Sportschützin Schmermund: Die Welt ist eine Scheibe

Funktionierte – aber nur so einigermaßen. Gerade noch rettete sie sich in das Finale der besten zehn Schützinnen der Welt. Dort zählt sogar die Qualität des Volltreffers, ob die 10 angekratzt oder gelocht wird. Und plötzlich schoss sie ganz sicher: 493,6 Ringe. Am Ende lag nur Zhang Ciuping, eine Chinesin, vor ihr. Silber für die DFB-Angestellte, nach Gold und Bronze in Athen und Silber in Peking ihre vierte Medaille bei den Paralympics.

"Schützen sind analytische Menschen", beschreibt sie das zum Sportschießen passende Persönlichkeitsbild: "Körper, Geist und Technik müssen im Gleichklang sein. Man muss viel tüfteln, um im Wettbewerb alle Theorie, alle gelernte Kontrolle fahren zu lassen." Wie eine Kellnerin das Tablett, hat sie das Gewehr auf der flachen linken Hand liegen. Der angewinkelte Arm ruht auf ihrer Hüfte. Sie sagt: "Man darf nichts erzwingen, alle Muskeln bleiben entspannt. Wenn die Waffe nach dem Abfeuern hüpft, weiß ich schon, das war bescheiden." Hüpft sie nicht, trifft sie meistens den Stecknadelkopf.

"Die Mauer steckte bis zur Mittelkonsole im Auto"

Aufgewachsen ist sie in Niederaula. Ein sehr kleines Dorf in Nordhessen bei Bad Hersfeld, es gibt Bibeltage, ein Radlercafé und nicht viel mehr. "Zuerst habe ich Fußball gespielt, damals war alles anders. Ich war das einzige Mädchen, irgendwann wurde es mit der Umkleide problematisch", sagt sie. Mit elf Jahren wechselte sie zum Sportschießen, und sofort zeigte sich ihr Talent. Dann passierte das Unglück.

Die Bilder sind bis heute verschwommen. Sie fuhr selbst, war alleine im Auto. In einer Linkskurve muss es sie auf den Randstreifen getragen haben, sie wollte den Schlenker korrigieren, das Auto kam ins Schleudern und knallte mit der Fahrerseite gegen eine kleine Mauer, einen Wasserdurchlauf. "Die Mauer steckte dann bis zur Mittelkonsole im Auto", sagt sie. Irgendwo dazwischen steckte die zierliche, damals 20 Jahre junge Manuela Schmermund. Drei Wochen später erwachte sie aus dem Koma, ab dem Nabel querschnittsgelähmt.

Eine Bekanntschaft brachte sie sieben Jahre nach dem Unfall eher zufällig zurück zum Sportschießen. Seitdem ist sie eine der besten Sportschützinnen weltweit, egal ob behindert oder "Fußgänger", wie sie die Nicht-Behinderten nennt. "Heute weiß ich, die Rückkehr zum Schießsport war ein Teil meiner Heilung. Der Sport hat mir unendlich viel gegeben", sagt sie.

Unterstützung vom Arbeitgeber DFB

Für den DFB ist die Verwaltungsfachfrau tätig in der Direktion von Willi Hink, die Themen der Nachhaltigkeit werden hier administriert. Für Lehrgänge der Nationalmannschaft und Wettkämpfe wird sie freigestellt. Vor den Paralympics trainierte sie, inklusive Ausgleichssport und Mentaltraining, rund 30 Stunden die Woche. "Mein Arbeitgeber ist sehr kooperativ und unterstützt mich großartig", sagt sie. "Ich bin dem DFB aufrichtig dankbar, dass ich meinen Sport auf diesem Niveau ausüben kann."



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Volltreffer mit Gewehr: Die erste Medaille für Deutschland bei den Paralympics 2012 in London gewann eine DFB-Mitarbeiterin. Manuela Schmermund zählt seit einem Jahrzehnt zu den besten Schützen. Grund genug, sich mal mit ihr auf dem Schießstand zu treffen.

Rrrrums, den Rollstuhl an die Balustrade gefahren, sie stellt sich quer zum Ziel, ein schwarzer Fleck in zehn Metern Entfernung, dann das Gewehr, das sie lieber Sportgerät nennt und das aussieht wie aus einer Gardinenstange und einem Wagenheber zusammengeschraubt, in den Anschlag genommen, eine lockere federleichte Bewegung und "peng". Eine 9,8. "Ging doch, für trocken geschossen", sagt sie und lächelt.

