Torreich und lehrreich: Das deutsche Länderspieljahr 2012

Deutsche Offensive darf als einzigartig gelten

Die Offensive der deutschen Mannschaft darf als einzigartig gelten, ihr Unterhaltungswert auch. Spieler wie Mesut Özil, Marco Reus, Thomas Müller, Mario Götze, André Schürrle oder Lukas Podolski vereinen Technik, Eleganz und Finesse mit Willen, Kraft und Geschwindigkeit. Und ganz vorne verfügt Löw über Ausnahmespieler: Miroslav Klose ist inzwischen 34, wirkt aber wie 24. Und trifft noch immer so beständig, dass er bald vermutlich den Torrekord von Gerd Müller erreichen wird.

Und wenn der beste deutsche EM-Torschütze, Mario Gomez, nach seiner Sprunggelenkverletzung wieder in Form ist, ist auch er wieder eine starke Alternative. "Wir haben gegen den Weltmeister von 2014 gespielt", sagte der Schwede Zlatan Ibrahimovic mit Blick auf die ersten 62 Minuten. Und Günter Netzer lobte: "Ein Trainer, der seiner Mannschaft beibringt, 60 Minuten lang einen derart großartigen Fußball zu spielen, ist ein großer Trainer."

In der Defensivarbeit Spielraum nach oben

Niemand ignoriert aber, was sich im Berliner Olympiastadion zwischen der 62. Minute und dem Schlusspfiff abgespielt hat. Dass Fußballspiele 90 Minuten dauern, ist keine neue Erkenntnis. Die Botschaft hinter diesem viel zitierten Sinnspruch Sepp Herbergers ist aber heute und bezogen auf die Nationalmannschaft aktueller denn je. Im Jahr 2012 fielen 15 der 22 Gegentore in den zweiten 45 Minuten, auch insofern ist das Spiel gegen Schweden ein Spiegel des Jahres. In 31 Minuten hat Manuel Neuer vier Tore kassiert, eine Lehre ist also: In der Defensive gibt es Spielraum nach oben.

Positiv gesehen, liegt im Defensivverhalten der gesamten Mannschaft ein großes Potenzial. Es gibt keinen Zweifel, dass Spieler wie Philipp Lahm, Holger Badstuber, Per Mertesacker und Jérôme Boateng herausragende Fähigkeiten haben. Und für Spieler wie Hummels, Schmelzer oder Höwedes, die gegen Schweden nicht auf dem Platz standen, gilt das ebenso. Unbestritten ist zudem, dass Manuel Neuer zu den weltweit besten Torhütern gehört. An Begabung mangelt es nicht, auch nicht in der Abwehr. Genauso wenig davor mit Spielern wie Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Lars Bender - um nur einige zu nennen.

"Gegner dominiert und dann wieder ins Spiel gebracht"

Die Mannschaft hat im Jahr 2012 mehrfach bewiesen, wie sicher sie im Defensivverhalten agieren kann. Insbesondere auch in der Vorrunde der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Im Spiel gegen Portugal hatten Cristiano Ronaldo und Co. kaum eine Torchance, Neuer ging mit weißer Weste vom Feld. Auch die Niederlande waren im Vorrundendenspiel der EM bei der Hintermannschaft des deutschen Teams gut aufgehoben. Das Tor von Robin van Persie in der 73. Minute blieb ohne Folgen, mehr als diesen Treffer brachten die Offensivkünstler von "Oranje" nicht zustande.



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Höhen und Tiefen, Verzückung und Enttäuschung, Jubel und Ernüchterung - dazu brillante Kombinationen und späte Gegentore – ein Spiel gegen Schweden steht für das Länderspieljahr 2012, in all seinen Extremen. Das DFB-Team hat begeistert, es hat sein außergewöhnliches Talent demonstriert, sieben von neun Pflichtspielen gewonnen, es führt in der WM-Qualifikation. Aber es hat auch ein paar lehrreiche Momente erlebt. Für DFB.de zieht Redakteur und Nationalmannschaftsreporter Steffen Lüdeke eine Bilanz des EM-Jahres.

