Sparwasser zur DDR-Flucht: "Ich möchte das aus dem Kreuz haben"

Aufenthaltsort war tagelang geheim

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Republikflüchtlinge gab es immer mal aus Fußballerkreisen, doch das waren meist noch Aktive wie Norbert Nachtweih, Jürgen Pahl, Falko Götz oder Frank Lippmann, die ihre Karriere im Westen fortsetzen wollten, wo es auch mehr zu verdienen gab. Aber ein Fußball-Rentner? Und dann noch ein derart populärer Mann? Das musste der sozialistische Staat seinen Bürgern erst mal klarmachen. Der DDR-Nachrichtendienst ADN wählte die in solchen Fällen übliche Formulierung: "Die Anwesenheit einer Altherrenmannschaft des 1. FC Magdeburg in Saarbrücken benutzten sportfeindliche Kräfte zur Abwerbung von Jürgen Sparwasser, der seine Mannschaft verriet."

Tagelang war sein Aufenthaltsort geheim. Heute weiß man, dass die Bild-Zeitung die Sparwassers sozusagen unter Verschluss hielt und für eine Interview-Serie im Hamburger Renaissance-Hotel unterbrachte. Eine Woche lang kam Reporter Raimund Hinko jeden Vormittag vorbei.

"Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?"

In Hamburg traf sich Jürgen Sparwasser auch mit dem damaligen HSV-Manager Felix Magath, dem er aber einen Korb geben musste. Der wollte ihn zum Traditionsklub locken mit einem Job im Trainerstab, doch Sparwasser hatte sich schon an Eintracht Frankfurt gebunden. Hessen wurde seine neue Heimat und ist es bis heute geblieben.

Er wurde Co-Trainer von Kalli Feldkamp, nach dessen Entlassung machte er sich selbständig und trainierte für 54 Spiele zwischen August 1990 und November 1991 den Zweitligisten SV Darmstadt 98. Es blieb eine Episode, der Trainer wurde nie mehr so erfolgreich wie der Spieler, der das Tor schoss, das seinen Namen trägt. "Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?" - so lautet ein Buchtitel. Die Frage ist ja berechtigt, fast jeder, der alt genug ist, hat eine Antwort darauf. Jürgen Sparwasser hat schnell gemerkt, dass das Profigeschäft im Westen nicht das ist, was ihm behagt. Obwohl er sogar mal zwei Jahre (1997 bis 1999) die Vereinigung der Vertragsfußballer (VdV) leitete.

Heute schaut er lieber zu, erfreut sich an den Erfolgen seines 1. FC Magdeburg, der als Tabellenführer der 3. Liga in die Winterpause gegangen ist. "Der sportliche Weg ist gut, im Umfeld stimmt es jetzt auch, das Verhältnis zu der Elf vom 8. Mai 1974 ist in den letzten Jahren besser geworden", lobt das Ehrenmitglied die aktuelle Führung. Als Dauerkartenbesitzer nimmt er zuweilen die Reise in seine Heimatstadt auf sich und hofft, schon bald Zweitligaspiele sehen zu können. Aber zurückgehen? "Nein, das kommt nicht in Frage." Auch nicht fast 30 Jahre nach den Mauerfall. Er hat ja hier, was er will.

Sparwasser formt heute Talente

Am liebsten steht er mit Kindern auf dem Fußballplatz. Seine Fußballschule ist für alle zwischen sechs und 13 Jahren offen, dienstags in Gelnhausen und donnerstags in Hörstein bei Alzenau. Sein Wissen und Können zu vermitteln, das ist jetzt das Thema von Jürgen Sparwasser. Und zwar so: 20 Minuten Warmlaufen, 20 Minuten Torschuss, 20 Minuten Technik, 20 Minuten Spielformen. Einige seiner Talente, die er in all den Jahren geformt hat, haben es bis in die Nachwuchsabteilungen von Mainz 05, Hoffenheim oder Kickers Offenbach geschafft. Das macht jeden Ausbilder stolz. Er hat sogar in mühsamer Arbeit 2016 eine Fußballfibel auf den Markt gebracht (mit chinesischer Übersetzung), die sich an Eltern und Jugendtrainer in den kleinen Vereinen richtet.

Der Mann, der manchen Auftritt auf der großen Fußballbühne hatte (53 A-Länderspiele, WM- und Olympiateilnehmer, Europacupgewinner 1974), ist sich nicht zu schade, das kleine Einmaleins zu lehren. Darüber will er jetzt noch reden. Das andere, das ist Geschichte.

