spuren der durchfeierten Nacht sind bei einem Morgen-Training erfolgreich bekämpft worden – platzt der Saal der Pressekonferenz aus den Nähten. Im Mittelpunkt stehen der strahlende Held Jürgen Klinsmann und ein deprimierter Rudi Völler, der nur immer und immer wieder seine Unschuld beteuern kann.

26. Juni

Im DFB-Quartier treffen Dutzende von Telegrammen ein. Der einheitliche Tenor: Wir sind stolz auf Euch. Immerhin hat es in der Bundesrepublik mit 62 Prozent (dies entspricht 15 Millionen Zuschauern) bei der Direktübertragung der ARD einen neuen Einschaltquoten-Rekord gegeben. Fußball ist eben so "in" wie lange nicht mehr.

27. Juni

Außer Spesen nichts gewesen! Unter diesem Motto steht der Ausflug von Wilhelm Hennes, Rudi Völler und Lothar Matthäus nach Rom, denn die FIFA-Disziplinar-Kommission hört die Spieler wegen der Vorkommnisse im Holland-Spiel nicht einmal an und verkündet dann ihr Urteil: Ein Spiel Sperre für Rudi Völler, die Gelbe Karte für den Kapitän wird bestätigt. Allen wird klar: Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei Dinge.

28. Juni

Der Teamchef kündigt eine Aufstellung an, wie sie sich in den ersten drei Spielen bewährte, was bedeutet, dass Uwe Bein, nach seiner Nichtnominierung gegen Holland bitter enttäuscht, eine neue Chance erhält. Franz Beckenbauer lässt sich nicht in die Karten schauen, wer für ihn weichen muss.

29. Juni

Der Briefträger von Erba leistet in diesen Tagen Schwerstarbeit. Und kreuzt fast im Minutentakt auf, weil immer neue Telegramme eintreffen. Zudem steht im kleinen DFB-Büro das Telefon nicht mehr still. Karten, Karten, Karten! Doch leider haben die meisten Anrufer kein Glück mehr, auch das Spiel gegen die Tschechoslowakei ist restlos ausverkauft.

30. Juni

Nachts, als Italiens 1:0-Sieg gegen Irland feststeht, verkünden Hupkonzerte rund um das DFB-Quartier von der unerschütterlichen Zuversicht, zum vierten Mal Weltmeister zu werden. Nur gut, dass die Carabinieri die Via Cantu weitläufig abgesperrt haben, sonst wäre keiner in den Schlaf gekommen.

1. Juli

Bei drückender Schwüle in der San Siro-Arena erfüllt die deutsche Mannschaft nur in der ersten Stunde die hohen Erwartungen, Lothar Matthäus besorgt per Elfmeter auch die 1:0-Führung. Doch ausgerechnet nach einem Platzverweis gegen die CSFR reißt der Faden, bringt das deutsche Team den knappen Vorsprung nur mit Mühe über die Zeit, was wiederum Franz Beckenbauer schier zur Weißglut treibt.

2. Juli

Rund 300 Journalisten löchern den Teamchef in allen möglichen Sprachen, fast eine Stunde dauert dieses Kreuzverhör. Auch die Spieler hetzen von Mikrofon zu Mikrofon. Das schwedische Fernsehen ist erstmals da und will "nur Jürgen Klinsmann", die Mexikaner möchten den "blonden Stürmer mit der Nummer 18", und auch die RAI, das italienische TV, will "natürlich Jurgen". Der arme "Klinsi" ist ganz schön geschafft.

3. Juli

Ganz Italien trauert, die Straßen, auf denen die großen Siegesfeiern starten sollten, sind wie ausgestorben. Vor dem Bildschirm erleben die deutschen Spieler das Drama mit, und die Reaktionen auf den K.o. fallen sehr unterschiedlich aus. "Italien hätten wir es gegönnt", sagen die einen. "Jetzt wird es für uns leichter", glauben die anderen. Niemand mag daran denken, dass das "Traumfinale" Italien – Deutschland nun vielleicht in Bari stattfinden könnte – als Spiel um den dritten Platz.

