Trauer um Enke und der Umgang mit einem Tabu

Es ist viel geredet worden in den vergangenen neun Tagen. Noch mehr geschwiegen worden. Und es ist manches korrigiert worden. Das Bild des ewig funktionierenden, alles aushaltenden, unverwundbaren Fußballprofis zum Beispiel, dem allenfalls der gegnerische Verteidiger etwas anhaben kann. Ein Klischee, eine Kunstfigur, eine unmenschliche Illusion. Als die unfassbare Nachricht vom Tod des Mannschaftskameraden am 10. November das Quartier der deutschen Nationalmannschaft in Bonn erreichte, zeigte sich das andere, das wirkliche Bild des so sehr verehrten und dabei so oft verkannten Fußballspielers.

Teammanager Oliver Bierhoff trat an jenem Abend vor die Mannschaft und übermittelte das, wofür es eigentlich keine Worte gab. Es folgte ein Schweigen, das immer lauter wurde. Es gab Spieler, die geweint haben. Es gab Spieler, die sich umarmt haben. Und es gab keinen Spieler, der einfach so zur Tagesordnung übergehen wollte und konnte. Sie wollten einen Moment in Ruhe trauern, weil sie einen Mitspieler, einen Freund verloren hatten. Sie wollten eigentlich nur das, was jeder Mensch in diesem Moment will: schwach sein, nicht funktionieren, keine Erwartungen erfüllen, trauern. „Manchmal muss auch der Fußball innehalten“, sagte Bundestrainer Joachim Löw.

Er hat innegehalten. Nachdem Zwanziger und Generalsekretär Wolfgang Niersbach mit den Trainern gesprochen hatten, wurde am Nachmittag vom DFB-Präsidenten eine Entscheidung verkündet, die nicht den üblichen Mechanismen der Branche folgte. Es ging in diesem Moment nicht um Fernsehgelder, nicht um Ticketverkauf oder Logistik. Als das geplante Länderspiel gegen Chile in Köln abgesagt wurde, ging es einzig und allein um die Menschen. Um die Menschlichkeit.

Der mutige Weg von Teresa Enke

Dass es um nichts Größeres gehen kann, haben die Bilder der vergangenen neun Tage gezeigt. Und vor allem dieser eine Auftritt einer bemerkenswerten Frau, die hinter dem bemerkenswerten Torwart stand. Teresa Enke hat etwas gemacht, was vermutlich nur jemand machen kann, der so viel miterlebt hat wie sie. Zuerst verlor sie ihre kleine Tochter Lara, jetzt ihren Mann. Sie hätte sich zurückziehen können, niemanden an sich ranlassen, all die Dinge totschweigen, die passiert sind. Aber sie ist einen anderen, einen viel mutigeren Weg gegangen. Einen, der einem so trostlosen, so sinnlosen Tod irgendwann doch noch einen Sinn geben kann.

„Wir dachten, mit Liebe geht alles“, hat sie gesagt und dazu eine Geschichte erzählt, bei der selbst die Liebe an ihre Grenzen gestoßen ist. Sie hat sich getraut, über die Leidensgeschichte ihres Mannes zu sprechen, die auch ihre eigene ist. Sie handelt von einem Ausnahmetalent, dass irgendwann dem Druck aus eigenen Ansprüchen, den Erwartungen der anderen, sportlichen Rückschlägen und privaten Schicksalsschlägen einfach nicht mehr Stand halten konnte.

Was Teresa Enke öffentlich gemacht hat, ist eine Geschichte von tagtäglicher Unberechenbarkeit, von ständigen Wechseln zwischen Aufbruchstimmung und Antriebslosigkeit, von immer wieder neuer Hoffnung und immer wieder neuer Verzweiflung. Die Angst und Ungewissheit als jahrelanger Begleiter, Verfolger, Feind. Vielleicht war es auch ein bisschen Befreiung, als sie endlich aussprechen konnte, was bisher niemand hören durfte: „Mein Mann hatte Depressionen.“

Das Tabuthema Depression



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Deutschland gegen die Elfenbeinküste – es sind die ersten 90 Spielminuten auf dem langen Weg zurück in die Normalität. Mit einer bewegenden Trauerfeier hat sich der deutsche Fußball von Robert Enke verabschiedet. Zurück bleiben viele offene Fragen und die Chance, in einer manchmal so einseitig auf Erfolg ausgerichteten Leistungsgesellschaft einen offeneren, toleranteren Umgang mit psychischen Erkrankungen und menschlichen Schwächen anzustoßen. DFB-Chefredakteur Ralf Köttker über einen sinnlosen Tod, dem der Fußball vielleicht doch noch einen Sinn geben kann.

Wenn die deutsche Nationalmannschaft heute in Gelsenkirchen das Stadion betritt, werden die Bilder der vergangenen neun Tage vor den Augen von vielen noch einmal wie im Zeitraffer ablaufen. Die vielen Bilder, die sich zu einem immer noch so unwirklich erscheinenden Film zusammengesetzt haben: weiße Rosen auf grauem Asphalt, hunderte Teelichter im Novemberwind, kleine Teddys mit handgeschriebenen Zetteln um den Hals, weinende Menschen in Fußballtrikots. Es waren Bilder, die den Fußball erschüttert haben. Bilder,die ihn vielleicht verändert haben. Bilder, die niemand vergessen kann. Und niemand vergessen darf.