Finale in Amsterdam: Am vergangenen Montag reiste die deutsche Nationalmannschaft in die Niederlande. Es ging gegen den Nachbarn, es ging um viel Prestige, es ging darum, ein turbulentes Jahr mit einem Erfolg zu beenden. Als Resultat stand nach dem Spiel am Mittwochabend ein torloses Remis, das gerade angesichts der Vorgeschichte durchaus als kleiner Sieg gewertet werden darf.

"Ich habe wichtige Erkenntnisse gewonnen", sagte Bundestrainer Joachim Löw. Sein Fazit: "Insgesamt haben wir das gegen eine der besten Mannschaften in Europa sehr gut gelöst." Der letzte Vorhang war gefallen, unter ein turbulentes 2012 wurde ein Schlussstrich gezogen.

Legendäres 4:4 gegen Schweden

Viel ist passiert in diesem Jahr, die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, der Start in die WM-Qualifikation. Neun Pflichtspiele bestritt das deutsche Team, sieben wurden gewonnen, eines wurde verloren. Und ein Spiel endete mit acht Toren und einem 4:4 - es war das denkwürdigste auf dem geplanten Weg nach Brasilien - an einem Abend im Oktober in der deutschen Hauptstadt.

Es war ein Fußballspiel, an das man sich noch lange erinnern wird. In der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2014 trennte sich die deutsche Nationalmannschaft 4:4 von Schweden. Nach drei Siegen in Folge das erste Remis, der erste kleine Rückschlag, tabellarisch kein Drama. Deutschland führt die Tabelle der Gruppe C in der Europa- Qualifikation zur WM weiter an, die DFB-Auswahl liegt damit voll im Soll.

Eine Stunde lang: Fußball in stilvoller Vollendung

Und doch: Die Partie gegen die Mannschaft von Trainer Erik Hamrén war kein gewöhnliches Fußballspiel. Es war ein Spiel mit vielen Wahrheiten, legendär und lehrreich. Das Gute ereignete sich zwischen der ersten und 62. Minute. Wobei gut nur eine unzureichende Beschreibung ist. Die deutsche Mannschaft spielte, nein, sie zelebrierte Fußball in stilvoller Vollendung. Spielzüge wie Gemälde, mit feinem Pinsel am Reißbrett entworfen. Drei Tore binnen 39 Minuten, jedes einzelne ein Genuss.

Mit ihrer kunstvollen Darbietung steckten die Artisten das Publikum an, die La Ola machte die Runde im Berliner Olympiastadion, und sie machte sogar vor der schwedischen Kurve nicht halt. Erst zögerlich, dann fast einheitlich wirkten die Fans der Gäste in der wellenförmigen Begleitung des Spektakels mit, das besonders Marco Reus, Mesut Özil und Miroslav Klose dort unten im Berliner Regen inszenierten.

Die letzte halbe Stunde: Wie konnte das passieren?

Das war auch die Zeit, in der Bundestrainer Joachim Löw und sein Assistent Hansi Flick auf der deutschen Bank so breit und zufrieden lachten, wie es sonst nur Lukas Podolski zustande bringt. Im Strahlen der beiden spiegelte sich viel Erleichterung, viel Zufriedenheit. Nach der Kritik im Anschluss an die EURO fiel nicht wenig Last vom Führungsduo ab. Die Leistung aus dem Irland-Spiel und die Eindrücke aus den Trainingseinheiten in Berlin wurden bestätigt: Die Mannschaft hat die EM abgehakt. Gegen die Färöer und Österreich hatte sie noch mit Effizienz gespielt, nun waren Begeisterung, Spielfreude und Genialität zurückgekehrt.

Nach dem Abpfiff waren Löw und Flick nicht wiederzuerkennen. Dieselben Menschen, ganz andere Gesichter. In einer halben Stunde hatte die Mannschaft vier Gegentore kassiert, aus einer überirdischen Leistung war irdisches Fragen geworden. Und alles rätselte: Wie konnte das passieren? Die simple Erklärung liest sich wie folgt: Kopfball Ibrahimovic (62. Minute), Rechtsschuss Lustig (64.), Linksschuss Elmander (76.), Rechtsschuss Elm (90.).