Vier Medaillen bei den Paralympics

Manuela Schmermund dominiert seit einem Jahrzehnt den Luftgewehr-Wettbewerb der behinderten Sportschützen in Deutschland. Von den Paralympics brachte die 40 Jahre alte Verwaltungsfachfrau des DFB ihre vierte olympische Medaille mit. Sydney, Athen, Peking und London – immer war sie dabei. Deutsche Meistertitel? "Ach, du Schande", sagt sie und lächelt wieder. "18- oder 20-mal" schon wurde sie Deutsche Meisterin, viermal Europameisterin, 2005 und 2008 wurde sie zur besten Schützin des Landes gewählt, und zwar unter allen Schützen. Den Männern wie Frauen, den behinderten und nicht-behinderten Schützen.

Der Luftgewehr-Wettbewerb sieht so aus: Die Schützin feuert aus zehn Metern 40 Schuss ab, dafür hat sie 75 Minuten Zeit. Die schwarze Scheibe hat den Durchmesser eines Fünf-Mark-Stücks, und die Älteren wissen noch, dass das nicht sonderlich groß war. Der innerste Ring, die 10, ist klein, sehr klein, als hätte jemand mit einem zarten Stecknadelstich die schwarze Fläche perforiert. Maximal können während des olympischen Vorkampfes 400 Ringe geschossen werden. Wer keine 390 schafft, verpasst das Finale. Das Ganze ist unglaublich – aus zehn Metern Distanz kann man diesen Stecknadelkopf nicht sehen, nicht erahnen. Aus fünf Metern auch nicht.

"Wie eine wärmende Jacke, in die du schlüpfst, und die perfekt passt, so fühlt es sich an", beschreibt sie dieses Gefühl, wenn sie die Waffe in den Anschlag nimmt und sich absolut sicher ist, dass sie die 10 treffen wird. Ein Glücksgefühl, eine innere Ausgeglichenheit, eine kontrollierte Selbstzufriedenheit. "Ich denke mir dann: 'Das passt ja alles, wie schön.'" Und, peng, trifft sie den schwarzen Fleck genau in der Mitte.

"Schützen sind analytische Menschen"

Die Paralympics von London starteten mit dem Luftgewehr-Schießen. "An den Tagen davor habe ich kaum noch danebengeschossen. Irgendwann wurde ich kribbelig. Und am Morgen des Wettkampfs wachte ich unglaublich nervös auf. Mein Puls raste. Während der Quali habe ich versucht, immer in der Pulspause zu schießen", sagt sie.

Funktionierte – aber nur so einigermaßen. Gerade noch rettete sie sich in das Finale der besten zehn Schützinnen der Welt. Dort zählt sogar die Qualität des Volltreffers, ob die 10 angekratzt oder gelocht wird. Und plötzlich schoss sie ganz sicher: 493,6 Ringe. Am Ende lag nur Zhang Ciuping, eine Chinesin, vor ihr. Silber für die DFB-Angestellte, nach Gold und Bronze in Athen und Silber in Peking ihre vierte Medaille bei den Paralympics.

"Schützen sind analytische Menschen", beschreibt sie das zum Sportschießen passende Persönlichkeitsbild: "Körper, Geist und Technik müssen im Gleichklang sein. Man muss viel tüfteln, um im Wettbewerb alle Theorie, alle gelernte Kontrolle fahren zu lassen." Wie eine Kellnerin das Tablett, hat sie das Gewehr auf der flachen linken Hand liegen. Der angewinkelte Arm ruht auf ihrer Hüfte. Sie sagt: "Man darf nichts erzwingen, alle Muskeln bleiben entspannt. Wenn die Waffe nach dem Abfeuern hüpft, weiß ich schon, das war bescheiden." Hüpft sie nicht, trifft sie meistens den Stecknadelkopf.

"Die Mauer steckte bis zur Mittelkonsole im Auto"

Aufgewachsen ist sie in Niederaula. Ein sehr kleines Dorf in Nordhessen bei Bad Hersfeld, es gibt Bibeltage, ein Radlercafé und nicht viel mehr. "Zuerst habe ich Fußball gespielt, damals war alles anders. Ich war das einzige Mädchen, irgendwann wurde es mit der Umkleide problematisch", sagt sie. Mit elf Jahren wechselte sie zum Sportschießen, und sofort zeigte sich ihr Talent. Dann passierte das Unglück.

Die Bilder sind bis heute verschwommen. Sie fuhr selbst, war alleine im Auto. In einer Linkskurve muss es sie auf den Randstreifen getragen haben, sie wollte den Schlenker korrigieren, das Auto kam ins Schleudern und knallte mit der Fahrerseite gegen eine kleine Mauer, einen Wasserdurchlauf. "Die Mauer steckte dann bis zur Mittelkonsole im Auto", sagt sie. Irgendwo dazwischen steckte die zierliche, damals 20 Jahre junge Manuela Schmermund. Drei Wochen später erwachte sie aus dem Koma, ab dem Nabel querschnittsgelähmt.

