Urs Siegenthaler: "Algerien wird mit extremer Leidenschaft spielen"

Siegenthaler: Das hoffe ich, ja. Ein Nachteil ist es sicher nicht.

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Wenn die deutsche Nationalmannschaft spielt, ist einer der engsten Mitarbeiter von Joachim Löw fast nie vor Ort. Urs Siegenthaler hat andere Aufgaben. Der Chefscout der deutschen Nationalmannschaft beobachtet und analysiert die Gegner, seine Informationen sind Teil des Puzzles aus dem sich die Strategie im deutschen Spiel ergibt. Auch bei der WM 2014 war der Schweizer wieder viel für die Deutschen unterwegs. Im Interview mit Redakteur Steffen Lüdeke spricht er über Überraschungen und Tendenzen der Vorrunde und über das Achtelfinale des DFB-Teams gegen Algerien.

DFB.de: Herr Siegenthaler, das erste Achtelfinale ist gespielt. Brasilien gegen Chile. Was fällt dem DFB-Chefscout zu so einer Partie aus analytischer Sicht ein?

Siegenthaler: Das Spiel war aufregend, packend und dramatisch. Aber der brasilianische Fußball, den wir alle kennen und lieben gelernt haben, der existiert heute nicht mehr. Zico, Socrates, Falcão, Ronaldinho, Cafu. Spieler wie diese standen für "das schöne Spiel", auch für große Romantik. Heute steht das brasilianische Spiel für Disziplin, trotzdem für Emotionen, für Eins-gegen-Eins-Situationen. Auch dafür, das Spiel zu zerstören. Das sind Attribute, die man vor zehn Jahren eher Mannschaften wie Italien zugeordnet hätte. Den "Zauberfußball", den wir alle mit der Seleção verbinden, den werden wir wohl weniger zu sehen bekommen.

DFB.de: Stimmen Sie zu, dass es für das Turnier gut ist, dass die Gastgeber weiter dabei sind?

Siegenthaler: Chile war sehr nah dran. Und dann verschießen sie drei Elfmeter, wer hätte das gedacht?! Hätte Brasilien es nicht geschafft, dann wäre in Brasilien Staatstrauer angesagt gewesen. Für die Brasilianer und für Brasilien ist es natürlich wahnsinnig positiv, dass sie in der Lotterie Elfmeterschießen gewonnen haben.

DFB.de: Was hat sie bei der WM bisher am meisten überrascht?

Siegenthaler: Das sagen ja alle: Dass so viele große Mannschaften ausgeschieden sind, allen voran natürlich Spanien. Ich habe in zweierlei Hinsicht mit meinen Einschätzungen vor dem Turnier nicht Recht gehabt: Erstens habe ich geglaubt, dass die Spiele nicht attraktiv sein würden. Dem war nicht so. Der Fußball war sehr, sehr attraktiv. Zum Zweiten bin ich davon ausgegangen, dass sich die Hitze auf die Intensität der Spiele auswirken würde. Das war nicht der Fall.

DFB.de: Welche Teams haben Sie positiv beeindruckt?

Siegenthaler: Die Musik im Turnier haben nicht die "Großen" gemacht, sondern die "Kleinen". Costa Rica, Algerien – das sind Teams, von denen im Vorfeld nicht erwartet wurde, dass sie so gute Rollen spielen können.

DFB.de: Es fallen erheblich mehr Tore als bei WM 2010. Damals waren es 2,27 im Schnitt, hier in Brasilien 2,94.

Siegenthaler: Das bestätigt, was ich eben gesagt habe: Die "Kleinen" haben den "Großen" das Tempo aufgezwungen. Belgien war im Rückstand, Italien war im Rückstand, die Niederlande waren im Rückstand, wir waren gegen Ghana im Rückstand. Die Favoriten waren dadurch oft gezwungen, ein hohes Tempo zu gehen. Mehr vielleicht, als Sie in der Spielidee ursprünglich vorgesehen hatten. Das führte zu einer hohen Intensität, aus dieser hohen Intensität sind viele Chancen und Tore entstanden.

DFB.de: Viele Spiele konnten noch gedreht werden. Das 1:0 war nicht so wichtig, wie von vielen vor dem Turnier angenommen.

Siegenthaler: Auch von mir. Ich hatte eindringlich gewarnt, dass wir unter diesen Verhältnissen auf keinen Fall in Rückstand geraten sollten.

DFB.de: Alles schwärmt vom Niveau der Spiele. Wenn Sie die WM mit allen anderen vergleichen, die Sie erlebt haben – wo würden Sie diese WM einordnen?

Siegenthaler: Wir dürfen Niveau nicht mit Attraktivität verwechseln. Aber was die Attraktivität des Turniers angeht, liegt die WM in Brasilien schon sehr weit vorn.

DFB.de: Im Vergleich zur WM 2010 hat sich die Nettospielzeit drastisch verringert. Im Schnitt ist der Ball hier in 90 Minuten knapp 15 Minuten weniger im Spiel. Welchen Einfluss hat das auf den Fußball?

Siegenthaler: Ist die Zahl wirklich so hoch?

DFB.de: Wenn man sich auf die Angaben der FIFA verlassen kann.

Siegenthaler: Das kann man. Dass die Spielzeit gleich 15 Minuten weniger sein soll, überrascht mich allerdings ein wenig. Wobei schon auffällig ist, dass die Spiele häufig unterbrochen sind. Es werden extrem viele taktische Fouls begangen. Schon beim Confed-Cup vor einem Jahr war dies zu sehen. Einige Mannschaften haben dies sogar als Stilmittel benutzt. Sie sind sehr viel, sehr schnell und sehr aufwendig gelaufen, sie haben viel investiert und sich dann durch kleine Fouls Erholungspausen geholt.

