Weise: "Löw hat ein Luxusproblem"

Wenn es denn dieses viel zu oft zitierte Siegergen geben würde, Markus Weise hätte es ganz sicher. Der Chef der deutschen Hockeymänner ist der erfolgreichste deutsche Bundestrainer überhaupt. Dreimal in Folge hat er bei Olympia das Maximum erreicht. Mit Weise gewannen die deutschen Frauen 2004 in Athen Hockey-Gold, 2008 in Peking und 2012 in London die deutschen Männer. Mit den Männern ist Weise unschlagbar: Hallen-Weltmeister und Feld-Europameister, Hallen-Europameister und Olympiasieger - sein Team hat in den vergangenen zwei Jahren alles gewonnen.

Am Donnerstag ist der 50-Jährige Gast in Frankfurt beim DFB-Wissenschaftskongress. Als die Anfrage kam, ob er an einer Podiumsdiskussion mit DFB-Sportdirektor Robin Dutt, DFB-Direktorin Steffi Jones und Australiens Nationaltrainer Holger Osieck über "Sport und Wissenschaft“ teilnehmen möchte, hat er sofort zugesagt. Im DFB.de-Interview mit Thomas Hackbarth spricht Weise auch über Teamdynamik: "Wenn die entsteht, ist es praktisch egal, wer auf der anderen Seite steht. Dann entwickelt eine Mannschaft eine solche Kraft und Energie, dass wirklich alle Widerstände überwunden werden können."

DFB.de:
Herr Weise, haben Sie Jogi Löw schon mal getroffen?

Markus Weise: Leider noch nicht.

DFB.de: Beneiden Sie ihn denn?

Weise: Sollte ich?

DFB.de: Der Fußball-Bundestrainer rekrutiert seine Spieler aus einer Basis von 26.000 Vereinen, der DFB zählt fast 6,8 Millionen Mitglieder. Bei Ihnen sind es 400 Vereine in ganz Deutschland mit 75.000 Hockeyspielern.

Weise: Jogi Löw hat ein Luxusproblem, er verfügt über den größten Talentpool im deutschen Sport. Das System der Stützpunkte und Leistungszentren im Fußball jedenfalls ist eine logistische Meisterleistung. Die Bedingungsebenen von Hockey und Fußball sind dramatisch unterschiedlich. Aber anders als der Kollege Löw habe ich keine Profiliga an der Backe, die sicher ein großes Mitspracherecht einfordert.

DFB.de
: Wie viele Tage im Jahr können Sie die Nationalmannschaft versammeln?

Weise: Vor den Olympischen Spielen in London waren es an die 100 zentrale Maßnahmentage. Das unterscheidet sich sicher deutlich zur Situation von Joachim Löw oder Martin Heuberger im Handball, vom Eishockey und Basketball. Überall dort, wo der Profisport die Regeln diktiert, wird es enger für die Nationalmannschaft. Der deutsche Fußball ist in der glücklichen Situation, dass in den vergangenen Jahren große Talente entwickelt wurden, dadurch kann Löw einige Defizite kompensieren. Dennoch denke ich, auch für ihn wäre es wünschenswert, wenn es mehr zentrale Maßnahmentage gäbe.

DFB.de
: Also muss eigentlich Jogi Löw Sie beneiden?

Weise: (lacht) Nein, es bestehen nur aus der Perspektive des Nationaltrainers gravierende Unterschiede. Ich kann zum Beispiel eine zentrale Trainingssteuerung vorgeben. Im Fußball dagegen wäre es doch unvorstellbar, dass Bastian Schweinsteiger, André Schürrle oder Lewis Holtby in München, Leverkusen und Gelsenkirchen täglich an einem Programm der Nationalmannschaft arbeiten. Am Ende aber geht es um den fitten Spieler, eine Topnationalmannschaft und Topklubs. Theoretisch gibt es kein entweder oder.

DFB.de
: Ein halbes Jahr nach London: Warum hat Ihre Mannschaft Gold geholt?

Weise: Wenn ich es reduzieren soll, dann waren es vor allem zwei Faktoren: Zum einen haben die Jungs seit Jahren ihre Hausaufgaben gemacht. Und in London haben wir es geschafft, eine Teamdynamik aufzubauen. Wenn das gelingt, ist es praktisch egal, wer auf der anderen Seite steht. Dann entwickelt eine Mannschaft eine solche Kraft und Energie, dass alle Widerstände überwunden werden können. Da verschwindet jeder Zweifel, das ist eine ständig spürbare Energie. Eins noch: Es ist durchaus wünschenswert, während eines großen Turniers kleine Probleme zu bekommen.

