Sammer: "Der Trainer muss auch ein Pädagoge sein"

Sammer: Nach der U 21-Europameisterschaft haben wir unsere Vorgaben bei den Auswahlmannschaften nicht in der gleichen Konsequenz gelebt wie zuvor. So haben wir in der laufenden Saison von der U 17 bis hinauf zur U 21 Probleme in der EM-Qualifikation. Das für sportliche Erfolge notwendige kritische Klima, die konstruktive Auseinandersetzung, haben wir vernachlässigt.

DFB.de: Gilt das auch für die beiden Junioren-Weltmeisterschaften im Spätsommer?

Sammer: Bei der U 20 haben wir es nicht geschafft, mit den Bundesliga-Klubs einen guten Konsens zu finden. Horst Hrubesch hat mit seinem Team das Beste aus der Situation gemacht, aber wir konnten unserem Anspruch in dieser Konstellation nicht gerecht werden. Ähnliches gilt auch für die U 17-WM in Nigeria, wo die Spieler unter schwierigen Umständen ihr optimales Leistungsvermögen nicht erreichen konnten. Das waren in vielen Bereichen kleine und leichte Rückschläge auf unserem Weg.

DFB.de: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Sammer: Nach dem grandiosen Sommer haben wir es nicht geschafft, mit unserer neuen Rolle umzugehen. Wir hatten etwas erreicht, die Wahrnehmung hatte sich verändert. Damit mussten wir umgehen. Die größte Schwachstelle sehe ich in Kompromissen, die wir eingegangen sind. Wir haben die Auseinandersetzung und das Streitgespräch immer im Interesse der Sache nicht mehr gesucht und den harmonischen Weg gewählt. Ich kann mich nur wiederholen: Aus meiner Erfahrung heraus geht das im Leistungssport in die falsche Richtung. Eine fruchtbare Atmosphäre kann sich nur aus einer kritischen Auseinandersetzung entwickeln.

DFB.de: Sie haben bei Ihrem Amtsantritt im Jahr 2006 den Anspruch formuliert, „etwas aufzubauen“ und „junge und leistungsstarke Spieler“ an die Nationalmannschaft heranzuführen. Angesichts der Entwicklung von beispielsweise Boateng, Neuer und Özil müssen Sie sich in Ihrer Zielsetzung bestätigt fühlen.

Sammer: In der individuellen Leistungsfähigkeit haben wir in der Tat Fortschritte gemacht. Wir müssen aber die Individualität der Spieler noch stärker weiterentwickeln und dazu ihren Charakter schulen. Die Spanier, von deren EM-Startformation 2008 zehn Spieler – außer dem gebürtigen Brasilianer Marcos Senna - im Junioren-Bereich Titel gewonnen haben, sind das beste Beispiel für eine kontinuierliche und erfolgreiche Nachwuchsarbeit. Da haben wir Nachholbedarf. Wir pflegen aus meiner Sicht zu oft einen zu behutsamen Umgang mit unseren Talenten. Ich vermisse eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit den jungen Spielern über ihren Entwicklungsstand, die aber immer förderlich, hilfreich und unterstützend geführt werden muss. Wenn wir unsere besten Talente wirklich fördern wollen, dürfen wir auch das Fordern nicht vergessen.

DFB.de: Beinhaltet das die „Gier nach Erfolg“, von der Sie zuweilen sprechen?



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Den Siegen auf dem Rasen folgten die Titel neben dem Platz. Von der UEFA wurde der DFB für die beste Nachwuchsarbeit in Europa ausgezeichnet, zuvor durfte der Verband den Deutschen Nachhaltigkeitspreis entgegennehmen. Für Matthias Sammer, als Sportdirektor verantwortlich für die U-Teams, Talentförderung und Trainerausbildung, sind das schöne Auszeichnungen der DFB-Arbeit, aber kein Grund sich darauf auszuruhen. Im “DFB.de-Gespräch der Woche“ mit DFB-Redakteur Maximilian Geis beschreibt er, wie die Talentförderung weiter optimiert werden soll.