DFB.de: Geht der Trend generell wieder weg vom Ballbesitzfußball?

Siegenthaler: Fakt ist: Eine Aktion löst eine Reaktion aus. Spanien und Barcelona haben den Fußball mit dieser Art zu spielen, lange dominiert. Darauf haben die anderen Teams reagiert. Diese Gegenreaktion war zu erwarten, und sie hat immer mehr Erfolg. Barcelona erlebt dies im Moment, Spanien auch. Wenn wir über den Ballbesitzfußball reden, müssen wir Besitz von Progression unterscheiden. Ballbesitz nur um des Ballbesitzes Willen ist alleine nicht viel wert. Der Ballbesitz muss kombiniert werden mit dem klaren Ziel, auch zum Abschluss zu kommen. Wer im Ballbesitz ist, muss immer eine Idee haben, wie er sich schnell dem gegnerischen Tor nähern kann. Ballprogression, diese Art des Fußballs wird erfolgreich sein.

DFB.de: Welche Mannschaft hat Sie bisher am meisten überzeugt? Wer hatte die beste Spielidee?

Siegenthaler: Frankreich ist sehr gut aufgestellt, die Niederlande haben viele überzeugende Spielzüge gezeigt. Belgien ebenfalls. Auch unser Team möchte ich nennen. Wir haben immer sehr viele Chancen herausgespielt. Auffallend ist, dass diese Teams - mehr als beispielsweise Brasilien - darum bemüht sind, klare Aktionen zu haben und ihre Angriffe zum Abschluss zu bringen.

DFB.de: Sie nennen europäische Teams als positive Beispiele. Was ist mit den Südamerikanern? Fünf von sechs Teams haben die Runde der letzten 16 erreicht…

Siegenthaler: Zumindest in dieser Beziehung hatte ich Recht. (lacht) Das Turnier ist für die Mannschaften aus Südamerika die erwartete Heim-WM. Es sind viele Kleinigkeiten, die sich zu einem kleinen Vorteil für die Südamerikaner zusammensetzen. Hitze und Luftfeuchtigkeit, aber noch viele andere Faktoren, die Europäer als Widrigkeiten erleben. Nicht unbedingt nur im Spiel, auch zwischen den Spielen. Der Strom fällt aus, dann funktioniert die Klimaanlage nicht, es gibt ein Problem mit der Wäsche, dann geht der Fernseher nicht, dann steht man lange im Stau. Nichtigkeiten eigentlich, aber mit der falschen Mentalität in Summe doch ein Nachteil. Spieler aus Kolumbien, Chile und Ecuador registrieren so etwas gar nicht, weil sie es gewohnt sind, Spieler aus Europa müssen sich damit arrangieren.

DFB.de: Das DFB-Team spielt am Montag im Achtelfinale gegen Algerien. Für die Scouts eine Herausforderung? Müssen Sie sich die Informationen jetzt noch besorgen?

Siegenthaler: Nein. Ich habe die Algerier immer auf der Karte gehabt. Ich habe die Mannschaft beobachten lassen, habe sie auch selbst gesehen. Ich habe immer gesagt, dass es durchaus passieren kann, dass sich die Algerier und nicht die Russen hinter Belgien für das Achtelfinale qualifizieren. Auch die Historie zeigt, dass wir aufpassen müssen. Bisher haben wir zwei Mal gegen Algerien gespielt, wir haben zwei Mal verloren. Auch 1982 waren wir großer Favorit, mit vielen großen Namen in unseren Reihen. Und die anderen gewinnen 2:1.

DFB.de: Was macht Algerien denn so gefährlich? Bundestrainer Joachim Löw hat von einem unangenehmen Gegner gesprochen…

Siegenthaler: Ich will das nicht überhöhen, aber ich erwarte, dass die Algerier so spielen, als ging es um ihr Leben. Die Algerier sind sehr stolz, wenn sie ihre Chance erkennen, werden Sie mit allen Mitteln versuchen, diese zu ergreifen. Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass sie mit extremer Leidenschaft spielen werden.

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DFB.de: Welchen Teams trauen Sie zu, bei diesem Turnier noch weit zu kommen?

Siegenthaler: Es gibt schon im Achtelfinale viele spannende Konstellationen. Ich bin zum Beispiel gespannt, wie sich die Niederlande gegen Mexiko schlagen, wenn Sie zum ersten Mal in die Wärme müssen. Wie gesagt: Zu den Gewinnern dieses Turniers bisher zähle ich auch Frankreich. Unsere Mannschaft sowieso. Auch Brasilien. Ein dickes Fragezeichen steht für mich hinter Argentinien. Sie sind mit relativ überschaubarer Leistung weitergekommen, durch Messis optimale Chancenverwertung. Nach der Vorrunde beginnt das Turnier neu. Ich bin der Überzeugung, dass die Teams, die im gemäßigten Süden gespielt haben, einen Vorteil hatten. Es ist einfach ein Unterschied, ob man bei 15 oder bei 33 Grad spielt.

DFB.de: Die deutsche Mannschaft hat die Hitze hinter sich. Kann dies ein Vorteil sein?

Siegenthaler: Das hoffe ich, ja. Ein Nachteil ist es sicher nicht.