4. Juli

Was dann, nach dem Anpfiff um 20 Uhr, in der Turiner Prachtarena bis hin zum Happy End im Elfmeterschießen passiert, wird ebenso Einzug in die Geschichtsbücher halten wie die Ereignisse vom 4. Juli 1954. Sogar Rudi Völler kann wieder lachen, denn die Verletzung, die ihn schon in der Anfangsphase zum Ausscheiden zwang, macht schon keinen Kummer mehr: "Das Bein ist in Ordnung. Am Sonntag bin ich dabei!" Ab sofort drehen sich alle Gedanken und Diskussionen um das große Finale in Rom.

5. Juli

Die Weltpresse pilgert nach Erba und sucht verzweifelt nach einer Erklärung für die Tatsache, dass die DFB-Elite zum fünften Mal in 16 Jahren das Finale erreicht hat. "Glück hat auf Dauer nur der Tüchtige", heißt die Antwort des Teamchefs. Er wirkt locker, gelöst, humorig und aufgeräumt – wer kann es ihm verdenken?

6. Juli

Auf den Gängen des Castellos, in den einzelnen Zimmern und natürlich auch im Büro herrscht ein heilloses Durcheinander. Und zwischendurch immer wieder Anrufe mit ein und derselben Frage: "Gibt es noch Endspielkarten?" Die Antwort: "Leider nein." Der DFB erhält als Endspielteilnehmer lediglich noch ein bescheidenes Kontingent von 500 Karten. Allein Andreas Brehme bräuchte 300 …

Rom und Frankfurt 7. – 9. Juli

7. Juli

Die Klimaanlage muss auf Hochtouren arbeiten. Abends, beim Training im wunderschönen Olympiastadion, ist es nicht anders. Da die Argentinier vorher den Rasen testen, kommt es zu einer kurzen Begegnung mit Diego Maradona. Mehr als ein etwas zerknirschtes "Ciao" lässt er sich nicht entlocken.

8. Juli

Deutschland ist zum dritten Mal Weltmeister, die Spieler haben diesen Triumph schon bei der Siegerehrung und der Ehrenrunde im Stadion ausgekostet, jetzt in der Kabine aber flippen sie fast aus vor Freude. Bundeskanzler Helmut Kohl muss einen schnellen Side-Step einlegen, um der von Rudi Völler entfachten Champagner-Dusche zu entgehen. Es ist alles in allem ein Bild der überschwenglichen Begeisterung, jeder umarmt jeden, der Goldpokal wandert von Hand zu Hand zum Triumphmarsch aus Aida, intoniert von einem lauten Männerchor. 4. Juli 1954 in Bern, 7. Juli 1974 in München und 8. Juli 1990 in Rom: Zum dritten Mal steht die deutsche Nationalmannschaft auf dem Gipfel.

9. Juli

Der Empfang in Frankfurt, die letzte Etappe des WM-Rennens mit den Stationen Malente, Kaiserau, Kaltern, Erba und Rom, übersteigt dann jegliche Vorstellungskraft. Zehntausende stehen an den Straßen, als die Spieler in offenen Mercedes-Wagen vom Flughafen ins Stadtzentrum chauffiert werden. Der Platz vor dem historischen Römer gleicht einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer. "Ich habe schon tolle Sachen erlebt, aber eine solche Begeisterung noch nie", meint Franz Beckenbauer. Als sich der Teamchef und seine Mannen auf dem Rathausbalkon zeigen, steigert sich der Jubel zum Fortissimo.

[dfb]

Vor 25 Jahren feierte Deutschland den dritten Stern – zum dritten Mal wurde eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft Weltmeister. Am 8. Juli 1990 besiegte die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer Argentinien im Finale von Rom 1:0. DFB.de blickt in einer Serie auf die Helden von Rom, die Geschichten hinter dem WM-Triumph und den Jubel der deutschen Fans zurück.

