Streich: Ein Fremder in der Glitzerwelt

50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. In der Winterpause der Saison 2011/2012 betritt ein Trainer die Bundesligabühne, der so ganz anders ist als die Kollegen. Christian Streich wird weit über Freiburg hinaus Kult.

Kurz vor Weihnachten geschah Unglaubliches in Freiburg. Der SC entließ seinen Trainer Marcus Sorg. Das hatte es am südlichsten Ligastandort noch nie gegeben, nicht in der Bundesliga. Auch sechs Spieler erhielten den Laufpass, darunter Kapitän Heiko Butscher. Die Folgen einer verkorksten Hinrunde mit nur 13 Punkten, der Abstieg schien beinahe sicher. Wollten sie ihn überhaupt noch verhindern, oder planten sie schon für die 2. Bundesliga? Nach dem Verkauf von Torjäger Papiss Cissé nach England, der immerhin die Kassen füllte, sah es danach aus.

Und einen Retter hatten sie ja auch nicht geholt, Co-Trainer Christian Streich übernahm die Mannschaft. Der 46-Jährige hatte im Ausbildungsbereich große Dinge vollbracht. Das Freiburger Fußball-Internat gilt als vorbildlich, auch dank Streich, der mit der U 19 des SCF dreimal DFB-Juniorenpokalsieger und einmal sogar Meister geworden war. Deutscher Meister. Und jetzt Abstiegskampf in der Bundesliga. Streich wollte ablehnen, doch dann fiel er um, "denn ich habe mich gefragt, was es für den Klub bedeuten würde, wenn ich es nicht mache". Und so machte er es.

27 Punkte in der Rückrunde

Gegen Augsburg gelang der erste Streich, das Goldene Tor fiel kurz vor Schluss durch den eingewechselten Debütanten Matthias Ginter, den Streich in der U 19 ausgebildet hatte. Es war ein Symbol, der Freiburger Weg schien der richtige zu sein. Und er war goldrichtig. Der SC holte in der Rückrunde 2011/2012 sensationelle 27 Punkte, rettete sich schon am 32. Spieltag. Sogar gegen Bayern gab es einen Punkt (0:0), und selbst wenn die Breisgauer verloren, begeisterten sie - wie beim 2:3 in Wolfsburg. Freiburg machte wieder Spaß, wie einst unter Volker Finke, als sie "die Breisgau-Brasilianer" genannt wurden.

Am meisten Spaß aber machte der Trainer. Streich lebte und lebt mit dieser Mannschaft und diesem Verein, für den er einst gespielt hatte und seit 1995 arbeitet. Weil er mit dem Fahrrad zum Training kommt, jedenfalls bei schönem Wetter, passt er in die Schublade vom Öko-Klub. Das Image vom kleinen Klub, der sich gegen übermächtige Konkurrenz behaupten und die Bundesliga als Geschenk betrachten muss, pflegt er selbst bei jedem Interview. Ihm nimmt man das ab; er ist ein Fremder in der Glitzerwelt Bundesliga und betont gern: "Ich bin doch ein ganz normaler Mensch, nur ab und zu bin ich jetzt eben im Fokus der Kameras. Es belastet mich nicht."

Dehnübungen am Spielfeldrand - na und?

Schmunzeln musste er trotzdem, als kolportiert wurde, der etwas andere Trainer mache sich sogar mit den Spielern warm. Streich stellte klar: "Es war kalt, ich wollte keine dicke Jacke anziehen wegen der Bewegungsfreiheit. Deshalb habe ich auf dem Rasen Übungen gemacht. Mir war klar, dass das irgendwas auslöst, aber das war mir egal."

Streich bleibt Streich - immer authentisch, immer gleich. Ehrlich und direkt zu den Spielern, die ihn akzeptieren, wenn nicht gar mehr, dank seiner natürlichen Autorität und - in vielen Fällen - der gemeinsamen Vergangenheit im Jugendbereich. Den Journalisten sagt er nicht immer, was sie hören wollen, sondern das, was ihm in den Sinn kommt. Kostprobe vor laufender Kamera: "Merken Sie, wie das Interview läuft? Unglücklich!"