DFB.de
: Wie entwickelte sich diese Dynamik in London?

Weise: Mit den drei Erfolgen zu Beginn des Olympischen Hockeyturniers - darunter der 5:2 über Indien - hatten wir eine sehr erfolgreiche Startphase. Für die Entwicklung einer Dynamik ist das eher hinderlich, also musste der böse Bundestrainer erst mal extrem kritisch in der Aufarbeitung der Spiele sein. Meine Jungs hungerten nach Anerkennung. Daraus entwickelte sich durchaus eine Konfliktsituation. Es folgte die Niederlage im Gruppenspiel gegen die Niederlande, als wir, auch auf Grund atmosphärischer Störungen, sicher nicht am Limit gespielt haben. Belgien schlug dann Indien, und wir standen ohne eigenes Zutun bereits im Halbfinale. Das letzte Gruppenspiel gegen Neuseeland war für uns bedeutungslos. Nach 20 Minuten waren wir in Unterzahl, irgendwann lagen wir 2:5 hinten. Da hätten wir innerlich die weiße Fahne hissen können, hätten sagen können: "Ist doch egal." Doch die Mannschaft wollte das nicht und ich auch nicht. Bekanntlich haben wir noch 5:5 gespielt. Tabellarisch gleichgültig, für das Innenleben der Mannschaft ein kolossaler Unterschied. So ein Signal braucht es für die Endphase eines Turniers.

DFB.de: Ein Signal, das aus der Mannschaft kommt?

Weise: Genau. Die Vorstellung, der Trainer halte eine einstündige Motivationsrede, dann brennt die Mannschaft, die rennen raus und spielen den Gegner in Grund und Boden - so ist es sicher nicht. 2004 sind wir mit den Frauen sicher nicht mit dem Ziel angetreten, mit Gold nach Hause zu fahren. Im Turnier hatte ich dann gehofft, dass ein Signal aus dem Team kommt. So war es dann auch. Es entscheidet immer die Mannschaft, was sie gewinnen will. Nie der Trainer.

DFB.de: Sie haben bei drei Olympischen Spielen in Folge das Maximum erreicht. Gehen Ihnen die Ziele aus?

Weise: Ich ziehe meine Motivation nicht aus Titeln und Medaillen. Spannend ist die Arbeit mit der Mannschaft. Diese Prozesse, wenn aus einer Gruppe ein Team wird, zu steuern und zu begleiten, das fasziniert mich noch genauso wie zu Beginn meiner Trainerlaufbahn. Wie passen die unterschiedlichen Charaktere zusammen? Was kann ich aus dem Spieler an Mehrleistung rauskitzeln? Das ist eine Kampf- und Formphase. Auch wenn das despektierlich klingt: Der Gewinn der Medaille ist dann nur noch das Abfallprodukt der eigentlichen Arbeit. Ich bin kein Erfolgstrainer, sondern ein Leistungstrainer. Einen Kardinalfehler begeht jeder, der unterwegs zuviel an den Erfolg denkt, und dabei die Leistung - also die Voraussetzung von Erfolg - aus dem Blick verliert. Ich mache es umgekehrt und kümmere mich wenig um den Erfolg.

DFB.de: Jetzt beneiden Sie aber wirklich alle Fußball-Bundesligatrainer.

Weise: (lacht) Klar, mir redet keiner alle paar Minuten rein und fragt, wann wir endlich mal wieder drei Punkte einfahren. Dabei ist auch Hockey zum Erfolg verdammt, denn ohne die Titel bei großen Turnieren würden wir weniger öffentliche Fördergelder bekommen.

DFB.de: Spürt Hockey den Aufwind durch das Gold von London?

Weise: Jein. Wir erfreuen uns eines moderaten Wachstums, pro Jahr registrieren wir einen Mitgliederzuwachs von durchschnittlich zwei Prozent. In der öffentlichen Wahrnehmung sind wir im Olympiajahr immer eine feste Größe, danach verschwinden wir wieder. Die Konstellation ändert sich nie. Wir können gewinnen, was wir wollen. Zu Beginn den neuen Jahres stellt sich wieder die Frage: Kriegen wir das alles, gerade finanziell, überhaupt gebacken? Jetzt haben wir es sogar geschafft, unseren Hauptsponsor nach dem Gewinn einer Goldmedaille zu verlieren. Ich frage mich manchmal, was passiert, wenn die sieben mageren Jahre kommen.

