SV 62 Bruchsal: Auf Herbergers Spuren

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Es war sicher nicht sein erster Anstoß. Sepp Herberger war Stürmer, ein sehr guter sogar, und hat in seiner Karriere bei Waldhof und dem VfR Mannheim und später auch bei Tennis Borussia Berlin ganz oft am Mittelkreis gestanden. Am 30. September 1970 war es jedoch ein ganz besonderer. Es war der Anstoß in der Justizvollzugsanstalt in Bruchsal, der Anstoß zu einer neuen Lebensaufgabe.

Walter Schmitt, damals Dekan in der Gefängnisanstalt, hatte seinen Freund Herberger eingeladen, um "die Gefangenen spüren zu lassen, dass sie von draußen nicht abgeschrieben werden". Herberger nahm an. Keine vier Wochen später war er gekommen und unterhielt sich mit den Häftlingen, erzählte Anekdoten, munterte auf, machte wieder Mut.

SV 62 Bruchsal erhält Sepp-Herberger-Urkunde

Nach diesem ersten Besuch in der JVA Bruchsal schickte Herberger jedes Jahr Weihnachtsgeschenke, bat seinen ehemaligen Kapitän Fritz Walter die Strafanstalt zu besuchen und hielt den Kontakt zu den besuchten Strafgefangenen. "Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie meinen Brief beantwortet haben, denn das ist nicht selbstverständlich und irgendwie hat es mich moralisch aufgerichtet", schrieb ihm damals ein Häftling.

44 Jahre später nun schließt sich der Kreis: Der SV 62 Bruchsal wird mit der Sepp-Herberger-Urkunde ausgezeichnet. Seit ihrer Gründung 1977 verleiht die DFB-Stiftung Sepp Herberger diese Urkunde an Fußballvereine, die sich im Bereich der Resozialisierung engagieren. Der Verein aus Baden arbeitet seit 2010 eng mit der JVA in Bruchsal zusammen, um Strafgefangenen den Übergang in die Freiheit zu erleichtern. Rund 450 Gefangene sitzen hier ein. Freigänger im offenen Vollzug trainieren mit der Mannschaft und werden sogar bei Saisonspielen eingesetzt.

Fußball schafft besonderen Zugang zu Häftlingen

"Den ersten Kontakt zu den Strafgefangenen gab es durch das jährliche JVA-Turnier, bei dem das Gefängnis die umliegenden Vereine einlädt", erinnert sich Rüdiger Hochscheidt und erklärt weiter: "Als einer der Gefangenen dann mit dem Wunsch auf mich zukam, während seines Freigangs Fußball zu spielen, habe ich mit dem Leiter des offenen Vollzugs Wolfgang Stöhr Kontakt aufgenommen. Die Initiative ging also von einem Häftling selbst aus."

Nach dem Gespräch mit Stöhr startete das Projekt 2010. "Unsere Häftlinge sollen durch das Projekt wieder Anschluss an das Leben in Freiheit und Selbstverantwortung finden und soziale Bindungen aufbauen", beschreibt der Leiter des offenen Vollzugs, warum man mit dem SV 62 Bruchsal kooperiert. "Sonst fallen sie nach ihrer Haft in ein Loch. Der Fußball schafft da einen ganz anderen Zugang."

"Die ersten beiden Gefangenen waren unsere Eisbrecher"

Im Verein allerdings herrschte zunächst noch Unsicherheit, einige Familien sorgten sich um ihre Kinder. Nachdem der erste Projektteilnehmer jedoch problemlos in die Mannschaft integriert wurde und es dann auch beim zweiten keine Konflikte gab, wich die Skepsis allmählich. "Die ersten beiden, das waren unsere Eisbrecher. Sie waren für die Akzeptanz des Projekts bei den Mitgliedern unheimlich wichtig", sagt Hochscheidt. Vier der sieben Teilnehmer genießen mittlerweile wieder ihre Freiheit - drei davon leben in Bruchsal.

"Ich habe mich entschlossen in Bruchsal zu bleiben, um noch einmal neu anzufangen, um nicht wieder in die alten Kreise reinzurutschen und um mir selbst zu beweisen, dass ich alleine klarkomme", sagt der ehemalige Gefangene Joe (Name von der Redaktion geändert). Er arbeitet mittlerweile wieder in seinem alten Beruf als Fachkraft für Lagerlogistik und sieht sich auf einem "hervorragenden Weg" in ein neues Leben. Auch der Job als Jugendtrainer des SV 62 Bruchsal trägt zu der erfreulichen Entwicklung bei: "Ich fühle mich hier angenommen und habe das Gefühl, wieder etwas leisten zu können."