[um]


Ein Gespräch mit Jürgen Sparwasser? Jederzeit möglich. Der vielleicht berühmteste Fußballer in der Geschichte der untergegangenen DDR ist ein freundlicher Mensch und steht sogar im Telefonbuch. Seine Homepage trägt den Namen "Willkommen bei Jürgen Sparwasser". Dieser Mann umarmt auch Unbekannte wie alte Freunde. Ein Gespräch mit Jürgen Sparwasser über das, was war, damals im Osten? Sein legendäres Tor, die Stasi und seine Flucht? Vergessen Sie es.

Jürgen Sparwasser, der im Juni 70 wird, hat zwar Geschichte geschrieben, aber weil er sie schon zu oft erzählt hat, ist sie zumindest für den einstigen Stürmer des 1. FC Magdeburg Geschichte. "Da machen wir nichts mehr", bittet er um Verständnis. Das hätte er auch anderen Journalisten schon gesagt, auch langjährigen Bekannten, und was würden die denn sagen, wenn er plötzlich eine Ausnahme mache? Sparwasser: "Es ist vorbei, ich möchte das aus dem Kreuz haben."

Wenn das so einfach wäre. Es wird immer mal wieder einer anfragen, gerade dann, wenn es der Kalender hergibt. Wie heute, da seine Flucht in den "Goldenen Westen" genau 30 Jahre her ist. Er muss auch gar nichts mehr dazu sagen, es ist ja alles dokumentiert. Das Wie und auch das Warum. Nur eben einmal zu oft für seinen Geschmack, "bitte nicht böse sein". Sind wir nicht.

Flucht in den Westen bei Hallenturnier in Saarbrücken

Am 9. Januar 1988 spielte Sparwasser wie schon im Vorjahr mit der Altherren-Mannschaft des 1. FC Magdeburg, die sich aus den einzigen Europapokalsiegern der DDR-Historie zusammensetzte (1974 gewann der FCM den Europacup der Pokalsieger) bei einem Hallenturnier in Saarbrücken. Seine Frau machte zur selben Zeit - nicht ganz zufällig - einen Verwandtenbesuch in Lüneburg. Es war die Gelegenheit zur "Republikflucht".

Schon länger waren sie mit der Idee schwanger gegangen, ziemlich genau neun Monate, eingeweiht waren nur die Tochter und ein befreundetes Ehepaar im Westen. Lange genug hatte Sparwasser den Staat erdulden müssen, der seine 19 Jahre alte und schwangere Tochter drangsalierte, weil die einen Ausreiseantrag gestellt hatte und die den an einer Pädagogischen Hochschule lehrenden Dozenten (für Sport) unbedingt vereinnahmen wollte. Sparwasser sollte Trainer seines 1. FC Magdeburg werden und damit in quasi offizieller Funktion auch Vertreter des SED-Staates. Das aber wollte er nicht, und das machte er nicht. Also Flucht.

Aufwühlende Erinnerungen, man kann verstehen, dass er es irgendwann gut sein lassen will. "Bautzen oder ein freies Leben" - das waren die Optionen für die Sparwassers in jenen Stunden, sagte er einmal. In Bautzen war die berüchtigste Strafanstalt der DDR. Er hinterließ an der Rezeption des Hotels "La Residence" noch einen Abschiedsbrief an den Delegationsleiter und marschierte am Vormittag des 9. Januar in einem unbeobachteten Moment einfach aus dem Hotel. Er ließ sich sogleich von einer Bekannten, die in Saarbrücken lebte, zum Frankfurter Hauptbahnhof fahren. Dort erwartete er seine Frau Christa, und sie kam. Dass beide Eheleute gleichzeitig ausreisen durften, war ungewöhnlich. "Da hat der Erich Mielke gepennt", sagte Sparwasser später. Zum Glück. In Frankfurt fanden sie zueinander.

"Mir ging mächtig die Düse"

"Mir ging mächtig die Düse, weil meine Flucht inzwischen ja sicher aufgefallen war", erzählte er noch 2013 der FAZ. "Als meine Frau kam, fuhren wir zur Wohnung der Oma des eingeweihten Ehepaares nach Bad Homburg, der Schlüssel lag unter der Matte." Es war wie in einem Krimi. Jede gute Flucht braucht Fluchthelfer. Jürgen Sparwasser verdankt seiner Prominenz, dass es daran auch in den folgenden Wochen nicht mangelte. So bekamen sie im Frühjahr 1988 unter mehreren Bewerbern den Zuschlag für eine Wohnung in Bad Vilbel bei Frankfurt, weil der Vermieter den berühmten Torschützen erkannte. Außerdem war sein Bild tagelang auf den Titelseiten der Zeitungen im Westen.