DFB.de: Befürworten Sie den von DOSB-Präsident Dr. Thomas Bach geforderten Sportsender, der - durch Steuergelder finanziert - auch Sportarten wie Hockey eine angemessene mediale Plattform bieten würde?

Weise: Der deutsche Sport ist reichhaltig. Viele Sportarten und Wettbewerbe fallen unter den Tisch, weil sie mit dem leidigen und langweiligen Argument der Quote als unattraktiv eingestuft werden. Ein solcher Sender würde uns die Möglichkeit eröffnen, eine gewisse TV-Präsenz zu erzielen - elementar für die Anwerbung neuer Sponsoren.

DFB.de: Im Sommer spielen die deutschen Männer bei der Europameisterschaft in Belgien. Fünf Leistungsträger - Matthias Witthaus, Timo Wess, Max Weinhold, Jan Marco Montag und Philipp Zeller - haben den Hockeyschläger an den Nagel gehängt. Deutschland ist aktueller Europameister. Wie schwer wird es, den Titel zu verteidigen?

Weise: Das wird sehr schwer. Die Niederlande sind Topfavorit, weil sie nur zwei Abgänge zu verkraften haben. Die Holländer haben eine sehr junge Mannschaft, die dennoch schon auf hohem Niveau spielt. Was wollen unsere erfahrenen Spieler? Sind die noch hungrig oder machen die nur Schaulaufen? Stellen sich die Jungen höflich an den Rand oder erhöhen die den positiven Druck im Team? Wenn es uns gelingt, diesen Prozess gut zu beeinflussen, werden wir wieder eine gute Mannschaft haben. Und dann können wir auch um den Titel mitspielen.

DFB.de: Kurzfristig sah es vor Jahren so aus, als bekäme der DFB einen Hockeymann als Sportdirektor. Haben Sie Bernhard Peters damals die Daumen gedrückt?

Weise: Ja. Ich fand es sehr spannend, dass dies zur Debatte stand. Es wäre ein kalkulierbares Wagnis gewesen. Und ich bin überzeugt, dass es funktioniert hätte.

DFB.de
: Hockey galt und gilt als innovationsfreudige Sportart. Zur Recht?

Weise: Sollten wir irgendwann mal aus der Förderstufe eins rausfliegen, können wir den Laden im Prinzip zumachen. Lehrgänge würden ausfallen, dann wäre Schluss mit Weltspitze. Diese Fördergelder sind essenziell, auch weil unsere anderen Einkünfte überschaubar sind. Also müssen wir erfolgreich sein. Und dass hat sicher mit bewirkt, dass Hockey immer auch offen für Innovationen und neue Erkenntnisse war. Es ist wahnsinnig viel auf dem Markt. Jeder bläst die Posaune. Höhentraining, Schlafen im Zelt, Kühlen - es hört ja nie auf. Letztlich arbeiten wir seit Jahren mit einem bekannten Expertenkreis zusammen und verändern die Abläufe eher vorsichtig. Wir hören nie auf voranzugehen, aber wir machen das in kleinen Schritten. Wir sind also eher selektiv, wenn es um Anregungen aus der Sportwissenschaft geht. Olympia sind sieben Spiele in 14 Tagen - darum geht es. Diese Leistung müssen wir optimal abliefern.

DFB.de: Wie groß ist Ihr Betreuerstab?

Weise: Wir sind mit elf Mann unterwegs, darunter zwei Co-Trainer, ein Manager, ein Psychologe, ein Videomann, zwei Physios und ein Arzt.

DFB.de: Sie haben sich selbst mal als Generalist in der Mitte von lauter "topstaffern" bezeichnet. Müssen Sie nicht trotzdem in jedem Bereich die Wissenshoheit behalten?

Weise: Ja, ich bin schon der Chef, das sehen Sie richtig. (lacht) Da kann schon ein Problem entstehen. Auf der einen Seite braucht man starke Leute im Team, man braucht aber auch absolut loyale Leute. Beim Cheftrainer läuft alles zusammen, und - ganz klar - da werden auch die Entscheidungen getroffen. Wir stecken die Claims klar ab. Videobesprechungen und Einzelgespräche führe überwiegend ich. Der Cheftrainer muss immer wieder deutlich machen, wer der Leitwolf ist, das ist wohl evolutionsbiologisch bedingt.