"Hab' noch nie sechs Punkte für ein Spiel bekommen"

Auf die Frage, ob am Wochenende ein Sechs-Punkte-Spiel anstehe, weil zwei Abstiegskandidaten aufeinander träfen, antwortete er lapidar: "Also ich hab' noch nie sechs Punkte für ein Spiel bekommen". Antworten wie diese oder Weisheiten wie "Der eine holt Kraft aus der Badewanne, der andere aus dem Gebet", verschafften ihm Kultstatus. Die Badische Zeitung verließ sich regelrecht darauf und richtete eine Rubrik ein: "Streich der Woche". Ein tauglicher Spruch fällt immer - bis heute.

Nach Saisonende wurde er mit Lob aus berufenem Munde überhäuft. Ligapräsident Dr. Reinhard Rauball nannte Freiburg "die Mannschaft des Jahres", DFB-Präsident Wolfgang Niersbach verriet, er würde Streich "gern mal kennenlernen" und Bundestrainer Joachim Löw, der ihn als ehemaliger Mitspieler schon kannte, adelte ihn gar als "Konzepttrainer". Streich war schon über die Anerkennung der Kollegen erfreut: "Ich war beeindruckt, dass so erfahrene Leute wie Huub Stevens, Thomas Schaaf oder andere ganz normal mit mir reden. Die Begegnungen waren total nett, das ist eine schöne Erfahrung. Dass sie nicht aufgefressen wurden von dem Ganzen, gibt einem Hoffnung."

Christian Streich hat im Folgejahr noch ein paar mehr neue Erfahrungen gemacht und den SC fast sogar in die Champions League gebracht. Aber auch die Europa League, in der der SCF nun antreten darf, ist eine Sensation für diesen Klub. Der etwas andere Trainer ist derselbe geblieben, aber in Freiburg ist plötzlich einiges ganz anders geworden. Auf einen Streich quasi.

Christian Streichs Bundesligabilanz: 55 Spiele als Trainer, zehn als Spieler.

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50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. In der Winterpause der Saison 2011/2012 betritt ein Trainer die Bundesligabühne, der so ganz anders ist als die Kollegen. Christian Streich wird weit über Freiburg hinaus Kult.

Kurz vor Weihnachten geschah Unglaubliches in Freiburg. Der SC entließ seinen Trainer Marcus Sorg. Das hatte es am südlichsten Ligastandort noch nie gegeben, nicht in der Bundesliga. Auch sechs Spieler erhielten den Laufpass, darunter Kapitän Heiko Butscher. Die Folgen einer verkorksten Hinrunde mit nur 13 Punkten, der Abstieg schien beinahe sicher. Wollten sie ihn überhaupt noch verhindern, oder planten sie schon für die 2. Bundesliga? Nach dem Verkauf von Torjäger Papiss Cissé nach England, der immerhin die Kassen füllte, sah es danach aus.

Und einen Retter hatten sie ja auch nicht geholt, Co-Trainer Christian Streich übernahm die Mannschaft. Der 46-Jährige hatte im Ausbildungsbereich große Dinge vollbracht. Das Freiburger Fußball-Internat gilt als vorbildlich, auch dank Streich, der mit der U 19 des SCF dreimal DFB-Juniorenpokalsieger und einmal sogar Meister geworden war. Deutscher Meister. Und jetzt Abstiegskampf in der Bundesliga. Streich wollte ablehnen, doch dann fiel er um, "denn ich habe mich gefragt, was es für den Klub bedeuten würde, wenn ich es nicht mache". Und so machte er es.

27 Punkte in der Rückrunde

Gegen Augsburg gelang der erste Streich, das Goldene Tor fiel kurz vor Schluss durch den eingewechselten Debütanten Matthias Ginter, den Streich in der U 19 ausgebildet hatte. Es war ein Symbol, der Freiburger Weg schien der richtige zu sein. Und er war goldrichtig. Der SC holte in der Rückrunde 2011/2012 sensationelle 27 Punkte, rettete sich schon am 32. Spieltag. Sogar gegen Bayern gab es einen Punkt (0:0), und selbst wenn die Breisgauer verloren, begeisterten sie - wie beim 2:3 in Wolfsburg. Freiburg machte wieder Spaß, wie einst unter Volker Finke, als sie "die Breisgau-Brasilianer" genannt wurden.