Im vergangenen Jahr feierte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach in Rio de Janeiro den Gewinn des vierten WM-Titels einer deutschen Nationalmannschaft. Schon 25 Jahre zuvor war er ganz nah dran. Als Pressechef des DFB begleitete er die Weltmeister-Mannschaft von 1990 und Teamchef Franz Beckenbauer vom ersten Tag der Vorbereitung an in Malente bis zur triumphalen Rückkehr nach Frankfurt. Für das DFB-Journal hielt Wolfgang Niersbach seine Erlebnisse damals in einem WM-Tagebuch fest. Wir dokumentieren seine Aufzeichnungen in Auszügen.

Malente 14. – 18. Mai

14. Mai

Weit über 1.000 Schaulustige bilden das Begrüßungskomitee am Eingang der Sportschule und verfolgen das erste Training. Beim ersten gemeinsamen Essen müssen Bodo Illgner und Thomas Berhold viele Hände schütteln. Beide haben im Wonnemonat Mai geheiratet.

15. Mai

Aufregung um Thomas Häßler, den alle wegen seiner Berliner Herkunft nur "Icke" nennen. In einem offenen Brief hat der kleine große Fußballer seinen Kölner Vereinstrainer Christoph Daum attackiert, womit die gewünschte Ruhe doch empfindlich gestört wird, denn die Medienvertreter wollen natürlich mehr wissen.

16. Mai

"Litti"- und "Olaf"-Rufe begleiten das Training, derweil die "Italiener" an allen Antennen der Sportschule basteln, ehe sie tatsächlich "RAI tre" auf dem Bildschirm haben. Ihr Pech: Das UEFA-Cup-Finale AC Florenz – Juventus Turin kommt auf "RAI uno", umsonst also war die ganze Tüftelei.

17. Mai

Abends, vor einem Ausflug ins Restaurant "Schiffergesellschaft" in Lübeck, will eine örtliche Fernsehstation von Sepp Maier wissen, ob er denn den Geist von Malente gefunden habe. Seine Antwort: "Ich bin jetzt schon so oft und so lange hier gewesen, habe aber nur den Himbeergeist gefunden."

18. Mai

Beim Abschied von Malente, beim Abschied von der Sportschule, die für fünf Tage zum Nabel der bundesdeutschen Fußball-Welt wurde und deren Telefonnummer plötzlich alle Welt zu kennen schien, begleitet alle der Blick Sepp Herbergers, dessen Konterfei im Speisesaal hängt. Der frühere Bundes-Sepp, der 1977 starb, schien allen sagen zu wollen: "Männer, gebt alles in Italien, wie wir 1954 …".

Kaiserau 21. – 30. Mai

21. Mai

Trost benötigen bei der Ankunft in Kaiserau die beiden Bremer, denn Karl-Heinz Riedle stellt fest: "Zweimal hintereinander das Finale zu verlieren ist schon deprimierend. Nach einer halben Stunde lagen wir 0:3 gegen Kaiserslautern zurück – unfassbar! Unsere beiden Tore fielen zu spät."

22. Mai

Die erste Hälfte des Tages ist für die Fotografen reserviert. Rund 60 haben sich schon morgens um zehn eingefunden, denn es gilt, das offizielle Mannschaftsfoto zur WM Italia 90 sowie 26 Einzelporträts (22 Spieler plus vier Trainer) abzulichten.

23. Mai

Die Rückennummern für die WM werden vergeben. Diese Sache scheint sehr leicht zu sein, ist sie aber nicht, denn verschiedene Spieler wollen ein und dieselbe Nummer, weil sie die vom Verein gewohnt sind. Bei anderen schwingt jede Menge Aberglaube mit.