DFB.de
: Sie wollen, dass Ihre Männer eine Sekunde in der Zukunft spielen. Was bedeutet das?

Weise: Das gehört heute zum Taktik-IQ dazu. Zidane ist doch das beste Beispiel. Physisch war er sicher nicht einer der schnellsten Spieler, aber seine Handlungsschnelligkeit war überragend. Wer vorausschaut und antizipiert, der spielt sozusagen gedanklich immer eine Sekunde in der Zukunft. Nicht jeder Spieler entwickelt darin eine Klasse wie ein Zidane, aber jeder Spieler kann seinen Taktik-IQ steigern. Die Handlungsschnellen kommen kaum in negative Situationen und müssen entsprechend selten foulen.

DFB.de: Lohnt es sich auch für einen Hockeyspieler, alte Videos von Zidane anzuschauen?

Weise: Ja, klar. Meine Jungs schauen ohnehin dauernd Fußball und Basketball. Man lernt auch aus anderen Sportarten.

DFB.de: Was muss ein Hockey-Nationalspieler in der Vorbereitung auf einen Gegner aufnehmen und verarbeiten?

Weise: Wir wollen immer das Spiel selbst machen, unser Spielaufbau ist dabei abhängig vom Gegnerverhalten. Ergo müssen wir unterschiedliche System beherrschen. Wir haben den Anspruch, auch dann reagieren zu können, wenn der Gegner etwas macht, was wir noch nicht so genau kennen. Dafür legen wir bei jeder Trainingseinheit wert auf eine komplexe Lernumgebung. Das ist kein Malen nach Zahlen. Es geht um Mustererkennung, nicht um starre Handlungsvorgaben. Dort könnte sich eine Drohung aufstellen, dort muss ich so reagieren. Ich halte gar nichts von statischen Spielzügen. Nürnberg hat irgendwann gegen Ribery und Robben gedoppelt, das klappte prima. In den folgenden Wochen hat das jeder kopiert, und Bayern schien der Plan B zu fehlen. Das kann's nicht sein.

DFB.de: Wie viel ist 83 minus 9?

Weise: (lacht) Ich bin kein Strafeckenschütze.

DFB.de: Aber Sie machen das weiterhin im Training? Während die Strafecke geübt wird, müssen Ihre Spieler Rechenaufgaben lösen.

Weise: Absolut, das ist eine Anreicherung des Trainingsalltags. Übers Jahr üben wir tausende Strafecken, das ist irgendwann auch stinklangweilig. Im Trott trainieren ist wahnsinnig ineffizient.

DFB.de
: Sie haben kurz vor Weihnachten Ihren 50. Geburtstag gefeiert. Und irgendwelche großen Beschlüsse für das sechste Lebensjahrzehnt gefasst?

Weise: Nein, ich bin nicht so der Typ für große Beschlüsse. Ich musste schon das psychologische Moment der 5 vorne verdauen. Wir hatten eine ganz ruhige Feier.

DFB.de: Wie endete Ihre letzte Schachpartie?

Weise: Jedenfalls habe ich es geschafft, beim Hamburger Schachklub von 1830 weiterhin in der B-Gruppe zu spielen, was nicht ganz so einfach ist.

DFB.de: Attackieren Sie, oder warten Sie erst mal ab, bis der Gegner einen Fehler macht und Sie mit Figurenvorteil spielen können?

Weise: Ich kann schon attackieren.

DFB.de: Sie sind gebürtiger Mannheimer, in Ihrer Jugend spielte Waldhof noch in der 2. Bundesliga und ab 1983 sogar in der Bundesliga. Waren Sie damals ein Waldhof-Fan?

Weise: Ja, aber ich war als Kind auch Fan des VfR Mannheim. Die waren immerhin 1949 mal Deutscher Meister.

DFB.de: Und heute - fiebern Sie bei Länderspielen mit?

Weise: Klar. Gegen Schweden bin ich beim 4:1 ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen las ich dann, was noch alles passiert ist. Jedenfalls kann man aus so einem Spiel viel rausholen, aber das müssen Jogi Löw und Hansi Flick strikt intern machen.

DFB.de: Stimmt eigentlich das Gerücht, dass Hockeyspieler besser feiern können als Fußballer?

Weise: Wenn die Medien draußen sind, wird es keine großen Unterschiede geben. Mit Medien im Saal kann der Hockeyspieler etwas unbeschwerter feiern. Aber ansonsten sind wir Mannschaftssportler uns doch schon sehr ähnlich. Auch beim Feiern.