Dr. Theo Zwanziger: "Fußball ist nicht Alles"

Was bleibt nach all den Sondersendungen, Extraseiten und Expertenmeinungen? Was bleibt nach diesem emotionalen Ausnahmezustand und alles beherrschenden Medienereignis? Vielleicht am ehesten dieses eine, endgültige, letzte, allerletzte Bild von Robert Enke in einem Fußballstadion. Sein letzter Weg aus seinem Fußballstadion. So oft ist er in den vergangenen Jahren diesen Weg gegangen. Über den Rasen, Richtung Seitenlinie, ein kurzer Gruß ins Publikum, ein kurzes Lächeln, bis zum nächsten Heimspiel in Hannover. Es wird kein nächstes Heimspiel geben.

Als der Sarg mit Robert Enke von seinen Mannschaftskollegen aus dem Stadion getragen wurde, standen die Menschen von ihren Plätzen auf und klatschten ihm ein letztes Mal Beifall. Laut und trotzdem gefühlvoll. „You’ll never walk alone“ tönte aus den Lautsprecherboxen für einen Mann, der seinen letzten Weg doch ganz allein gegangen war. Der Titel klang wie ein zu spät gemachtes Versprechen, er klang nach verzweifelter Sehnsucht, dem unerfüllbaren Wunsch nach Wiedergutmachung. Er klang nach so viel mehr als nur nach Fußball.

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„Fußball ist nicht alles“, hatte kurz zuvor DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger in seiner Trauerrede gesagt, die jeden im Stadion erreicht und bewegt hatte. Und nie zuvor wurde so anschaulich deutlich, wie wahr dieser oft so lässig daher gesagte Satz tatsächlich ist. Dort, wo sich sonst die Spieler zum Anstoß treffen, stand ein Sarg. Dort, wo sonst die Trainerbank steht, saß eine weinende Witwe. Und dort, wo sonst die Fans singen, wischten sich Mitspieler Tränen aus den Augen.

Das wirkliche Bild des verehrten Torwarts

Durch den Tod von Robert Enke spielte in der AWD-Arena an diesem sonnigen Sonntagvormittag plötzlich das wahre Leben. Das wahre Drama, das wahre Leiden. Es ging hier nicht um Meisterschaftspunkte, sondern um Menschen. „Denkt nicht nur an den Schein“, mahnte Zwanziger. Robert Enkes Fans klatschten, so wie sie immer geklatscht hatten, wenn ihre Nummer eins dagegen hielt. Wenn ihr Torhüter mal wieder scheinbar alles im Griff hatte. Wenn er keine Unsicherheit zeigte.

Es ist viel geredet worden in den vergangenen neun Tagen. Noch mehr geschwiegen worden. Und es ist manches korrigiert worden. Das Bild des ewig funktionierenden, alles aushaltenden, unverwundbaren Fußballprofis zum Beispiel, dem allenfalls der gegnerische Verteidiger etwas anhaben kann. Ein Klischee, eine Kunstfigur, eine unmenschliche Illusion. Als die unfassbare Nachricht vom Tod des Mannschaftskameraden am 10. November das Quartier der deutschen Nationalmannschaft in Bonn erreichte, zeigte sich das andere, das wirkliche Bild des so sehr verehrten und dabei so oft verkannten Fußballspielers.

Teammanager Oliver Bierhoff trat an jenem Abend vor die Mannschaft und übermittelte das, wofür es eigentlich keine Worte gab. Es folgte ein Schweigen, das immer lauter wurde. Es gab Spieler, die geweint haben. Es gab Spieler, die sich umarmt haben. Und es gab keinen Spieler, der einfach so zur Tagesordnung übergehen wollte und konnte. Sie wollten einen Moment in Ruhe trauern, weil sie einen Mitspieler, einen Freund verloren hatten. Sie wollten eigentlich nur das, was jeder Mensch in diesem Moment will: schwach sein, nicht funktionieren, keine Erwartungen erfüllen, trauern. „Manchmal muss auch der Fußball innehalten“, sagte Bundestrainer Joachim Löw.

Er hat innegehalten. Nachdem Zwanziger und Generalsekretär Wolfgang Niersbach mit den Trainern gesprochen hatten, wurde am Nachmittag vom DFB-Präsidenten eine Entscheidung verkündet, die nicht den üblichen Mechanismen der Branche folgte. Es ging in diesem Moment nicht um Fernsehgelder, nicht um Ticketverkauf oder Logistik. Als das geplante Länderspiel gegen Chile in Köln abgesagt wurde, ging es einzig und allein um die Menschen. Um die Menschlichkeit.