24. Mai

Nachmittags beeindruckt Pierre Littbarski mit seiner Schlagfertigkeit und seinem Berliner Mutterwitz bei einem Redaktionsbesuch bei der Rheinischen Post in Düsseldorf. "Im Gegensatz zu Mexiko gibt es keine Cliquen-Wirtschaft. Das ist einer von vielen Vorteilen."

25. Mai

Beim gemeinsamen Mittagessen ermuntert Helmut Kohl die Spieler: "Lasst Euch nicht von den Medien verrückt machen. Bei einigen Journalisten stehe ich schon seit Jahren auf der Abstiegsliste, trotzdem spiele ich immer noch im Europapokal."

26. Mai

Beim leichten Vormittagstraining verspürt Karl-Heinz Riedle plötzlich starke Schmerzen im rechten Fuß. Ihm wird deshalb eine Pause verordnet.

27. Mai

Klaus Augenthaler lässt an diesem Sonntag seine Offensiv-Qualitäten erkennen. Im direkten Gespräch mit der versammelten Journaille wehrt sich der Bayern-Kapitän gegen die Darstellung, er habe einen handfesten Streit mit Franz Beckenbauer vom Zaun gebrochen.

28. Mai

Beim Fußball-Tennis nach Tischtennis-Regeln – diese Spielform erfreut sich größter Beliebtheit – behält Franz Beckenbauer knapp mit 21:18 und 21:15 die Oberhand über Berti Vogts.

29. Mai

Über 3.000 Zuschauer verfolgen das Training, und Franz Beckenbauer muss an diesem Tag etwa zehn Sonderinterviews für alle möglichen Fernsehstationen geben. Der "Kaiser" gerät ganz schön ins Schwitzen.

30. Mai

Abends, beim letzten WM-Test, gibt es einige Missstimmung, weil Franz Beckenbauer bis auf Torwart Bodo Illgner alle anderen Spieler zum Einsatz bringt. Insgesamt 21 an der Zahl – ein Novum in der Länderspiel-Geschichte des DFB. Nicht wenige Kritiker merken an, die "Institution" Länderspiel sei durch ein solches Wechselmanöver stark abgewertet worden.

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Kaltern 2. – 8. Juni

2. Juni

Als der Bus im Hotel Seeleiten in Kaltern eintrifft, herrscht eine beispiellose Begeisterung. Tausende stehen am Straßenrand, auf dem Hotelhof intoniert die Blaskapelle Südtirol einen schmissigen Marsch, Landeshauptmann Dr. Luis Durnwalder spricht einige Begrüßungsworte, und die "Zeitung am Sonntag" druckt für ihre Pfingstausgabe die Schlagzeile: "Kaltern: Jetzt regiert König Fußball".

3. Juni

Obwohl sich gut 3.000 Zuschauer auf der Anlage drängeln, klappen die Absperrungen hervorragend. Der Ordnungsdienst funktioniert nur nicht, als ein Original-WM-Ball von einem Schlachtenbummler stiebitzt wird.

4. Juni

Der Umzug nach Eppan bringt Jürgen Kohler Unglück. Bei einer Sprintübung zieht er sich einen Muskelfaserriss zu, wie Prof. Heinrich Hess und Physiotherapeut Hans Montag mit kummervoller Miene diagnostizieren. Dies bedeutet: Die vermeintliche Wunschformation für den WM-Start ist geplatzt, denn "Koks" Kohler muss, wie er auch selber deprimiert feststellt, mindestens zehn Tage pausieren.

5. Juni

Die Volksfeststimmung in Südtirol strebt einem neuen, ungeahnten Höhepunkt entgegen, denn angesagt ist ein Testspiel gegen eine Südtiroler Amateurauswahl. Über 6.000 Zuschauer (Rekordbesuch) pilgern zur malerisch gelegenen Anlage im Wald hoch über Kaltern und sorgen für eine Einnahme von 55.000 Mark, die der DFB einem Waisenhaus in Brixen stiftet.