Das Erfolgsgeheimnis in Bruchsal sieht Hochscheidt in der sorgsamen Auswahl der Strafgefangenen: "Wenn sich ein Häftling für das Projekt interessiert, sprechen wir mit ihm. In dem Gespräch erfährt er, was wir von ihm erwarten, aber auch, was er von uns erwarten kann." Wichtig sei, dass der Strafgefangene "offen auf die Spieler im Verein zugeht und sich einordnet. Er sollte nicht zu fordernd sein, gerade, was die Einsatzzeiten angeht".

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"Es kann nur funktionieren, wenn Kommunikation stimmt"

Das Konzept funktioniert. Bisher wurde noch kein Projektteilnehmer rückfällig, eine nahezu unglaubliche Bilanz, wenn man die Rückfallquoten im Strafvollzug bedenkt. Besonders das gute Zusammenspiel zwischen dem offenen Vollzug und dem Verein schätzt Rüdiger Hochscheidt sehr: "Das Ganze kann nur funktionieren, wenn die Kommunikation stimmt. Das ist bei uns der Fall." Deshalb soll das Projekt auch dauerhaft fortgesetzt werden. Doch nicht nur das: Seit September 2013 kooperiert man auch mit dem Jugendvollzug in Adelsheim.

Ein ehemaliger Jugendspieler des SV 62 Bruchsal wurde zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Nachdem er den ersten Teil seiner Haftstrafe abgesessen hat, darf er an Spieltagen wieder für den Verein auflaufen. Der Verein organisiert über seine Mitglieder einen Fahrdienst zum 100 Kilometer entfernten Gefängnis, nur so ist das möglich. Dieser enorme Einsatz ist für den jungen Mann ein großer Anreiz, sich in der Woche anständig zu verhalten.

Für den Fußball, für die Menschen.

Diese besondere Menschlichkeit treibt die Mitglieder beim SV 62 Bruchsal an. Und auch Sepp Herberger spürte diesen inneren Antrieb, Menschen wieder auf die Beine zu helfen. Ein damaliger Inhaftierter erkannte früh: "Ich möchte Ihnen ganz offen sagen, dass ich das von einem Seppl Herberger auch nicht anders erwartet habe. Denn wer Sie kennt, weiß, dass Sie Ihrer ganzen Art nach nicht anders handeln konnten."

Sepp und Eva Herberger hinterließen der Stiftung nach ihrem Tod ihr gesamtes Privatvermögen. Auch heute gibt es diese Menschen noch, die "nicht anders können". Am Freitagabend werden einige von ihnen in Mannheim mit der Sepp-Herberger-Urkunde geehrt. Sie erfüllen das Motto der Stiftung mit Leben: Für den Fußball. Für die Menschen.

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Es war sicher nicht sein erster Anstoß. Sepp Herberger war Stürmer, ein sehr guter sogar, und hat in seiner Karriere bei Waldhof und dem VfR Mannheim und später auch bei Tennis Borussia Berlin ganz oft am Mittelkreis gestanden. Am 30. September 1970 war es jedoch ein ganz besonderer. Es war der Anstoß in der Justizvollzugsanstalt in Bruchsal, der Anstoß zu einer neuen Lebensaufgabe.

Walter Schmitt, damals Dekan in der Gefängnisanstalt, hatte seinen Freund Herberger eingeladen, um "die Gefangenen spüren zu lassen, dass sie von draußen nicht abgeschrieben werden". Herberger nahm an. Keine vier Wochen später war er gekommen und unterhielt sich mit den Häftlingen, erzählte Anekdoten, munterte auf, machte wieder Mut.

SV 62 Bruchsal erhält Sepp-Herberger-Urkunde

Nach diesem ersten Besuch in der JVA Bruchsal schickte Herberger jedes Jahr Weihnachtsgeschenke, bat seinen ehemaligen Kapitän Fritz Walter die Strafanstalt zu besuchen und hielt den Kontakt zu den besuchten Strafgefangenen. "Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie meinen Brief beantwortet haben, denn das ist nicht selbstverständlich und irgendwie hat es mich moralisch aufgerichtet", schrieb ihm damals ein Häftling.

44 Jahre später nun schließt sich der Kreis: Der SV 62 Bruchsal wird mit der Sepp-Herberger-Urkunde ausgezeichnet. Seit ihrer Gründung 1977 verleiht die DFB-Stiftung Sepp Herberger diese Urkunde an Fußballvereine, die sich im Bereich der Resozialisierung engagieren. Der Verein aus Baden arbeitet seit 2010 eng mit der JVA in Bruchsal zusammen, um Strafgefangenen den Übergang in die Freiheit zu erleichtern. Rund 450 Gefangene sitzen hier ein. Freigänger im offenen Vollzug trainieren mit der Mannschaft und werden sogar bei Saisonspielen eingesetzt.