Der mutige Weg von Teresa Enke

Dass es um nichts Größeres gehen kann, haben die Bilder der vergangenen neun Tage gezeigt. Und vor allem dieser eine Auftritt einer bemerkenswerten Frau, die hinter dem bemerkenswerten Torwart stand. Teresa Enke hat etwas gemacht, was vermutlich nur jemand machen kann, der so viel miterlebt hat wie sie. Zuerst verlor sie ihre kleine Tochter Lara, jetzt ihren Mann. Sie hätte sich zurückziehen können, niemanden an sich ranlassen, all die Dinge totschweigen, die passiert sind. Aber sie ist einen anderen, einen viel mutigeren Weg gegangen. Einen, der einem so trostlosen, so sinnlosen Tod irgendwann doch noch einen Sinn geben kann.

„Wir dachten, mit Liebe geht alles“, hat sie gesagt und dazu eine Geschichte erzählt, bei der selbst die Liebe an ihre Grenzen gestoßen ist. Sie hat sich getraut, über die Leidensgeschichte ihres Mannes zu sprechen, die auch ihre eigene ist. Sie handelt von einem Ausnahmetalent, dass irgendwann dem Druck aus eigenen Ansprüchen, den Erwartungen der anderen, sportlichen Rückschlägen und privaten Schicksalsschlägen einfach nicht mehr Stand halten konnte.

Was Teresa Enke öffentlich gemacht hat, ist eine Geschichte von tagtäglicher Unberechenbarkeit, von ständigen Wechseln zwischen Aufbruchstimmung und Antriebslosigkeit, von immer wieder neuer Hoffnung und immer wieder neuer Verzweiflung. Die Angst und Ungewissheit als jahrelanger Begleiter, Verfolger, Feind. Vielleicht war es auch ein bisschen Befreiung, als sie endlich aussprechen konnte, was bisher niemand hören durfte: „Mein Mann hatte Depressionen.“

Das Tabuthema Depression

Es ist ein Tabuthema, immer noch. Und wer in den vergangenen Tagen die Leidensgeschichte des Nationaltorhüters erfahren hat, der muss sich fragen: Warum? Warum kann der Leistungssport, warum kann die Leistungsgesellschaft nicht offen damit umgehen? Robert Enke hätte darauf vermutlich eine klare, desillusionierende Antwort gegeben: Weil es nicht gut ist, Schwäche zu zeigen. Weil es dir schaden kann. Weil man stark sein muss, um nach oben zu kommen und oben zu bleiben.

Er jedenfalls hatte sich dagegen entschieden. Für ihn wurde der Fußball zu einem Versteckspiel. Er hütete das Tor und gleichzeitig sein Geheimnis. Stark spielen, nichts anmerken lassen, bloß nicht versagen. Wenn er mit seiner Mannschaft trainierte, war er trotzdem einsam. Allein mit seinen Ängsten. Zerrissen zwischen seiner großen Leidenschaft und den immer größer werdenden Leiden. Bis es nicht mehr ging, bis er nicht mehr wollte. Bis zu jenem 10. November 2009. „Die Welt ist nicht im Lot“, hat Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff bei der Trauerfeier für Robert Enke gesagt. Und die grenzenlose Anteilnahme zeigt, dass viele Menschen offenbar ein tiefer liegendes Bedürfnis verspüren, wieder einiges ins Lot zu bringen, ins Gleichgewicht. Ein schwerer, wahrscheinlich viel zu schwerer Weg für einen alleine. Ein nicht mehr ganz so schwerer, vielleicht ein tatsächlich realisierbarer Weg, wenn ihn alle mitgehen, gemeinsam gehen.

„Wir müssen das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft, die insoweit nicht menschlich sein kann, brechen“, hat Dr. Theo Zwanziger in seiner Rede gesagt und damit die Lehre und Selbstverpflichtung aus dem Tod des Nationaltorhüters für den Fußball formuliert: Talente fördern, ja. Titel und Fans gewinnen, ja. Erfolgreich sein, ja. Aber bei allem Ehrgeiz auch Fehler und Schwächen zuzulassen. Werte zu vermitteln, die so häufig im Abseits stehen. Das darwinistische Verdrängungsprinzip des Stärkeren soll nicht die einzige, die alles dominierende Maxime sein. „Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger“, wurde am vergangenen Sonntag in Hannover gesagt und damit das beschrieben, was sich der DFB-Präsident für den Fußball jetzt wünscht: die Balance zu finden.

Die Nationalmannschaft macht auf dem Weg dorthin heute einen ersten, einen schweren Schritt. Es sind die ersten 90 Spielminuten zurück in die Normalität. 90 Minuten zum Abschluss eines Länderspiel-Jahres, von dem vor allem ein Bild in Erinnerung bleiben wird. Ein Sarg, der von einer Mannschaft aus einem Stadion getragen wird. Ein Lied, das niemanden allein gehen lassen will. Und ein Vermächtnis, dass eine Verpflichtung ist: Fußball ist etwas Wunderbares, Fußball ist Emotion, Fußball ist Wettbewerb. Aber Fußball ist eben nicht alles.