Scout Urs Siegenthaler: "Der deutsche Fußball ist so stark"

DFB.de: Was war das Besondere an Barcelonas Fußball?

Siegenthaler: Barcelonas Fußball hat unsere Denkweise verändert. Früher war die Einstellung: Wenn man den Ball hat, geht die Post ab. Wenn man ihn nicht hat, zieht man sich erst einmal zurück in eine gute Organisation. Barca hat das umgekrempelt. Sie haben es geschafft, nach Ballverlust das Tempo zu bestimmen und Druck auszuüben und sich eher mal bei Ballbesitz auszuruhen. Die Denkweise, die dahinter steckt, ist, weniger das Tor als den Ball zu sichern.

DFB.de: Nochmal zurück zur Nationalmannschaft: Inwieweit haben die deutschen Klubs auch von der Entwicklung des Nationalteams profitiert?

Siegenthaler: Ich denke, es ist eine ganz wichtige Botschaft, dass sich die Nationalmannschaft und die Vereine gegenseitig in ihrer Arbeit bereichern und voneinander profitieren. Das Nationalteam hat seinen Anteil am aktuellen Fußball in Deutschland. Joachim Löw hat früh vertikales Spiel, rasches Umschalten und intelligentes Zweikampfverhalten gepredigt. Er hat damit bisweilen in ein Wespennest gestochen.

DFB.de: Welche Entwicklungen erwarten Sie für die nahe Zukunft?

Siegenthaler: Ein Thema ist nicht nur die Systemfrage. Ist das 4-2-3-1, das 4-4-2 oder 4-3-3 noch opportun? In Italien spielen viele Mannschaften mit einer Dreierkette in der Abwehr. Dem Trainer stellt sich die Frage: Was können seine Spieler umsetzen? Der zweite zentrale Punkt ist das Zweikampfverhalten. Dieser Aspekt des Spiels wird immer entscheidender – und zwar nicht als reines Mittel der Balleroberung, sondern als Auslöser des eigenen Angriffs. Ein guter Zweikampf führt zu schnellem Umschalten, ein schlechter Zweikampf führt nie vors gegnerische Tor.

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Urs Siegenthaler hat wieder ganz genau hingeschaut. Der Chefscout der deutschen Nationalmannschaft hatte seine helle Freude an den Halbfinalspielen der Champions League mit den triumphalen Erfolgen von Borussia Dortmund über Real Madrid und Bayern München gegen den FC Barcelona - und mit etlichen Nationalspielern.

Seit über acht Jahren gehört der frühere Profi und Ex-Cheftrainer des FC Basel zum Stab der DFB-Auswahl. Im DFB.de-Interview mit Redakteur Jochen Breideband spricht der 65 Jahre alte Siegenthaler über die Erkenntnisse aus den Auftritten des FC Bayern und BVB, über modernen Fußball, den Einfluss der Nationalmannschaft und über die Zukunft des Spiels.

DFB.de: Herr Siegenthaler, was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse aus den Halbfinals der Champions League?

Urs Siegenthaler: Die deutsche Presse war so überschwänglich, da erübrigt sich fast jeder Kommentar. (lacht) Natürlich war der Verlauf der Halbfinals hocherfreulich. Für mich hat sich gerade nach den Hinspielen die Frage gestellt: Schwächeln die spanischen Mannschaften so sehr? Oder ist der deutsche Fußball so stark? Ich tendiere eher zur zweiten Variante.

DFB.de: Barcelona schien im Vergleich zu den Vorjahren in der Tat zu schwächeln.

Siegenthaler: Ja, Barca spielt seit Wochen keinen zielgerichteten Fußball. Nur den Ball in den eigenen Reihen halten, Ballbesitzzeiten hoch halten, alles mit wenig Effizienz in Bezug auf den Torabschluss, das ist auffällig. Dabei war der zielgerichtete Ballbesitz zuvor ihre große Stärke. Vielleicht hat die Trainerfrage tiefere Spuren hinterlassen als gedacht. Der Verein hat sich bei der Krankheit von Tito Vilanova ganz toll verhalten, aber sportlich ist es keine leichte Situation. Für beide Parteien, Verein wie Trainer. Aber das soll die Leistung des FC Bayern keinesfalls schmälern. Die Bayern spielen einen sehr modernen Fußball.

DFB.de: Was ist moderner Fußball?

Siegenthaler: Vergleichen wir das letzte Drittel eines Fußballfeldes, die Strafraumzone, mit einer Innenstadt. Beide sind genauso groß wie vor einigen Jahren. Mit einer großen Limousine finde ich mich kaum zurecht, die Enge, das Verkehrsaufkommen und andere Dinge machen mir die Durchfahrt schwer. Ich finde in der Innenstadt kaum einen Parkplatz, es gibt kaum Freiräume. Mit einem Mini finde ich eher eine Lücke, bin beweglich, kann mich der Situation besser anpassen, bin wendiger. Die Minis des modernen Fußballs heißen Messi, Shaqiri, Götze oder Reus.

DFB.de: Daraus ergibt sich?