Die Flucht des Mannes, der das einzige Fußball-Länderspiel der beiden deutschen Mannschaften am 22. Juni 1974 bei der WM in Hamburg entschied, wurde erst am nächsten Tag entdeckt. Beim Stadtbummel fehlte einer, sein Koffer im Hotel ebenso. "Da habe ich gedacht: Ich glaube, der hat sein Hotelzimmer nicht wiedergefunden", erinnerte sich Mitspieler Wolfgang Seguin amüsiert im Rückblick.

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Aufenthaltsort war tagelang geheim

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Republikflüchtlinge gab es immer mal aus Fußballerkreisen, doch das waren meist noch Aktive wie Norbert Nachtweih, Jürgen Pahl, Falko Götz oder Frank Lippmann, die ihre Karriere im Westen fortsetzen wollten, wo es auch mehr zu verdienen gab. Aber ein Fußball-Rentner? Und dann noch ein derart populärer Mann? Das musste der sozialistische Staat seinen Bürgern erst mal klarmachen. Der DDR-Nachrichtendienst ADN wählte die in solchen Fällen übliche Formulierung: "Die Anwesenheit einer Altherrenmannschaft des 1. FC Magdeburg in Saarbrücken benutzten sportfeindliche Kräfte zur Abwerbung von Jürgen Sparwasser, der seine Mannschaft verriet."

Tagelang war sein Aufenthaltsort geheim. Heute weiß man, dass die Bild-Zeitung die Sparwassers sozusagen unter Verschluss hielt und für eine Interview-Serie im Hamburger Renaissance-Hotel unterbrachte. Eine Woche lang kam Reporter Raimund Hinko jeden Vormittag vorbei.

"Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?"

In Hamburg traf sich Jürgen Sparwasser auch mit dem damaligen HSV-Manager Felix Magath, dem er aber einen Korb geben musste. Der wollte ihn zum Traditionsklub locken mit einem Job im Trainerstab, doch Sparwasser hatte sich schon an Eintracht Frankfurt gebunden. Hessen wurde seine neue Heimat und ist es bis heute geblieben.

Er wurde Co-Trainer von Kalli Feldkamp, nach dessen Entlassung machte er sich selbständig und trainierte für 54 Spiele zwischen August 1990 und November 1991 den Zweitligisten SV Darmstadt 98. Es blieb eine Episode, der Trainer wurde nie mehr so erfolgreich wie der Spieler, der das Tor schoss, das seinen Namen trägt. "Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?" - so lautet ein Buchtitel. Die Frage ist ja berechtigt, fast jeder, der alt genug ist, hat eine Antwort darauf. Jürgen Sparwasser hat schnell gemerkt, dass das Profigeschäft im Westen nicht das ist, was ihm behagt. Obwohl er sogar mal zwei Jahre (1997 bis 1999) die Vereinigung der Vertragsfußballer (VdV) leitete.

Heute schaut er lieber zu, erfreut sich an den Erfolgen seines 1. FC Magdeburg, der als Tabellenführer der 3. Liga in die Winterpause gegangen ist. "Der sportliche Weg ist gut, im Umfeld stimmt es jetzt auch, das Verhältnis zu der Elf vom 8. Mai 1974 ist in den letzten Jahren besser geworden", lobt das Ehrenmitglied die aktuelle Führung. Als Dauerkartenbesitzer nimmt er zuweilen die Reise in seine Heimatstadt auf sich und hofft, schon bald Zweitligaspiele sehen zu können. Aber zurückgehen? "Nein, das kommt nicht in Frage." Auch nicht fast 30 Jahre nach den Mauerfall. Er hat ja hier, was er will.

Sparwasser formt heute Talente

Am liebsten steht er mit Kindern auf dem Fußballplatz. Seine Fußballschule ist für alle zwischen sechs und 13 Jahren offen, dienstags in Gelnhausen und donnerstags in Hörstein bei Alzenau. Sein Wissen und Können zu vermitteln, das ist jetzt das Thema von Jürgen Sparwasser. Und zwar so: 20 Minuten Warmlaufen, 20 Minuten Torschuss, 20 Minuten Technik, 20 Minuten Spielformen. Einige seiner Talente, die er in all den Jahren geformt hat, haben es bis in die Nachwuchsabteilungen von Mainz 05, Hoffenheim oder Kickers Offenbach geschafft. Das macht jeden Ausbilder stolz. Er hat sogar in mühsamer Arbeit 2016 eine Fußballfibel auf den Markt gebracht (mit chinesischer Übersetzung), die sich an Eltern und Jugendtrainer in den kleinen Vereinen richtet.

Der Mann, der manchen Auftritt auf der großen Fußballbühne hatte (53 A-Länderspiele, WM- und Olympiateilnehmer, Europacupgewinner 1974), ist sich nicht zu schade, das kleine Einmaleins zu lehren. Darüber will er jetzt noch reden. Das andere, das ist Geschichte.

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