"Wir brauchen keine Revolution, wir brauchen Evolution"

Niederlagen können lehrreich sein, sagt man, in diesem Fall musste ein Remis lehrreich sein. Und so lag im 4:4 von Berlin auch eine Chance: Wer analysiert, findet Fehler. Wer Fehler findet, kann daraus lernen. Wer lernt, wird besser. Wer besser wird, siegt in Zukunft. Die Frage, warum dieser Wahnsinn passieren konnte, beschäftigt die Sportliche Leitung. Unaufgeregt, mit einigem Abstand und mit kühlem Kopf ist sie beantwortet worden. "Einen 4:0-Vorsprung aus der Hand zu geben, ist normalerweise nicht möglich", sagte Joachim Löw in den Minuten nach dem Spiel. "Das ist schwer einzuordnen. Woran das lag, muss ich erst mal analysieren, um mich konkret zu äußern."

Nach der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine war die Situation ähnlich. Im Halbfinale gegen Italien hatte die Mannschaft im entscheidenden Moment ihre Leistungsgrenze nicht erreicht, das Ende des Turniers kam zu früh. Die hohen, manchmal überhöhten Erwartungen wurden enttäuscht, Deutschland war enttäuscht. Die Sportliche Leitung hat die EM analysiert und die richtigen Schlüsse gezogen. Schnelleres Umschalten, besseres Pressing, mehr Vorwärtsverteidigen heißen die Schlagworte. Aber alles mit Maß. "Es geht nicht darum, dass wir unser Spiel grundlegend ändern, wir müssen den Fußball nicht neu erfinden", sagt Kapitän Philipp Lahm. "Unser System passt, wir sind gut, wir brauchen keine Revolution, wir brauchen Evolution."

Die Partie gegen die Niederlande am 14. November in Amsterdam hat das Länderspieljahr dieser Mannschaft beschlossen. Bei bisher 14 Auftritten hat das Team 32 Tore geschossen, davon 25 in den neun Pflichtspielen (sieben Siege, ein Unentschieden, eine Niederlage). In den vier Spielen der WM-Qualifikation sind ihr 15 Treffer gelungen, sechs allein in Irland. Eine herausragende Bilanz - weltweit haben im Rahmen der Bewerber um ein Ticket für Brasilien nur Argentinien (18) und Uruguay (16) mehr Tore erzielt. Bei der doppelten Anzahl an Spielen.

Deutsche Offensive darf als einzigartig gelten

Die Offensive der deutschen Mannschaft darf als einzigartig gelten, ihr Unterhaltungswert auch. Spieler wie Mesut Özil, Marco Reus, Thomas Müller, Mario Götze, André Schürrle oder Lukas Podolski vereinen Technik, Eleganz und Finesse mit Willen, Kraft und Geschwindigkeit. Und ganz vorne verfügt Löw über Ausnahmespieler: Miroslav Klose ist inzwischen 34, wirkt aber wie 24. Und trifft noch immer so beständig, dass er bald vermutlich den Torrekord von Gerd Müller erreichen wird.

Und wenn der beste deutsche EM-Torschütze, Mario Gomez, nach seiner Sprunggelenkverletzung wieder in Form ist, ist auch er wieder eine starke Alternative. "Wir haben gegen den Weltmeister von 2014 gespielt", sagte der Schwede Zlatan Ibrahimovic mit Blick auf die ersten 62 Minuten. Und Günter Netzer lobte: "Ein Trainer, der seiner Mannschaft beibringt, 60 Minuten lang einen derart großartigen Fußball zu spielen, ist ein großer Trainer."