6. Juni

Das Presseaufkommen wird immer größer, und einem wird es sogar zu bunt. Pierre Littbarski, ein "Wackelkandidat" in der voraussichtlichen WM-Formation, mag die Fragen, ob er denn nun spiele oder nicht, nicht mehr hören und hat sich deshalb einen Zettel auf sein Jersey geklebt, wo zu lesen ist: "Ich weigere mich, heute Auskunft über die Mannschaftsaufstellung zu geben. Nähere Informationen beim Pressechef des DFB".

7. Juni

Der Gaudibursch Sepp Maier hat sich mal wieder etwas einfallen lassen. Der Massage-Koffer des Physiotherapeuten Adolf Katzenmaier wird vertauscht, in den präparierten Koffer kommt ein lebendiger Hase, dann täuscht beim Training ein Spieler (Andreas Brehme) eine Verletzung vor, "Adi" läuft auf den Platz, und heraus springt der Hase – so der Sepp Maier-Plan, der schon tagelang diskutiert wird und für Heiterkeitserfolge sorgt. Tatsächlich funktioniert er auch zur Freude der Kameraleute und Fotografen, allerdings mit einem Handicap: Der Hase ist bewegungsarm und guckt den verdutzten "Adi" nur müde an, als der Koffer geöffnet wird.

8. Juni

Als der Bus abfährt, verdrücken die Südtiroler Gastgeber manche Träne. Viele stehen winkend in den Fenstern ihrer Häuser. Was sie ausdrücken wollen, ist klar: "Macht es gut bei der WM, wir drücken Euch die Daumen!"

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Erba 8. Juni – 6. Juli

8. Juni

Von wegen "Bella Italia"! Während der über dreistündigen Busfahrt von Kaltern nach Erba regnet es fast ununterbrochen, und als das "Castello di Casiglio" endlich erreicht ist, öffnet der Himmel noch einmal besonders heftig seine Schleusen. Die wenigen Meter zum Eingang des WM-Quartiers müssen im Sprinttempo zurückgelegt werden.

9. Juni

Um den neu verlegten Rasen im Meazza-Stadion zu schonen, hat die FIFA jegliches Training untersagt. Dennoch entschließt sich die DFB-Equipe zu einer Ortsbesichtigung mit Turnschuhen – für die drei Inter-Spieler eine willkommene Gelegenheit, jeden Bediensteten der prachtvollen Arena freundschaftlich zu grüßen. "Ciao Franco, Ciao Marco, Ciao Stefano", und so weiter. Keine Frage: Auf Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann (die Italiener rufen immer "Jurgen") warten richtige Heimspiele.

10. Juni

4:1 gegen Jugoslawien, ein phantastischer WM-Auftakt und letztlich zum Abschied eines wunderschönen Tages, der erst am Morgen des 11. Juni endet, eine Rückfahrt, die ein einziger Triumphzug wird. Kilometerlang nur Menschen, die begeistert winken, jubeln, applaudieren, deren ehrliche Freude an den Gesichtern abzulesen ist.

11. Juni

Erste Glückwunschtelegramme treffen ein: Von Hans-Dietrich Genscher über Udo Jürgens bis hin zum Präsidenten des AS Rom. In der jugoslawischen Presse steht, die deutsche Mannschaft habe Fußball aus dem "21. Jahrhundert" gezeigt und einer sei der große Inspirator: Lothar Matthäus.

13. Juni

Beim Training taucht plötzlich ein Scheich auf. Etwa ein Spion der Emirate? "Das nutzt Euch auch nichts", zischt Jürgen Kohler, als er bemerkt, wie eifrig sich der Beobachter Notizen macht. Allerdings handelt es sich um einen Reporter der Bild-Zeitung, der sich so ungewohnt gewandet hat, um mal zu testen, wie Trainer und Mannschaft reagieren.

14. Juni

Lothar Matthäus ist zum besten Spieler der Auftakt-Begegnung mit Jugoslawien gewählt worden. Eine noble Geste: Die Prämie von 1.000 Dollar stiftet der Kapitän für die Mexiko-Hilfe des DFB.

