Vorteil-Regel: Erfahrung von Vorteil

Als Jens Lehmann im Champions-League-Finale 2006 den allein auf sein Tor zueilenden Samuel Eto'o direkt vor der Strafraumlinie regelwidrig von den Beinen holte, pfiff der norwegische Schiedsrichter Terje Hauge die Attacke des deutschen Schlussmanns sofort ab. Er wertete sie als Verhinderung einer klaren Torchance und zeigte dem Keeper die Rote Karte. Dabei hätte der Referee in dieser Situation nur einen kurzen Moment warten sollen, denn hier wäre auch noch der verzögerte Pfiff möglich gewesen. Oder Terje Hauge hätte auch auf Vorteil entscheiden können - in dieser Situation sicher die beste Lösung, denn der mitgelaufene Stürmer konnte den Ball unmittelbar nach dem Foul ins Tor schießen. Dann wäre dies das 1:0 für den FC Barcelona gegen den FC Arsenal gewesen, und Lehmann hätte nicht schon nach einer Viertelstunde vom Platz gemusst.

Bei der Frage nach Vorteil bekommen Worte wie "hätte", "wenn" und "wäre" immer wieder eine große Bedeutung. Der Konjunktiv macht deutlich, dass ein solcher Spielvorteil oft nicht zweifelsfrei zu erkennen ist. Von regeltechnischer Bedeutung für eine Bewertung eines Fouls und die daraus erwachsende Konsequenz ist für den Unparteiischen aber, dass er immer dann das ursprüngliche Vergehen zu bestrafen hat, wenn der Vorteil nicht direkt nach dem Foul eintritt. Die Zeitspanne ist zwar nicht exakt festgelegt, doch sollte ein möglicher verzögerter Pfiff noch im Zusammenhang mit dem Geschehen zu erkennen sein.

Sofort pfeifen oder abwarten?

Die Grundlagen zur Entscheidung auf Vorteil oder auf den verzögerten Pfiff werden in Regel 5 gegeben. Es heißt dort: "Der Schiedsrichter hat das Spiel bei einem Verstoß oder Vergehen weiterlaufen zu lassen, sofern das regelkonforme Team dadurch einen Vorteil erhält, und eine Strafe für den Verstoß auszusprechen oder das Vergehen zu bestrafen, wenn der mutmaßliche Vorteil nicht sofort oder innerhalb weniger Sekunden eintritt."

Hinter dieser sprachlich komplizierten Vorgabe steckt folgende Aussage: Ein Schiedsrichter hat, wie seinerzeit bei Jens Lehmann geschehen, die Möglichkeit, nach einem Vergehen sofort zu pfeifen und die entsprechenden Strafen auszusprechen. Er kann aber auch Vorteil gewähren, so dass das Spiel weiterläuft. Schließlich kann er nach einem solchen Vergehen auch noch einen kurzen Moment warten, um zu sehen, wie sich die Situation entwickelt. Erkennt der Referee dann, dass der angesprochene Vorteil nicht eintritt, so sollte er das Spiel jetzt mit dem verzögerten Pfiff unterbrechen.

Überhart geführtes Spiel: Kleinlicher pfeifen ist angesagt

Wichtig ist, dass es sich bei der Anwendung der Vorteilsbestimmung um eine Tatsachenentscheidung handelt. Die Spieler haben keinen Anspruch und kein Recht darauf, dass der Schiedsrichter diese Bestimmung anwendet oder dass er das Spiel nach einer Regelübertretung unterbricht. Eine große Schwierigkeit liegt sicher darin, dass der Referee bei seiner Entscheidung innerhalb von Sekundenbruchteilen viele Faktoren gegeneinander abwägen muss, die für oder gegen die Anwendung von Vorteil sprechen.

Kommt es zum Beispiel zu einem schweren Vergehen, das eine Rote Karte nach sich zieht, so muss der Schiedsrichter in jedem Fall immer dann das Spiel unterbrechen, wenn es nicht unmittelbar nach dem Vergehen zu einer klaren Torchance kommt. Der Unparteiische sollte auch dann ein Vergehen abpfeifen, wenn die Erfolgsaussicht eines Angriffs eher gering anzusehen ist, wenn also ein Foul weit entfernt vom gegnerischen Tor erfolgt.

Darüber hinaus spielt der Spielcharakter eine bedeutende Rolle bei der Anwendung von Vorteil. In einem überhart geführten, zerfahrenen Spiel mit zahlreichen offenen und versteckten Fouls muss der Unparteiische deutlich kleinlicher pfeifen als in einem fair geführten Fußballspiel mit einer positiven, freundschaftlichen Spielatmosphäre.