Am meisten Spaß aber machte der Trainer. Streich lebte und lebt mit dieser Mannschaft und diesem Verein, für den er einst gespielt hatte und seit 1995 arbeitet. Weil er mit dem Fahrrad zum Training kommt, jedenfalls bei schönem Wetter, passt er in die Schublade vom Öko-Klub. Das Image vom kleinen Klub, der sich gegen übermächtige Konkurrenz behaupten und die Bundesliga als Geschenk betrachten muss, pflegt er selbst bei jedem Interview. Ihm nimmt man das ab; er ist ein Fremder in der Glitzerwelt Bundesliga und betont gern: "Ich bin doch ein ganz normaler Mensch, nur ab und zu bin ich jetzt eben im Fokus der Kameras. Es belastet mich nicht."

Dehnübungen am Spielfeldrand - na und?

Schmunzeln musste er trotzdem, als kolportiert wurde, der etwas andere Trainer mache sich sogar mit den Spielern warm. Streich stellte klar: "Es war kalt, ich wollte keine dicke Jacke anziehen wegen der Bewegungsfreiheit. Deshalb habe ich auf dem Rasen Übungen gemacht. Mir war klar, dass das irgendwas auslöst, aber das war mir egal."

Streich bleibt Streich - immer authentisch, immer gleich. Ehrlich und direkt zu den Spielern, die ihn akzeptieren, wenn nicht gar mehr, dank seiner natürlichen Autorität und - in vielen Fällen - der gemeinsamen Vergangenheit im Jugendbereich. Den Journalisten sagt er nicht immer, was sie hören wollen, sondern das, was ihm in den Sinn kommt. Kostprobe vor laufender Kamera: "Merken Sie, wie das Interview läuft? Unglücklich!"

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"Hab' noch nie sechs Punkte für ein Spiel bekommen"

Auf die Frage, ob am Wochenende ein Sechs-Punkte-Spiel anstehe, weil zwei Abstiegskandidaten aufeinander träfen, antwortete er lapidar: "Also ich hab' noch nie sechs Punkte für ein Spiel bekommen". Antworten wie diese oder Weisheiten wie "Der eine holt Kraft aus der Badewanne, der andere aus dem Gebet", verschafften ihm Kultstatus. Die Badische Zeitung verließ sich regelrecht darauf und richtete eine Rubrik ein: "Streich der Woche". Ein tauglicher Spruch fällt immer - bis heute.

Nach Saisonende wurde er mit Lob aus berufenem Munde überhäuft. Ligapräsident Dr. Reinhard Rauball nannte Freiburg "die Mannschaft des Jahres", DFB-Präsident Wolfgang Niersbach verriet, er würde Streich "gern mal kennenlernen" und Bundestrainer Joachim Löw, der ihn als ehemaliger Mitspieler schon kannte, adelte ihn gar als "Konzepttrainer". Streich war schon über die Anerkennung der Kollegen erfreut: "Ich war beeindruckt, dass so erfahrene Leute wie Huub Stevens, Thomas Schaaf oder andere ganz normal mit mir reden. Die Begegnungen waren total nett, das ist eine schöne Erfahrung. Dass sie nicht aufgefressen wurden von dem Ganzen, gibt einem Hoffnung."

Christian Streich hat im Folgejahr noch ein paar mehr neue Erfahrungen gemacht und den SC fast sogar in die Champions League gebracht. Aber auch die Europa League, in der der SCF nun antreten darf, ist eine Sensation für diesen Klub. Der etwas andere Trainer ist derselbe geblieben, aber in Freiburg ist plötzlich einiges ganz anders geworden. Auf einen Streich quasi.

Christian Streichs Bundesligabilanz: 55 Spiele als Trainer, zehn als Spieler.