15. Juni

Der Rasen verdaut die sintflutartigen Regengüsse erstaunlich gut. Die deutsche Mannschaft dagegen vergibt zunächst mehrere glasklare Torchancen, ehe sie sich letztlich doch souverän mit 5:1 durchsetzt. Damit ist das Achtelfinale schon erreicht.

16. Juni

Lothar Matthäus spielt für Andreas Möller den Fremdenführer in Como, Franz Beckenbauer trifft sich mit seiner Frau Sybille in Bellagio, nur für Berti Vogts und Holger Osieck ist keine Ruhe angesagt. Sie beobachten in Turin und Genua mögliche Gegner, die wiederum mit Hochachtung vom deutschen Team sprechen.

17. Juni

Der Ehrgeiz ist schon immer seine große Stärke gewesen, deshalb verwundert es nicht, wie verbissen und zäh Jürgen Kohler an seinem Comeback arbeitet. Er quält sich im Einzeltraining mit Berti Vogts, ist total kaputt und trotzdem glücklich, denn er spürt: "Die Verletzung ist überwunden, der Muskelfaserriss ausgeheilt."

18. Juni

Weniger gut gelaunt ist Andreas Brehme. Grund: Nach zwei Gelben Karten ist er für das dritte WM-Spiel gesperrt. "In zwei Spielen habe ich zwei Fouls begangen, muss jetzt aussetzen und soll obendrein noch 5.000 Schweizer Franken zahlen."

19. Juni

"Wer sich gegen Kolumbien nicht richtig reinhängt, kann neben mir auf der Bank Platz nehmen." Trotz dieser eindringlichen Mahnung des Teamchefs läuft im dritten Gruppenspiel, von den ersten 20 Minuten einmal abgesehen, nur wenig nach Wunsch. Die Tore zum 1:1-Endstand fallen bei drückender Schwüle erst in einer hektischen Schlussphase, wobei die Frage erlaubt sein muss, warum der Unparteiische Alan Snoddy aus Nordirland bei drückender Schwüle – Spielbeginn war diesmal 17.00 Uhr – geschlagene vier Minuten nachspielen lässt.

20. Juni

Berti Vogts reist nach Turin zum Spiel Brasilien – Schottland (1:0), während sich Silvia Matthäus und Pilar Brehme zu einem Kurztrip nach Mainz verabschieden. Sie treten in einer Show-Sendung des ZDF auf und sprechen via Bild-/Ton-Leitung am Abend auch mit ihren Männern.

21. Juni

Spaßvogel Pierre Littbarski (wer sonst?) tritt gemeinsam mit Bodo Illgner als Team des DNF auf, des Deutschen Nationalelf-Fernsehens. Ausgerüstet mit Mütze, Sonnenbrille, Akkreditierung und einer ZDF-Kamera interviewt "Litti" die Berichterstatter und die Trainer.

22. Juni

Beim Pressemeeting fallen die Holländer ein, und ein Kollege aus den Niederlanden meint: "Die deutsche Mannschaft ist gegenüber 1988 viel stärker geworden. Wir wären sehr überrascht, wenn Holland gewinnt." Franz Beckenbauers Reaktion: "Wir auch."

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23. Juni

Das "Castello di Casiglio" ist eine Art Wallfahrtsort geworden. Auf dem Parkplatz vor dem Quartier campieren viele deutsche Fans in der Hoffnung, irgendwann im Laufe eines Tages in direkten Kontakt mit den Spielern zu kommen, was ab und an auch möglich gemacht wird. Andere Schlachtenbummler sind mit der Hoffnung angereist, noch Tickets ergattern zu können.