"In unteren Spielklassen muss man nahezu alles abpfeifen"

Die Verfasser des DFB-Lehrbriefs Nr. 80 gehen detailliert auf das Thema Vorteil ein: In einer Tabelle führen sie Bedingungen auf, die Einfluss auf die Entscheidung des Schiedsrichters haben. Dazu gehören nicht zuletzt die Beschaffenheit des Platzes, die Wichtigkeit des Spiels für eine oder sogar beide Mannschaften sowie auch eine regionale Rivalität zwischen den Teams.

Schließlich spielt auch die Spielklasse, in der der Unparteiische eingesetzt ist, eine Rolle bei der Anwendung von Vorteil. Auf einige Erfahrung hierzu können bereits Joel Jung (24 Jahre, Südwestdeutscher FV) und Dominik Fober (23 Jahre, Bayerischer FV) verweisen. Die beiden Schiedsrichter der B-Junioren-Bundesliga meinten beim diesjährigen Lehrgang des DFB in Grünberg: "Es macht einen großen Unterschied, ob wir in der B-Junioren-Bundesliga oder im Kreis eingesetzt sind. Je höher die Spielklasse, umso mehr wollen die Spieler, dass wir das Spiel laufen lassen. Da soll der Spielfluss nur dann unterbrochen werden, wenn das Zweikampfverhalten zu viele Härten aufweist. In den unteren Spielklassen aber muss man nahezu alles abpfeifen, weil oft schon beim kleinsten Foul ziemlich gejammert wird."

DFB bietet intensive Schulung an

Zur richtigen Entscheidung, ob man ein Spiel nach einem Foul unterbricht oder nicht, gehören vor allem umfangreiche Erfahrungen nach einer Vielzahl von geleiteten Spielen. Verbunden damit sind zahlreiche eigene Erlebnisse auf dem Fußballfeld, die kritische Reflexion jeder Spielleitung und ein intensiver Erfahrungsaustausch mit anderen Unparteiischen.

Die Möglichkeit einer intensiven Schulung zum Vorteil bietet der DFB-Lehrbrief Nr. 80, der mehrere Arbeitsblätter sowie zehn Videoszenen zur Thematik enthält. Dabei können die Referees dann auch die Frage nach dem "Was wäre, wenn ..." intensiv diskutieren. Sie werden am Ende feststellen, dass es den absolut richtigen Weg bei der Frage nach Vorteil nicht gibt, denn letztlich ist die Entscheidung dazu von mehreren subjektiv zu bewertenden Einflüssen abhängig.

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Als Jens Lehmann im Champions-League-Finale 2006 den allein auf sein Tor zueilenden Samuel Eto'o direkt vor der Strafraumlinie regelwidrig von den Beinen holte, pfiff der norwegische Schiedsrichter Terje Hauge die Attacke des deutschen Schlussmanns sofort ab. Er wertete sie als Verhinderung einer klaren Torchance und zeigte dem Keeper die Rote Karte. Dabei hätte der Referee in dieser Situation nur einen kurzen Moment warten sollen, denn hier wäre auch noch der verzögerte Pfiff möglich gewesen. Oder Terje Hauge hätte auch auf Vorteil entscheiden können - in dieser Situation sicher die beste Lösung, denn der mitgelaufene Stürmer konnte den Ball unmittelbar nach dem Foul ins Tor schießen. Dann wäre dies das 1:0 für den FC Barcelona gegen den FC Arsenal gewesen, und Lehmann hätte nicht schon nach einer Viertelstunde vom Platz gemusst.

Bei der Frage nach Vorteil bekommen Worte wie "hätte", "wenn" und "wäre" immer wieder eine große Bedeutung. Der Konjunktiv macht deutlich, dass ein solcher Spielvorteil oft nicht zweifelsfrei zu erkennen ist. Von regeltechnischer Bedeutung für eine Bewertung eines Fouls und die daraus erwachsende Konsequenz ist für den Unparteiischen aber, dass er immer dann das ursprüngliche Vergehen zu bestrafen hat, wenn der Vorteil nicht direkt nach dem Foul eintritt. Die Zeitspanne ist zwar nicht exakt festgelegt, doch sollte ein möglicher verzögerter Pfiff noch im Zusammenhang mit dem Geschehen zu erkennen sein.

Sofort pfeifen oder abwarten?

Die Grundlagen zur Entscheidung auf Vorteil oder auf den verzögerten Pfiff werden in Regel 5 gegeben. Es heißt dort: "Der Schiedsrichter hat das Spiel bei einem Verstoß oder Vergehen weiterlaufen zu lassen, sofern das regelkonforme Team dadurch einen Vorteil erhält, und eine Strafe für den Verstoß auszusprechen oder das Vergehen zu bestrafen, wenn der mutmaßliche Vorteil nicht sofort oder innerhalb weniger Sekunden eintritt."

