Schiedsrichter mit Pfiff: Pfeife und Blicke sprechen lassen

Sie gehören zum Spiel wie der Ball ins Tor. 80.000 Schiedsrichter sorgen auf Deutschlands Fußballplätzen für Recht und Ordnung. DFB.de-Redakteur Steffen Lüdeke stellt immer donnerstags Referees mit ungewöhnlichen Geschichten vor. Engagiert und unparteiisch - Schiedsrichter mit Pfiff!

Über all das kann Torsten Mertens nur müde lächeln. Wenn Zuschauer, Beobachter, Betreuer oder Trainer ihren Frust in Verbalattacken entladen, wenn wieder einmal der Mann mit der Pfeife an allem Schuld ist und der Schiedsrichter als Blitzableiter der Emotionen dienen muss. Wie so oft.

So etwas gehört sich nicht, keine Frage. Manche Schiedsrichter überhören die Beschimpfungen, manche hören bewusst weg, anderen geht’s gehörig gegen den Strich. Anders ist es nur bei Schiedsrichter Torsten Mertens. Er muss verbale Entgleisungen der Beobachter am Rande nicht überhören - er hört sie gar nicht. Mertens ist gehörlos, von Geburt an, deutschlandweit gehört er zu den wenigen Unparteiischen, die keine Geräusche wahrnehmen.

Erst C-Lizenz, dann Unparteiischer

Wie bei so vielen Schiedsrichtern stand bei ihm am Anfang eine Karriere als Spieler. Der heute 39-Jährige spielte ab dem zwölften Lebensjahr bei der Heilbronner Spielvereinigung und später in Neckargartach und Stuttgart aktiv Fußball.

Als Trainer erwarb er die C-Lizenz, ehe er zum Schiedsrichter umschulte und im November 2007 die Schiedsrichterprüfung mit der Note 2,1 erfolgreich absolvierte. Unterstützt durch die Egidius-Braun-Stiftung des DFB, die ihm bei der Ausbildung einen Dolmetscher für Gebärdensprache finanzierte.

"Beschimpfungen höre ich nicht"

Für seine Tätigkeit als Schiedsrichter sieht Mertens durch seine Behinderung mitunter sogar Vorteile. Eben dann, wenn ihm das Schicksal seiner hörenden Kollegen erspart bleibt, Zielscheibe verbaler Attacken zu werden. Jedenfalls solcher, die er wahrnehmen würde.

"Beschimpfungen, Auspfeifen und so weiter höre ich nicht", nennt er einen Aspekt, bei dem seine Behinderung sogar hilfreich sei. Zudem ist bei ihm die visuelle Wahrnehmung stärker trainiert ist als bei anderen Menschen - eine Schwalbe erkennt der Taube also eher als ein hörender Schiedsrichter. Fouls und Abseitssituationen natürlich auch.

Gutes Gespür für Spiel und Spieler

Eine Behinderung bleibt seine Gehörlosigkeit gleichwohl. Auch auf dem Platz. Zumal Mertens Artikulationsfähigkeiten ebenfalls begrenzt sind. In seinem Job als Schiedsrichter verzichtet Mertens deswegen auf jedwede Art der verbalen Kommunikation, er lässt lieber seine Pfeife sowie Blicke und Gesten sprechen. Seine Behinderung kann ihn also ihn nicht daran hindern, dass zu tun, was er so gerne mag: Fußballspiele leiten.

"Er mag mit einem Sinn beeinträchtigt sein", sagt Schiedsrichter-Beobachter Simon Schulz, "dafür hat er ein gutes Gespür für das Spiel und die Spieler." Mehrfach hat Schulz Mertens bei dessen Spielleitung in Augenschein genommen, Probleme wegen der Behinderung hat er dabei nie wahrgenommen: "Er macht das wirklich sehr gut, bisher hat es von allen Seiten nur Lob gegeben.“

Vor dem Spiel werden die beteiligten Mannschaften auf die wenigen Eigenheiten hingewiesen. Etwa die, dass Mertens wohl der einzige Schiedsrichter ist, bei dem eine Berührung durch einen Spieler ungestraft bleiben kann. Die Spieler dürfen ihn durch Antippen auf spielrelevante Vorgänge aufmerksam machen, eine Auswechslung beispielsweise. Ansonsten ist Mertens ein ganz normaler Schiedsrichter: begeistert, engagiert, kompetent - und konsequent.