In der Defensivarbeit Spielraum nach oben

Niemand ignoriert aber, was sich im Berliner Olympiastadion zwischen der 62. Minute und dem Schlusspfiff abgespielt hat. Dass Fußballspiele 90 Minuten dauern, ist keine neue Erkenntnis. Die Botschaft hinter diesem viel zitierten Sinnspruch Sepp Herbergers ist aber heute und bezogen auf die Nationalmannschaft aktueller denn je. Im Jahr 2012 fielen 15 der 22 Gegentore in den zweiten 45 Minuten, auch insofern ist das Spiel gegen Schweden ein Spiegel des Jahres. In 31 Minuten hat Manuel Neuer vier Tore kassiert, eine Lehre ist also: In der Defensive gibt es Spielraum nach oben.

Positiv gesehen, liegt im Defensivverhalten der gesamten Mannschaft ein großes Potenzial. Es gibt keinen Zweifel, dass Spieler wie Philipp Lahm, Holger Badstuber, Per Mertesacker und Jérôme Boateng herausragende Fähigkeiten haben. Und für Spieler wie Hummels, Schmelzer oder Höwedes, die gegen Schweden nicht auf dem Platz standen, gilt das ebenso. Unbestritten ist zudem, dass Manuel Neuer zu den weltweit besten Torhütern gehört. An Begabung mangelt es nicht, auch nicht in der Abwehr. Genauso wenig davor mit Spielern wie Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Lars Bender - um nur einige zu nennen.

"Gegner dominiert und dann wieder ins Spiel gebracht"

Die Mannschaft hat im Jahr 2012 mehrfach bewiesen, wie sicher sie im Defensivverhalten agieren kann. Insbesondere auch in der Vorrunde der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Im Spiel gegen Portugal hatten Cristiano Ronaldo und Co. kaum eine Torchance, Neuer ging mit weißer Weste vom Feld. Auch die Niederlande waren im Vorrundendenspiel der EM bei der Hintermannschaft des deutschen Teams gut aufgehoben. Das Tor von Robin van Persie in der 73. Minute blieb ohne Folgen, mehr als diesen Treffer brachten die Offensivkünstler von "Oranje" nicht zustande.

Gegen Schweden genügte ein Tor von Ibrahimovic, um die deutsche Mannschaft zu verunsichern. Sicher, Sami Khedira war gegen Schweden nicht dabei, Mats Hummels war nicht dabei, Ilkay Gündogan sowie die Zwillinge Lars und Sven Bender auch nicht. Tatsache ist aber auch, dass die Mannschaft in 14 Spielen im Jahr 2012 nur viermal zu Null spielte. Und 22 Gegentore sind für ganz hohe Ansprüche zu viel.

Nicht immer hat die Balance zwischen Defensive und Offensive gestimmt, es fehlte an Konstanz. Und weil das Niveau der Spieler hoch ist, lässt sich auf hohem Niveau klagen. "Wir machen zu häufig den Fehler, dass wir unsere Gegner dominieren und sie dann durch Nachlässigkeiten wieder ins Spiel bringen", sagt Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff.

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Balance zwischen Stabilität und Spektakel finden

Die Aufgabe vor dem Finale in Amsterdam war folglich klar: weniger Spektakel, mehr Stabilität. Sie wurde gelöst, angesichts der Vorzeichen: bravourös. Acht Absagen hatte Löw zu kompensieren, er drehte dies in eine Chance: "Es war eine gute Möglichkeit für andere Spieler, sich auf diesem Niveau zu bewähren", sagt der Bundestrainer. "Das Spiel hat gezeigt, dass wir gute Alternativen haben." Und dass die Mannschaft in ihrer Gesamtheit in der Lage ist, erfolgreich und konstant auf höchstem Niveau nach hinten zu arbeiten.

"Es war wichtig, dass wir nach den letzten 30 Minuten gegen Schweden im Vorfeld einige wichtige Dinge angesprochen haben, die uns passiert sind", sagt Löw. "Wir wollten das nicht wiederholen." Es wurde nicht wiederholt. "Wir haben gesehen, dass wir auch defensiv gut spielen können", so Löw. Dass die Mannschaft offensiv gut spielen kann, musste sie niemand mehr beweisen.

Im Jahr 2013 soll dann konstant beides stimmen: Es gilt, die richtige Mischung aus Stabilität und Spektakel zu finden.