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Eine Bekanntschaft brachte sie sieben Jahre nach dem Unfall eher zufällig zurück zum Sportschießen. Seitdem ist sie eine der besten Sportschützinnen weltweit, egal ob behindert oder "Fußgänger", wie sie die Nicht-Behinderten nennt. "Heute weiß ich, die Rückkehr zum Schießsport war ein Teil meiner Heilung. Der Sport hat mir unendlich viel gegeben", sagt sie.

Unterstützung vom Arbeitgeber DFB

Für den DFB ist die Verwaltungsfachfrau tätig in der Direktion von Willi Hink, die Themen der Nachhaltigkeit werden hier administriert. Für Lehrgänge der Nationalmannschaft und Wettkämpfe wird sie freigestellt. Vor den Paralympics trainierte sie, inklusive Ausgleichssport und Mentaltraining, rund 30 Stunden die Woche. "Mein Arbeitgeber ist sehr kooperativ und unterstützt mich großartig", sagt sie. "Ich bin dem DFB aufrichtig dankbar, dass ich meinen Sport auf diesem Niveau ausüben kann."

Pro Jahr rund 40 Tage stellt der DFB die erfolgreiche Schützin frei. Stefan Hans, als DFB-Direktor für das Personalwesen zuständig, sagt: "Wir machen das gerne, nicht nur als Sportverband, sondern auch als Arbeitgeber. Wir leisten damit auch einen Beitrag für den Sport in Deutschland."

Kurz vor der Abreise nach London wurde Schmermund in die DFB-Bibliothek geladen. Die Direktoren wollten sie offiziell verabschieden. "Jetzt wollen wir aber auch eine Medaille sehen", wurde gescherzt. Männer- wie Frauenteams des DFB hatten 2012 die Olympiaqualifikation nicht geschafft, also flachste Schmermund zurück: "Egal wie ich abschneide, ich war wenigstens dabei." Wenn es gewünscht wird, kann sie auch scharf schießen.

Der Reiz von Rio 2016

Als Aktivensprecherin der deutschen Behindertensportler referierte sie Mitte Oktober vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages. Sie hat einen guten Draht zur Vorsitzenden Dagmar Freitag, verstand sich auch mit dem Vorgänger Dr. Peter Dankert. "Das war ein kantiger Typ, damit kann ich umgehen", sagt sie.

Ihr Fazit der Londoner Paralympics dagegen fällt ambivalent aus: "Medial hat Channel 4 die Wettbewerbe attraktiv angeboten, aber die Unterkünfte im Olympischen Dorf waren unterer Schnitt." Nicht unterfahrbare Waschbecken, einige zu enge Zimmer trübten das Bild. Sie lobt ARD und ZDF für die umfangreiche Sendezeit und ist überzeugt: "Das Interesse am Behindertensport wächst weiter."

Rio de Janeiro 2016 reizt sie, aber "erst mal plane ich für zwei Jahre. 2014 ist Deutschland WM-Ausrichter, in Suhl will ich dabei sein." Neben Sport und Beruf engagiert sie sich auch privat. Für die Organisation SMOG (Schule machen ohne Gewalt), bei der auch Rudi Völler und Sebastian Kehl mitmachen, besucht sie Schulen und diskutiert mit Jugendlichen.

Eigene Grenzen erweitert

So oft es Beruf und ihre Verpflichtungen zulassen, fährt sie im eigenen Auto zum Schießstand. Die Welt schrumpft dann zusammen auf eine kleine per Luftdruck abgefeuerte Bleikugel, und sie verdichtet sich an diesem zehn Meter entfernten Stecknadelkopf. Sie liebt Beruhigung, Sammlung, die Energieanreicherung, bis zu dem Moment, wenn sie das Projektil auf seine Bahn bringt. Das macht sie wahrscheinlich besser als 99,99 Prozent der restlichen Menschheit auf diesem Planeten. Wie alle Spitzensportler ist sie überhaupt nicht behindert, sie hat ihre Grenzen erweitert, bis zu einem extremen Punkt. Sie ist eine erweiterte Sportlerin.

Sie liebt das Schießen, doch die Jagd ist nichts für sie, auf bewegte Ziele hat sie nie geschossen. "Doch, einmal auf einer Kirmes, auf diese Blech-Wildschweine. Aber da habe ich mich blamiert", sagt sie. Und dann lächelt sie wieder.