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[bild1]Wenn es denn dieses viel zu oft zitierte Siegergen geben würde, Markus Weise hätte es ganz sicher. Der Chef der deutschen Hockeymänner ist der erfolgreichste deutsche Bundestrainer überhaupt. Dreimal in Folge hat er bei Olympia das Maximum erreicht. Mit Weise gewannen die deutschen Frauen 2004 in Athen Hockey-Gold, 2008 in Peking und 2012 in London die deutschen Männer. Mit den Männern ist Weise unschlagbar: Hallen-Weltmeister und Feld-Europameister, Hallen-Europameister und Olympiasieger - sein Team hat in den vergangenen zwei Jahren alles gewonnen.

Am Donnerstag ist der 50-Jährige Gast in Frankfurt beim DFB-Wissenschaftskongress. Als die Anfrage kam, ob er an einer Podiumsdiskussion mit DFB-Sportdirektor Robin Dutt, DFB-Direktorin Steffi Jones und Australiens Nationaltrainer Holger Osieck über "Sport und Wissenschaft“ teilnehmen möchte, hat er sofort zugesagt. Im DFB.de-Interview mit Thomas Hackbarth spricht Weise auch über Teamdynamik: "Wenn die entsteht, ist es praktisch egal, wer auf der anderen Seite steht. Dann entwickelt eine Mannschaft eine solche Kraft und Energie, dass wirklich alle Widerstände überwunden werden können."

DFB.de:
Herr Weise, haben Sie Jogi Löw schon mal getroffen?

Markus Weise: Leider noch nicht.

DFB.de: Beneiden Sie ihn denn?

Weise: Sollte ich?

DFB.de: Der Fußball-Bundestrainer rekrutiert seine Spieler aus einer Basis von 26.000 Vereinen, der DFB zählt fast 6,8 Millionen Mitglieder. Bei Ihnen sind es 400 Vereine in ganz Deutschland mit 75.000 Hockeyspielern.

Weise: Jogi Löw hat ein Luxusproblem, er verfügt über den größten Talentpool im deutschen Sport. Das System der Stützpunkte und Leistungszentren im Fußball jedenfalls ist eine logistische Meisterleistung. Die Bedingungsebenen von Hockey und Fußball sind dramatisch unterschiedlich. Aber anders als der Kollege Löw habe ich keine Profiliga an der Backe, die sicher ein großes Mitspracherecht einfordert.

DFB.de
: Wie viele Tage im Jahr können Sie die Nationalmannschaft versammeln?

Weise: Vor den Olympischen Spielen in London waren es an die 100 zentrale Maßnahmentage. Das unterscheidet sich sicher deutlich zur Situation von Joachim Löw oder Martin Heuberger im Handball, vom Eishockey und Basketball. Überall dort, wo der Profisport die Regeln diktiert, wird es enger für die Nationalmannschaft. Der deutsche Fußball ist in der glücklichen Situation, dass in den vergangenen Jahren große Talente entwickelt wurden, dadurch kann Löw einige Defizite kompensieren. Dennoch denke ich, auch für ihn wäre es wünschenswert, wenn es mehr zentrale Maßnahmentage gäbe.

DFB.de
: Also muss eigentlich Jogi Löw Sie beneiden?

Weise: (lacht) Nein, es bestehen nur aus der Perspektive des Nationaltrainers gravierende Unterschiede. Ich kann zum Beispiel eine zentrale Trainingssteuerung vorgeben. Im Fußball dagegen wäre es doch unvorstellbar, dass Bastian Schweinsteiger, André Schürrle oder Lewis Holtby in München, Leverkusen und Gelsenkirchen täglich an einem Programm der Nationalmannschaft arbeiten. Am Ende aber geht es um den fitten Spieler, eine Topnationalmannschaft und Topklubs. Theoretisch gibt es kein entweder oder.

DFB.de
: Ein halbes Jahr nach London: Warum hat Ihre Mannschaft Gold geholt?

Weise: Wenn ich es reduzieren soll, dann waren es vor allem zwei Faktoren: Zum einen haben die Jungs seit Jahren ihre Hausaufgaben gemacht. Und in London haben wir es geschafft, eine Teamdynamik aufzubauen. Wenn das gelingt, ist es praktisch egal, wer auf der anderen Seite steht. Dann entwickelt eine Mannschaft eine solche Kraft und Energie, dass alle Widerstände überwunden werden können. Da verschwindet jeder Zweifel, das ist eine ständig spürbare Energie. Eins noch: Es ist durchaus wünschenswert, während eines großen Turniers kleine Probleme zu bekommen.