24. Juni

In der Umkleidekabine geht es zu wie in einem Tollhaus mit Sauna-Temperaturen. Erstmals ertönen Freudengesänge, jeder fällt jedem um den Hals. Die Erleichterung, das Viertelfinale erreicht zu haben, dazu noch gegen die Holländer, die ja im Halbfinale der EURO 88 für einen schmerzhaften K.o. gesorgt hatten, ist unvorstellbar groß.

25. Juni

Mittags – die Spuren der durchfeierten Nacht sind bei einem Morgen-Training erfolgreich bekämpft worden – platzt der Saal der Pressekonferenz aus den Nähten. Im Mittelpunkt stehen der strahlende Held Jürgen Klinsmann und ein deprimierter Rudi Völler, der nur immer und immer wieder seine Unschuld beteuern kann.

26. Juni

Im DFB-Quartier treffen Dutzende von Telegrammen ein. Der einheitliche Tenor: Wir sind stolz auf Euch. Immerhin hat es in der Bundesrepublik mit 62 Prozent (dies entspricht 15 Millionen Zuschauern) bei der Direktübertragung der ARD einen neuen Einschaltquoten-Rekord gegeben. Fußball ist eben so "in" wie lange nicht mehr.

27. Juni

Außer Spesen nichts gewesen! Unter diesem Motto steht der Ausflug von Wilhelm Hennes, Rudi Völler und Lothar Matthäus nach Rom, denn die FIFA-Disziplinar-Kommission hört die Spieler wegen der Vorkommnisse im Holland-Spiel nicht einmal an und verkündet dann ihr Urteil: Ein Spiel Sperre für Rudi Völler, die Gelbe Karte für den Kapitän wird bestätigt. Allen wird klar: Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei Dinge.

28. Juni

Der Teamchef kündigt eine Aufstellung an, wie sie sich in den ersten drei Spielen bewährte, was bedeutet, dass Uwe Bein, nach seiner Nichtnominierung gegen Holland bitter enttäuscht, eine neue Chance erhält. Franz Beckenbauer lässt sich nicht in die Karten schauen, wer für ihn weichen muss.

29. Juni

Der Briefträger von Erba leistet in diesen Tagen Schwerstarbeit. Und kreuzt fast im Minutentakt auf, weil immer neue Telegramme eintreffen. Zudem steht im kleinen DFB-Büro das Telefon nicht mehr still. Karten, Karten, Karten! Doch leider haben die meisten Anrufer kein Glück mehr, auch das Spiel gegen die Tschechoslowakei ist restlos ausverkauft.

30. Juni

Nachts, als Italiens 1:0-Sieg gegen Irland feststeht, verkünden Hupkonzerte rund um das DFB-Quartier von der unerschütterlichen Zuversicht, zum vierten Mal Weltmeister zu werden. Nur gut, dass die Carabinieri die Via Cantu weitläufig abgesperrt haben, sonst wäre keiner in den Schlaf gekommen.

1. Juli

Bei drückender Schwüle in der San Siro-Arena erfüllt die deutsche Mannschaft nur in der ersten Stunde die hohen Erwartungen, Lothar Matthäus besorgt per Elfmeter auch die 1:0-Führung. Doch ausgerechnet nach einem Platzverweis gegen die CSFR reißt der Faden, bringt das deutsche Team den knappen Vorsprung nur mit Mühe über die Zeit, was wiederum Franz Beckenbauer schier zur Weißglut treibt.

2. Juli

Rund 300 Journalisten löchern den Teamchef in allen möglichen Sprachen, fast eine Stunde dauert dieses Kreuzverhör. Auch die Spieler hetzen von Mikrofon zu Mikrofon. Das schwedische Fernsehen ist erstmals da und will "nur Jürgen Klinsmann", die Mexikaner möchten den "blonden Stürmer mit der Nummer 18", und auch die RAI, das italienische TV, will "natürlich Jurgen". Der arme "Klinsi" ist ganz schön geschafft.