Mertens greift rigoros durch

Mertens leitet seine Spiele mit einer klaren Linie. Wenn ein Spieler glaubt, die Behinderung des Schiedsrichters ausnutzen zu können, dann greift Mertens rigoros durch. Hören kann er zwar nicht, dafür lesen besser als jeder andere. Zumindest von den Lippen ab.

So kam es durchaus schon vor, dass Mertens einen Spieler wegen Schiedsrichterbeleidigung frühzeitig zum Duschen hat schicken müssen "Dann muss man konsequent sein und eine Rote Karte ziehen", sagt der Chemielaborant. Beleidigung bleibt schließlich Beleidigung, unabhängig davon, auf welchem Weg sie wahrgenommen wird.

Als Vorbild für andere Menschen mit Behinderung sieht Mertens sich nicht. "Das will ich nicht sein", wehrt der Schiedsrichter ab, ein leuchtendes Beispiel für die integrative Kraft des Fußballs bleibt er gleichwohl.

Mehr als 100 Spiele an der Pfeife

Und ein Beispiel dafür, dass der Wille Berge versetzen und Nachteile ausgleichen kann. Seit März 2008 ist Mertens im Besitz des Schiedsrichter-Scheins, mittlerweile hat er mehr als 100 Spiele geleitet. Angefangen hat er als Schiedsrichter bei Jugendspielen, über die unteren Kreisligen hat er sich weiter nach oben gearbeitet und klopft mittlerweile bei der Bezirkliga an.

Weiterer Aufstieg nicht ausgeschlossen. Die Landesliga nennt er als Ziel; vorläufig. Auch Schulz sieht für Mertens wenig Grenzen. "Fachlich kann er das", sagt der Beobachter. Bei seinen ersten Einsätzen habe Mertens noch kleinere Fehler gemacht, typische Neulingsfehler seien dies aber gewesen sagt Schulz, "falsche Laufwege" etwa, oder "ein falsches Stellungsspiel".

Von diesen Fehlern ist nach mehr als zwei Jahren nichts mehr zu sehen, fehlerfrei ist Torsten Mertens dennoch nicht. "Natürlich mache auch ich Fehler", sagt er ganz uneitel. "Ich bin zwar gehörlos, aber noch lange nicht fehlerlos. Warum sollte dies bei mir anders sein als bei anderen Schiedsrichtern?"

[sl]

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Sie gehören zum Spiel wie der Ball ins Tor. 80.000 Schiedsrichter sorgen auf Deutschlands Fußballplätzen für Recht und Ordnung. DFB.de-Redakteur Steffen Lüdeke stellt immer donnerstags Referees mit ungewöhnlichen Geschichten vor. Engagiert und unparteiisch - Schiedsrichter mit Pfiff!

Über all das kann Torsten Mertens nur müde lächeln. Wenn Zuschauer, Beobachter, Betreuer oder Trainer ihren Frust in Verbalattacken entladen, wenn wieder einmal der Mann mit der Pfeife an allem Schuld ist und der Schiedsrichter als Blitzableiter der Emotionen dienen muss. Wie so oft.

So etwas gehört sich nicht, keine Frage. Manche Schiedsrichter überhören die Beschimpfungen, manche hören bewusst weg, anderen geht’s gehörig gegen den Strich. Anders ist es nur bei Schiedsrichter Torsten Mertens. Er muss verbale Entgleisungen der Beobachter am Rande nicht überhören - er hört sie gar nicht. Mertens ist gehörlos, von Geburt an, deutschlandweit gehört er zu den wenigen Unparteiischen, die keine Geräusche wahrnehmen.

Erst C-Lizenz, dann Unparteiischer

Wie bei so vielen Schiedsrichtern stand bei ihm am Anfang eine Karriere als Spieler. Der heute 39-Jährige spielte ab dem zwölften Lebensjahr bei der Heilbronner Spielvereinigung und später in Neckargartach und Stuttgart aktiv Fußball.

Als Trainer erwarb er die C-Lizenz, ehe er zum Schiedsrichter umschulte und im November 2007 die Schiedsrichterprüfung mit der Note 2,1 erfolgreich absolvierte. Unterstützt durch die Egidius-Braun-Stiftung des DFB, die ihm bei der Ausbildung einen Dolmetscher für Gebärdensprache finanzierte.

"Beschimpfungen höre ich nicht"

Für seine Tätigkeit als Schiedsrichter sieht Mertens durch seine Behinderung mitunter sogar Vorteile. Eben dann, wenn ihm das Schicksal seiner hörenden Kollegen erspart bleibt, Zielscheibe verbaler Attacken zu werden. Jedenfalls solcher, die er wahrnehmen würde.