Hinter dieser sprachlich komplizierten Vorgabe steckt folgende Aussage: Ein Schiedsrichter hat, wie seinerzeit bei Jens Lehmann geschehen, die Möglichkeit, nach einem Vergehen sofort zu pfeifen und die entsprechenden Strafen auszusprechen. Er kann aber auch Vorteil gewähren, so dass das Spiel weiterläuft. Schließlich kann er nach einem solchen Vergehen auch noch einen kurzen Moment warten, um zu sehen, wie sich die Situation entwickelt. Erkennt der Referee dann, dass der angesprochene Vorteil nicht eintritt, so sollte er das Spiel jetzt mit dem verzögerten Pfiff unterbrechen.

Überhart geführtes Spiel: Kleinlicher pfeifen ist angesagt

Wichtig ist, dass es sich bei der Anwendung der Vorteilsbestimmung um eine Tatsachenentscheidung handelt. Die Spieler haben keinen Anspruch und kein Recht darauf, dass der Schiedsrichter diese Bestimmung anwendet oder dass er das Spiel nach einer Regelübertretung unterbricht. Eine große Schwierigkeit liegt sicher darin, dass der Referee bei seiner Entscheidung innerhalb von Sekundenbruchteilen viele Faktoren gegeneinander abwägen muss, die für oder gegen die Anwendung von Vorteil sprechen.

Kommt es zum Beispiel zu einem schweren Vergehen, das eine Rote Karte nach sich zieht, so muss der Schiedsrichter in jedem Fall immer dann das Spiel unterbrechen, wenn es nicht unmittelbar nach dem Vergehen zu einer klaren Torchance kommt. Der Unparteiische sollte auch dann ein Vergehen abpfeifen, wenn die Erfolgsaussicht eines Angriffs eher gering anzusehen ist, wenn also ein Foul weit entfernt vom gegnerischen Tor erfolgt.

Darüber hinaus spielt der Spielcharakter eine bedeutende Rolle bei der Anwendung von Vorteil. In einem überhart geführten, zerfahrenen Spiel mit zahlreichen offenen und versteckten Fouls muss der Unparteiische deutlich kleinlicher pfeifen als in einem fair geführten Fußballspiel mit einer positiven, freundschaftlichen Spielatmosphäre.

"In unteren Spielklassen muss man nahezu alles abpfeifen"

Die Verfasser des DFB-Lehrbriefs Nr. 80 gehen detailliert auf das Thema Vorteil ein: In einer Tabelle führen sie Bedingungen auf, die Einfluss auf die Entscheidung des Schiedsrichters haben. Dazu gehören nicht zuletzt die Beschaffenheit des Platzes, die Wichtigkeit des Spiels für eine oder sogar beide Mannschaften sowie auch eine regionale Rivalität zwischen den Teams.

Schließlich spielt auch die Spielklasse, in der der Unparteiische eingesetzt ist, eine Rolle bei der Anwendung von Vorteil. Auf einige Erfahrung hierzu können bereits Joel Jung (24 Jahre, Südwestdeutscher FV) und Dominik Fober (23 Jahre, Bayerischer FV) verweisen. Die beiden Schiedsrichter der B-Junioren-Bundesliga meinten beim diesjährigen Lehrgang des DFB in Grünberg: "Es macht einen großen Unterschied, ob wir in der B-Junioren-Bundesliga oder im Kreis eingesetzt sind. Je höher die Spielklasse, umso mehr wollen die Spieler, dass wir das Spiel laufen lassen. Da soll der Spielfluss nur dann unterbrochen werden, wenn das Zweikampfverhalten zu viele Härten aufweist. In den unteren Spielklassen aber muss man nahezu alles abpfeifen, weil oft schon beim kleinsten Foul ziemlich gejammert wird."

DFB bietet intensive Schulung an

Zur richtigen Entscheidung, ob man ein Spiel nach einem Foul unterbricht oder nicht, gehören vor allem umfangreiche Erfahrungen nach einer Vielzahl von geleiteten Spielen. Verbunden damit sind zahlreiche eigene Erlebnisse auf dem Fußballfeld, die kritische Reflexion jeder Spielleitung und ein intensiver Erfahrungsaustausch mit anderen Unparteiischen.

Die Möglichkeit einer intensiven Schulung zum Vorteil bietet der DFB-Lehrbrief Nr. 80, der mehrere Arbeitsblätter sowie zehn Videoszenen zur Thematik enthält. Dabei können die Referees dann auch die Frage nach dem "Was wäre, wenn ..." intensiv diskutieren. Sie werden am Ende feststellen, dass es den absolut richtigen Weg bei der Frage nach Vorteil nicht gibt, denn letztlich ist die Entscheidung dazu von mehreren subjektiv zu bewertenden Einflüssen abhängig.

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