3. Juli

Ganz Italien trauert, die Straßen, auf denen die großen Siegesfeiern starten sollten, sind wie ausgestorben. Vor dem Bildschirm erleben die deutschen Spieler das Drama mit, und die Reaktionen auf den K.o. fallen sehr unterschiedlich aus. "Italien hätten wir es gegönnt", sagen die einen. "Jetzt wird es für uns leichter", glauben die anderen. Niemand mag daran denken, dass das "Traumfinale" Italien – Deutschland nun vielleicht in Bari stattfinden könnte – als Spiel um den dritten Platz.

4. Juli

Was dann, nach dem Anpfiff um 20 Uhr, in der Turiner Prachtarena bis hin zum Happy End im Elfmeterschießen passiert, wird ebenso Einzug in die Geschichtsbücher halten wie die Ereignisse vom 4. Juli 1954. Sogar Rudi Völler kann wieder lachen, denn die Verletzung, die ihn schon in der Anfangsphase zum Ausscheiden zwang, macht schon keinen Kummer mehr: "Das Bein ist in Ordnung. Am Sonntag bin ich dabei!" Ab sofort drehen sich alle Gedanken und Diskussionen um das große Finale in Rom.

5. Juli

Die Weltpresse pilgert nach Erba und sucht verzweifelt nach einer Erklärung für die Tatsache, dass die DFB-Elite zum fünften Mal in 16 Jahren das Finale erreicht hat. "Glück hat auf Dauer nur der Tüchtige", heißt die Antwort des Teamchefs. Er wirkt locker, gelöst, humorig und aufgeräumt – wer kann es ihm verdenken?

6. Juli

Auf den Gängen des Castellos, in den einzelnen Zimmern und natürlich auch im Büro herrscht ein heilloses Durcheinander. Und zwischendurch immer wieder Anrufe mit ein und derselben Frage: "Gibt es noch Endspielkarten?" Die Antwort: "Leider nein." Der DFB erhält als Endspielteilnehmer lediglich noch ein bescheidenes Kontingent von 500 Karten. Allein Andreas Brehme bräuchte 300 …

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Rom und Frankfurt 7. – 9. Juli

7. Juli

Die Klimaanlage muss auf Hochtouren arbeiten. Abends, beim Training im wunderschönen Olympiastadion, ist es nicht anders. Da die Argentinier vorher den Rasen testen, kommt es zu einer kurzen Begegnung mit Diego Maradona. Mehr als ein etwas zerknirschtes "Ciao" lässt er sich nicht entlocken.

8. Juli

Deutschland ist zum dritten Mal Weltmeister, die Spieler haben diesen Triumph schon bei der Siegerehrung und der Ehrenrunde im Stadion ausgekostet, jetzt in der Kabine aber flippen sie fast aus vor Freude. Bundeskanzler Helmut Kohl muss einen schnellen Side-Step einlegen, um der von Rudi Völler entfachten Champagner-Dusche zu entgehen. Es ist alles in allem ein Bild der überschwenglichen Begeisterung, jeder umarmt jeden, der Goldpokal wandert von Hand zu Hand zum Triumphmarsch aus Aida, intoniert von einem lauten Männerchor. 4. Juli 1954 in Bern, 7. Juli 1974 in München und 8. Juli 1990 in Rom: Zum dritten Mal steht die deutsche Nationalmannschaft auf dem Gipfel.

9. Juli

Der Empfang in Frankfurt, die letzte Etappe des WM-Rennens mit den Stationen Malente, Kaiserau, Kaltern, Erba und Rom, übersteigt dann jegliche Vorstellungskraft. Zehntausende stehen an den Straßen, als die Spieler in offenen Mercedes-Wagen vom Flughafen ins Stadtzentrum chauffiert werden. Der Platz vor dem historischen Römer gleicht einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer. "Ich habe schon tolle Sachen erlebt, aber eine solche Begeisterung noch nie", meint Franz Beckenbauer. Als sich der Teamchef und seine Mannen auf dem Rathausbalkon zeigen, steigert sich der Jubel zum Fortissimo.