DFB.de
: Wie entwickelte sich diese Dynamik in London?

Weise: Mit den drei Erfolgen zu Beginn des Olympischen Hockeyturniers - darunter der 5:2 über Indien - hatten wir eine sehr erfolgreiche Startphase. Für die Entwicklung einer Dynamik ist das eher hinderlich, also musste der böse Bundestrainer erst mal extrem kritisch in der Aufarbeitung der Spiele sein. Meine Jungs hungerten nach Anerkennung. Daraus entwickelte sich durchaus eine Konfliktsituation. Es folgte die Niederlage im Gruppenspiel gegen die Niederlande, als wir, auch auf Grund atmosphärischer Störungen, sicher nicht am Limit gespielt haben. Belgien schlug dann Indien, und wir standen ohne eigenes Zutun bereits im Halbfinale. Das letzte Gruppenspiel gegen Neuseeland war für uns bedeutungslos. Nach 20 Minuten waren wir in Unterzahl, irgendwann lagen wir 2:5 hinten. Da hätten wir innerlich die weiße Fahne hissen können, hätten sagen können: "Ist doch egal." Doch die Mannschaft wollte das nicht und ich auch nicht. Bekanntlich haben wir noch 5:5 gespielt. Tabellarisch gleichgültig, für das Innenleben der Mannschaft ein kolossaler Unterschied. So ein Signal braucht es für die Endphase eines Turniers.

DFB.de: Ein Signal, das aus der Mannschaft kommt?

Weise: Genau. Die Vorstellung, der Trainer halte eine einstündige Motivationsrede, dann brennt die Mannschaft, die rennen raus und spielen den Gegner in Grund und Boden - so ist es sicher nicht. 2004 sind wir mit den Frauen sicher nicht mit dem Ziel angetreten, mit Gold nach Hause zu fahren. Im Turnier hatte ich dann gehofft, dass ein Signal aus dem Team kommt. So war es dann auch. Es entscheidet immer die Mannschaft, was sie gewinnen will. Nie der Trainer.

DFB.de: Sie haben bei drei Olympischen Spielen in Folge das Maximum erreicht. Gehen Ihnen die Ziele aus?

[bild2]Weise: Ich ziehe meine Motivation nicht aus Titeln und Medaillen. Spannend ist die Arbeit mit der Mannschaft. Diese Prozesse, wenn aus einer Gruppe ein Team wird, zu steuern und zu begleiten, das fasziniert mich noch genauso wie zu Beginn meiner Trainerlaufbahn. Wie passen die unterschiedlichen Charaktere zusammen? Was kann ich aus dem Spieler an Mehrleistung rauskitzeln? Das ist eine Kampf- und Formphase. Auch wenn das despektierlich klingt: Der Gewinn der Medaille ist dann nur noch das Abfallprodukt der eigentlichen Arbeit. Ich bin kein Erfolgstrainer, sondern ein Leistungstrainer. Einen Kardinalfehler begeht jeder, der unterwegs zuviel an den Erfolg denkt, und dabei die Leistung - also die Voraussetzung von Erfolg - aus dem Blick verliert. Ich mache es umgekehrt und kümmere mich wenig um den Erfolg.

DFB.de: Jetzt beneiden Sie aber wirklich alle Fußball-Bundesligatrainer.

Weise: (lacht) Klar, mir redet keiner alle paar Minuten rein und fragt, wann wir endlich mal wieder drei Punkte einfahren. Dabei ist auch Hockey zum Erfolg verdammt, denn ohne die Titel bei großen Turnieren würden wir weniger öffentliche Fördergelder bekommen.

DFB.de: Spürt Hockey den Aufwind durch das Gold von London?

Weise: Jein. Wir erfreuen uns eines moderaten Wachstums, pro Jahr registrieren wir einen Mitgliederzuwachs von durchschnittlich zwei Prozent. In der öffentlichen Wahrnehmung sind wir im Olympiajahr immer eine feste Größe, danach verschwinden wir wieder. Die Konstellation ändert sich nie. Wir können gewinnen, was wir wollen. Zu Beginn den neuen Jahres stellt sich wieder die Frage: Kriegen wir das alles, gerade finanziell, überhaupt gebacken? Jetzt haben wir es sogar geschafft, unseren Hauptsponsor nach dem Gewinn einer Goldmedaille zu verlieren. Ich frage mich manchmal, was passiert, wenn die sieben mageren Jahre kommen.