Fußball schafft besonderen Zugang zu Häftlingen

"Den ersten Kontakt zu den Strafgefangenen gab es durch das jährliche JVA-Turnier, bei dem das Gefängnis die umliegenden Vereine einlädt", erinnert sich Rüdiger Hochscheidt und erklärt weiter: "Als einer der Gefangenen dann mit dem Wunsch auf mich zukam, während seines Freigangs Fußball zu spielen, habe ich mit dem Leiter des offenen Vollzugs Wolfgang Stöhr Kontakt aufgenommen. Die Initiative ging also von einem Häftling selbst aus."

Nach dem Gespräch mit Stöhr startete das Projekt 2010. "Unsere Häftlinge sollen durch das Projekt wieder Anschluss an das Leben in Freiheit und Selbstverantwortung finden und soziale Bindungen aufbauen", beschreibt der Leiter des offenen Vollzugs, warum man mit dem SV 62 Bruchsal kooperiert. "Sonst fallen sie nach ihrer Haft in ein Loch. Der Fußball schafft da einen ganz anderen Zugang."

"Die ersten beiden Gefangenen waren unsere Eisbrecher"

Im Verein allerdings herrschte zunächst noch Unsicherheit, einige Familien sorgten sich um ihre Kinder. Nachdem der erste Projektteilnehmer jedoch problemlos in die Mannschaft integriert wurde und es dann auch beim zweiten keine Konflikte gab, wich die Skepsis allmählich. "Die ersten beiden, das waren unsere Eisbrecher. Sie waren für die Akzeptanz des Projekts bei den Mitgliedern unheimlich wichtig", sagt Hochscheidt. Vier der sieben Teilnehmer genießen mittlerweile wieder ihre Freiheit - drei davon leben in Bruchsal.

"Ich habe mich entschlossen in Bruchsal zu bleiben, um noch einmal neu anzufangen, um nicht wieder in die alten Kreise reinzurutschen und um mir selbst zu beweisen, dass ich alleine klarkomme", sagt der ehemalige Gefangene Joe (Name von der Redaktion geändert). Er arbeitet mittlerweile wieder in seinem alten Beruf als Fachkraft für Lagerlogistik und sieht sich auf einem "hervorragenden Weg" in ein neues Leben. Auch der Job als Jugendtrainer des SV 62 Bruchsal trägt zu der erfreulichen Entwicklung bei: "Ich fühle mich hier angenommen und habe das Gefühl, wieder etwas leisten zu können."

Das Erfolgsgeheimnis in Bruchsal sieht Hochscheidt in der sorgsamen Auswahl der Strafgefangenen: "Wenn sich ein Häftling für das Projekt interessiert, sprechen wir mit ihm. In dem Gespräch erfährt er, was wir von ihm erwarten, aber auch, was er von uns erwarten kann." Wichtig sei, dass der Strafgefangene "offen auf die Spieler im Verein zugeht und sich einordnet. Er sollte nicht zu fordernd sein, gerade, was die Einsatzzeiten angeht".

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"Es kann nur funktionieren, wenn Kommunikation stimmt"

Das Konzept funktioniert. Bisher wurde noch kein Projektteilnehmer rückfällig, eine nahezu unglaubliche Bilanz, wenn man die Rückfallquoten im Strafvollzug bedenkt. Besonders das gute Zusammenspiel zwischen dem offenen Vollzug und dem Verein schätzt Rüdiger Hochscheidt sehr: "Das Ganze kann nur funktionieren, wenn die Kommunikation stimmt. Das ist bei uns der Fall." Deshalb soll das Projekt auch dauerhaft fortgesetzt werden. Doch nicht nur das: Seit September 2013 kooperiert man auch mit dem Jugendvollzug in Adelsheim.

Ein ehemaliger Jugendspieler des SV 62 Bruchsal wurde zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Nachdem er den ersten Teil seiner Haftstrafe abgesessen hat, darf er an Spieltagen wieder für den Verein auflaufen. Der Verein organisiert über seine Mitglieder einen Fahrdienst zum 100 Kilometer entfernten Gefängnis, nur so ist das möglich. Dieser enorme Einsatz ist für den jungen Mann ein großer Anreiz, sich in der Woche anständig zu verhalten.

Für den Fußball, für die Menschen.

Diese besondere Menschlichkeit treibt die Mitglieder beim SV 62 Bruchsal an. Und auch Sepp Herberger spürte diesen inneren Antrieb, Menschen wieder auf die Beine zu helfen. Ein damaliger Inhaftierter erkannte früh: "Ich möchte Ihnen ganz offen sagen, dass ich das von einem Seppl Herberger auch nicht anders erwartet habe. Denn wer Sie kennt, weiß, dass Sie Ihrer ganzen Art nach nicht anders handeln konnten."

Sepp und Eva Herberger hinterließen der Stiftung nach ihrem Tod ihr gesamtes Privatvermögen. Auch heute gibt es diese Menschen noch, die "nicht anders können". Am Freitagabend werden einige von ihnen in Mannheim mit der Sepp-Herberger-Urkunde geehrt. Sie erfüllen das Motto der Stiftung mit Leben: Für den Fußball. Für die Menschen.