"Beschimpfungen, Auspfeifen und so weiter höre ich nicht", nennt er einen Aspekt, bei dem seine Behinderung sogar hilfreich sei. Zudem ist bei ihm die visuelle Wahrnehmung stärker trainiert ist als bei anderen Menschen - eine Schwalbe erkennt der Taube also eher als ein hörender Schiedsrichter. Fouls und Abseitssituationen natürlich auch.

Gutes Gespür für Spiel und Spieler

Eine Behinderung bleibt seine Gehörlosigkeit gleichwohl. Auch auf dem Platz. Zumal Mertens Artikulationsfähigkeiten ebenfalls begrenzt sind. In seinem Job als Schiedsrichter verzichtet Mertens deswegen auf jedwede Art der verbalen Kommunikation, er lässt lieber seine Pfeife sowie Blicke und Gesten sprechen. Seine Behinderung kann ihn also ihn nicht daran hindern, dass zu tun, was er so gerne mag: Fußballspiele leiten.

"Er mag mit einem Sinn beeinträchtigt sein", sagt Schiedsrichter-Beobachter Simon Schulz, "dafür hat er ein gutes Gespür für das Spiel und die Spieler." Mehrfach hat Schulz Mertens bei dessen Spielleitung in Augenschein genommen, Probleme wegen der Behinderung hat er dabei nie wahrgenommen: "Er macht das wirklich sehr gut, bisher hat es von allen Seiten nur Lob gegeben.“

Vor dem Spiel werden die beteiligten Mannschaften auf die wenigen Eigenheiten hingewiesen. Etwa die, dass Mertens wohl der einzige Schiedsrichter ist, bei dem eine Berührung durch einen Spieler ungestraft bleiben kann. Die Spieler dürfen ihn durch Antippen auf spielrelevante Vorgänge aufmerksam machen, eine Auswechslung beispielsweise. Ansonsten ist Mertens ein ganz normaler Schiedsrichter: begeistert, engagiert, kompetent - und konsequent.

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Mertens greift rigoros durch

Mertens leitet seine Spiele mit einer klaren Linie. Wenn ein Spieler glaubt, die Behinderung des Schiedsrichters ausnutzen zu können, dann greift Mertens rigoros durch. Hören kann er zwar nicht, dafür lesen besser als jeder andere. Zumindest von den Lippen ab.

So kam es durchaus schon vor, dass Mertens einen Spieler wegen Schiedsrichterbeleidigung frühzeitig zum Duschen hat schicken müssen "Dann muss man konsequent sein und eine Rote Karte ziehen", sagt der Chemielaborant. Beleidigung bleibt schließlich Beleidigung, unabhängig davon, auf welchem Weg sie wahrgenommen wird.

Als Vorbild für andere Menschen mit Behinderung sieht Mertens sich nicht. "Das will ich nicht sein", wehrt der Schiedsrichter ab, ein leuchtendes Beispiel für die integrative Kraft des Fußballs bleibt er gleichwohl.

Mehr als 100 Spiele an der Pfeife

Und ein Beispiel dafür, dass der Wille Berge versetzen und Nachteile ausgleichen kann. Seit März 2008 ist Mertens im Besitz des Schiedsrichter-Scheins, mittlerweile hat er mehr als 100 Spiele geleitet. Angefangen hat er als Schiedsrichter bei Jugendspielen, über die unteren Kreisligen hat er sich weiter nach oben gearbeitet und klopft mittlerweile bei der Bezirkliga an.

Weiterer Aufstieg nicht ausgeschlossen. Die Landesliga nennt er als Ziel; vorläufig. Auch Schulz sieht für Mertens wenig Grenzen. "Fachlich kann er das", sagt der Beobachter. Bei seinen ersten Einsätzen habe Mertens noch kleinere Fehler gemacht, typische Neulingsfehler seien dies aber gewesen sagt Schulz, "falsche Laufwege" etwa, oder "ein falsches Stellungsspiel".

Von diesen Fehlern ist nach mehr als zwei Jahren nichts mehr zu sehen, fehlerfrei ist Torsten Mertens dennoch nicht. "Natürlich mache auch ich Fehler", sagt er ganz uneitel. "Ich bin zwar gehörlos, aber noch lange nicht fehlerlos. Warum sollte dies bei mir anders sein als bei anderen Schiedsrichtern?"