Siegenthaler: Der heutige Fußball erfordert andere Denkweisen, es gibt immer weniger Freiheiten in der Angriffszone. Fast alle Teams stehen sehr kompakt in der Defensive, sind taktisch gut geschult und physisch auf einem hohen Niveau. Um sich gegen eine gut organisiert agierende Defensive behaupten zu können, brauchen sie diese Minis, welche die Eigenschaft besitzen, sich in dieser Enge bewegen zu können und Lösungen zu finden. Dazu ist ein gedanklich rasches Umschalten von großer Bedeutung. Die Bayern haben das gegen Barcelona in beiden Spielen außerordentlich gut gemacht.

DFB.de: Mandzukic gegen Juventus und Barcelona, Gomez im Halbfinalhinspiel gegen Barca, Lewandowski gegen Real - waren das nicht eher Plädoyers für den körperlich präsenten Zentralstürmer?

Siegenthaler: Absolut. Aber sobald man einen solchen Spielertyp nicht hat, muss man andere Lösungen finden. Es geht darum, für Eventualitäten gewappnet zu sein. Zudem muss diese Art von Zentrumstürmer bereit sein, sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Und man darf nicht vergessen, dass sie von der Stärke der Flügelspieler profitieren. Ein Robben oder Ribery, ein Götze oder Reus - sie alle wollen immer den Ball und scheuen nicht das Eins gegen eins, wodurch sie häufig Überzahlsituationen herstellen. Ich glaube, dass der fußballerische Schlüssel in Zukunft auf den Außenpositionen zu finden ist.

DFB.de: Barcelona zelebriert den Ballbesitz, Borussia Dortmund setzt auf überfallartigen Fußball mit blitzschnellem Umschalten, der FC Bayern mischt diese Stilmittel. Was spricht für welche Art Fußball?

Siegenthaler: Ich unterscheide diese drei Mannschaften. Doch eigentlich machen sie alle dasselbe – nur nicht an den gleichen Orten. Der FC Barcelona in Topform hat den Gegner schon an dessen Strafraumzone unter Druck gesetzt. Der Nachteil ist, dass man sich selbst die Luft zum Atmen nimmt, weil es bei Balleroberung unheimlich eng ist. Der BVB spielt ähnlich gegen den Ball – mit dem Unterschied, dass sie weiter in der Platzmitte angreifen. Das hat bei Ballgewinn den Vorteil, dass man mehr Raum nach vorne hat. Der FC Bayern wiederum steht sehr eng, das macht diese Mannschaft überragend gut. Ich glaube, dass die Bayern momentan das kompakteste Team von allen haben. Und ich habe sie noch nie so flink im Vorwärtsgang gesehen.

DFB.de: Welche Schlüsse kann die Nationalmannschaft aus den Auftritten des FC Bayern und BVB ziehen?

Siegenthaler: Die Erkenntnis lautet: Wir sind auf dem richtigen Weg. Das haben die Halbfinalspiele bewiesen. Hoch stehen, keine dummen Fouls begehen, schnell umschalten – so spielt auch die deutsche Nationalmannschaft. Deutlich zu erkennen ist, dass man nicht elf überragende Spieler, sondern ein überragendes Team braucht. Der Idealfall ist natürlich, dass man elf überragende Spieler und eine überragende Mannschaft auf dem Platz hat – so wie der FC Bayern zurzeit oder der FC Barcelona vorher.

DFB.de: Was war das Besondere an Barcelonas Fußball?

Siegenthaler: Barcelonas Fußball hat unsere Denkweise verändert. Früher war die Einstellung: Wenn man den Ball hat, geht die Post ab. Wenn man ihn nicht hat, zieht man sich erst einmal zurück in eine gute Organisation. Barca hat das umgekrempelt. Sie haben es geschafft, nach Ballverlust das Tempo zu bestimmen und Druck auszuüben und sich eher mal bei Ballbesitz auszuruhen. Die Denkweise, die dahinter steckt, ist, weniger das Tor als den Ball zu sichern.

DFB.de: Nochmal zurück zur Nationalmannschaft: Inwieweit haben die deutschen Klubs auch von der Entwicklung des Nationalteams profitiert?

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Siegenthaler: Ich denke, es ist eine ganz wichtige Botschaft, dass sich die Nationalmannschaft und die Vereine gegenseitig in ihrer Arbeit bereichern und voneinander profitieren. Das Nationalteam hat seinen Anteil am aktuellen Fußball in Deutschland. Joachim Löw hat früh vertikales Spiel, rasches Umschalten und intelligentes Zweikampfverhalten gepredigt. Er hat damit bisweilen in ein Wespennest gestochen.

DFB.de: Welche Entwicklungen erwarten Sie für die nahe Zukunft?

Siegenthaler: Ein Thema ist nicht nur die Systemfrage. Ist das 4-2-3-1, das 4-4-2 oder 4-3-3 noch opportun? In Italien spielen viele Mannschaften mit einer Dreierkette in der Abwehr. Dem Trainer stellt sich die Frage: Was können seine Spieler umsetzen? Der zweite zentrale Punkt ist das Zweikampfverhalten. Dieser Aspekt des Spiels wird immer entscheidender – und zwar nicht als reines Mittel der Balleroberung, sondern als Auslöser des eigenen Angriffs. Ein guter Zweikampf führt zu schnellem Umschalten, ein schlechter Zweikampf führt nie vors gegnerische Tor.