DFB.de: Befürworten Sie den von DOSB-Präsident Dr. Thomas Bach geforderten Sportsender, der - durch Steuergelder finanziert - auch Sportarten wie Hockey eine angemessene mediale Plattform bieten würde?

Weise: Der deutsche Sport ist reichhaltig. Viele Sportarten und Wettbewerbe fallen unter den Tisch, weil sie mit dem leidigen und langweiligen Argument der Quote als unattraktiv eingestuft werden. Ein solcher Sender würde uns die Möglichkeit eröffnen, eine gewisse TV-Präsenz zu erzielen - elementar für die Anwerbung neuer Sponsoren.

DFB.de: Im Sommer spielen die deutschen Männer bei der Europameisterschaft in Belgien. Fünf Leistungsträger - Matthias Witthaus, Timo Wess, Max Weinhold, Jan Marco Montag und Philipp Zeller - haben den Hockeyschläger an den Nagel gehängt. Deutschland ist aktueller Europameister. Wie schwer wird es, den Titel zu verteidigen?

Weise: Das wird sehr schwer. Die Niederlande sind Topfavorit, weil sie nur zwei Abgänge zu verkraften haben. Die Holländer haben eine sehr junge Mannschaft, die dennoch schon auf hohem Niveau spielt. Was wollen unsere erfahrenen Spieler? Sind die noch hungrig oder machen die nur Schaulaufen? Stellen sich die Jungen höflich an den Rand oder erhöhen die den positiven Druck im Team? Wenn es uns gelingt, diesen Prozess gut zu beeinflussen, werden wir wieder eine gute Mannschaft haben. Und dann können wir auch um den Titel mitspielen.

DFB.de: Kurzfristig sah es vor Jahren so aus, als bekäme der DFB einen Hockeymann als Sportdirektor. Haben Sie Bernhard Peters damals die Daumen gedrückt?

Weise: Ja. Ich fand es sehr spannend, dass dies zur Debatte stand. Es wäre ein kalkulierbares Wagnis gewesen. Und ich bin überzeugt, dass es funktioniert hätte.

DFB.de
: Hockey galt und gilt als innovationsfreudige Sportart. Zur Recht?

Weise: Sollten wir irgendwann mal aus der Förderstufe eins rausfliegen, können wir den Laden im Prinzip zumachen. Lehrgänge würden ausfallen, dann wäre Schluss mit Weltspitze. Diese Fördergelder sind essenziell, auch weil unsere anderen Einkünfte überschaubar sind. Also müssen wir erfolgreich sein. Und dass hat sicher mit bewirkt, dass Hockey immer auch offen für Innovationen und neue Erkenntnisse war. Es ist wahnsinnig viel auf dem Markt. Jeder bläst die Posaune. Höhentraining, Schlafen im Zelt, Kühlen - es hört ja nie auf. Letztlich arbeiten wir seit Jahren mit einem bekannten Expertenkreis zusammen und verändern die Abläufe eher vorsichtig. Wir hören nie auf voranzugehen, aber wir machen das in kleinen Schritten. Wir sind also eher selektiv, wenn es um Anregungen aus der Sportwissenschaft geht. Olympia sind sieben Spiele in 14 Tagen - darum geht es. Diese Leistung müssen wir optimal abliefern.

DFB.de: Wie groß ist Ihr Betreuerstab?

Weise: Wir sind mit elf Mann unterwegs, darunter zwei Co-Trainer, ein Manager, ein Psychologe, ein Videomann, zwei Physios und ein Arzt.

DFB.de: Sie haben sich selbst mal als Generalist in der Mitte von lauter "topstaffern" bezeichnet. Müssen Sie nicht trotzdem in jedem Bereich die Wissenshoheit behalten?

Weise: Ja, ich bin schon der Chef, das sehen Sie richtig. (lacht) Da kann schon ein Problem entstehen. Auf der einen Seite braucht man starke Leute im Team, man braucht aber auch absolut loyale Leute. Beim Cheftrainer läuft alles zusammen, und - ganz klar - da werden auch die Entscheidungen getroffen. Wir stecken die Claims klar ab. Videobesprechungen und Einzelgespräche führe überwiegend ich. Der Cheftrainer muss immer wieder deutlich machen, wer der Leitwolf ist, das ist wohl evolutionsbiologisch bedingt.

DFB.de
: Sie wollen, dass Ihre Männer eine Sekunde in der Zukunft spielen. Was bedeutet das?

Weise: Das gehört heute zum Taktik-IQ dazu. Zidane ist doch das beste Beispiel. Physisch war er sicher nicht einer der schnellsten Spieler, aber seine Handlungsschnelligkeit war überragend. Wer vorausschaut und antizipiert, der spielt sozusagen gedanklich immer eine Sekunde in der Zukunft. Nicht jeder Spieler entwickelt darin eine Klasse wie ein Zidane, aber jeder Spieler kann seinen Taktik-IQ steigern. Die Handlungsschnellen kommen kaum in negative Situationen und müssen entsprechend selten foulen.

DFB.de: Lohnt es sich auch für einen Hockeyspieler, alte Videos von Zidane anzuschauen?

Weise: Ja, klar. Meine Jungs schauen ohnehin dauernd Fußball und Basketball. Man lernt auch aus anderen Sportarten.

DFB.de: Was muss ein Hockey-Nationalspieler in der Vorbereitung auf einen Gegner aufnehmen und verarbeiten?

Weise: Wir wollen immer das Spiel selbst machen, unser Spielaufbau ist dabei abhängig vom Gegnerverhalten. Ergo müssen wir unterschiedliche System beherrschen. Wir haben den Anspruch, auch dann reagieren zu können, wenn der Gegner etwas macht, was wir noch nicht so genau kennen. Dafür legen wir bei jeder Trainingseinheit wert auf eine komplexe Lernumgebung. Das ist kein Malen nach Zahlen. Es geht um Mustererkennung, nicht um starre Handlungsvorgaben. Dort könnte sich eine Drohung aufstellen, dort muss ich so reagieren. Ich halte gar nichts von statischen Spielzügen. Nürnberg hat irgendwann gegen Ribery und Robben gedoppelt, das klappte prima. In den folgenden Wochen hat das jeder kopiert, und Bayern schien der Plan B zu fehlen. Das kann's nicht sein.

DFB.de: Wie viel ist 83 minus 9?

Weise: (lacht) Ich bin kein Strafeckenschütze.

DFB.de: Aber Sie machen das weiterhin im Training? Während die Strafecke geübt wird, müssen Ihre Spieler Rechenaufgaben lösen.

Weise: Absolut, das ist eine Anreicherung des Trainingsalltags. Übers Jahr üben wir tausende Strafecken, das ist irgendwann auch stinklangweilig. Im Trott trainieren ist wahnsinnig ineffizient.

DFB.de
: Sie haben kurz vor Weihnachten Ihren 50. Geburtstag gefeiert. Und irgendwelche großen Beschlüsse für das sechste Lebensjahrzehnt gefasst?

Weise: Nein, ich bin nicht so der Typ für große Beschlüsse. Ich musste schon das psychologische Moment der 5 vorne verdauen. Wir hatten eine ganz ruhige Feier.

DFB.de: Wie endete Ihre letzte Schachpartie?

Weise: Jedenfalls habe ich es geschafft, beim Hamburger Schachklub von 1830 weiterhin in der B-Gruppe zu spielen, was nicht ganz so einfach ist.

DFB.de: Attackieren Sie, oder warten Sie erst mal ab, bis der Gegner einen Fehler macht und Sie mit Figurenvorteil spielen können?

Weise: Ich kann schon attackieren.

DFB.de: Sie sind gebürtiger Mannheimer, in Ihrer Jugend spielte Waldhof noch in der 2. Bundesliga und ab 1983 sogar in der Bundesliga. Waren Sie damals ein Waldhof-Fan?

Weise: Ja, aber ich war als Kind auch Fan des VfR Mannheim. Die waren immerhin 1949 mal Deutscher Meister.

DFB.de: Und heute - fiebern Sie bei Länderspielen mit?

Weise: Klar. Gegen Schweden bin ich beim 4:1 ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen las ich dann, was noch alles passiert ist. Jedenfalls kann man aus so einem Spiel viel rausholen, aber das müssen Jogi Löw und Hansi Flick strikt intern machen.

DFB.de: Stimmt eigentlich das Gerücht, dass Hockeyspieler besser feiern können als Fußballer?

Weise: Wenn die Medien draußen sind, wird es keine großen Unterschiede geben. Mit Medien im Saal kann der Hockeyspieler etwas unbeschwerter feiern. Aber ansonsten sind wir Mannschaftssportler uns doch schon sehr ähnlich. Auch beim Feiern.