DFB.de: Matthias Sammer, welche Bilder kommen Ihnen bei der sportlichen Rückschau auf 2009 spontan ins Gedächtnis?

Matthias Sammer: Der Klasse-Freistoß von Florian Trinks in der Verlängerung des Endspiels der U 17-EM in Magdeburg. Zudem eine Momentaufnahme der U 21-EM: Horst Hrubesch und sein Assistent Thomas Nörenberg bei ihren nächtlichen Spaziergängen um das Teamquartier in Schweden, wo sie immer wieder reflektiert und neue Strategien gesucht haben. Das Bild zeigt, dass wir für den Erfolg im vergangenen Jahr sehr hart gearbeitet haben.

DFB.de: Gab es einen Faktor, der bei allen drei Titeln ausschlaggebend war oder sind alle drei Turniere unterschiedlich zu bewerten?

Sammer: Ein Schlüssel zum Erfolg war die akribische Arbeit jedes einzelnen DFB-Junioren-Trainers entsprechend seiner Individualität und seiner Persönlichkeit. Unter der Führung des Trainers wurde die Kompetenz des gesamten Trainer- und Funktionsstabs unserer Junioren-Mannschaften auf hohem Niveau eingebracht. Die besondere Konzentration auf die Leistungssteuerung der Fitness, und speziell auf die Grundlagenausdauer unserer Mannschaften zu den Endrunden, hat eine wichtige Basis für unsere Erfolge geschaffen. Ein wichtiger Faktor war außerdem die Schaffung einer Mannschaftsstruktur und die spezielle Arbeit mit den Führungsspielern in den einzelnen Teams. Es ist uns gelungen, dass diese Spieler unsere Vorstellungen mitgetragen haben.

DFB.de: Bereits zu Jahresbeginn sprachen Sie von „mindestens einem Titelgewinn“ in 2009 und prophezeiten gar, dass die Arbeit von Marco Pezzaiuoli mit der U 17 belohnt werden wird. Hatten Sie eine Vorahnung, dass dem U 19-Titel weitere folgen könnten?

Sammer: Wir haben das Selbstbewusstsein, dass die Maßnahmen, die wir mit unserem Konzept zur Eliteförderung 2006 eingeleitet haben, irgendwann in Titelgewinnen sichtbar werden. Unsere Philosophie beinhaltet, dass Leistung planbar ist. Wir haben unsere Leistungsvoraussetzungen Konstitution, Kondition, Technik, Taktik und Persönlichkeit inhaltlich konsequent bearbeitet und die Planungen ohne Kompromisse durchgezogen. Dabei habe ich bei allen Beteiligten extremen Hunger nach Erfolg gespürt. Auch wenn wir auf das bis zum Sommer Erreichte stolz sein können: Wir stehen immer noch am Anfang eines langfristigen Prozesses. Da dürfen wir die Augen vor Momenten, die leistungshemmend sind, nicht verschließen.

DFB.de: Was meinen Sie damit?

Sammer: Nach der U 21-Europameisterschaft haben wir unsere Vorgaben bei den Auswahlmannschaften nicht in der gleichen Konsequenz gelebt wie zuvor. So haben wir in der laufenden Saison von der U 17 bis hinauf zur U 21 Probleme in der EM-Qualifikation. Das für sportliche Erfolge notwendige kritische Klima, die konstruktive Auseinandersetzung, haben wir vernachlässigt.

DFB.de: Gilt das auch für die beiden Junioren-Weltmeisterschaften im Spätsommer?

Sammer: Bei der U 20 haben wir es nicht geschafft, mit den Bundesliga-Klubs einen guten Konsens zu finden. Horst Hrubesch hat mit seinem Team das Beste aus der Situation gemacht, aber wir konnten unserem Anspruch in dieser Konstellation nicht gerecht werden. Ähnliches gilt auch für die U 17-WM in Nigeria, wo die Spieler unter schwierigen Umständen ihr optimales Leistungsvermögen nicht erreichen konnten. Das waren in vielen Bereichen kleine und leichte Rückschläge auf unserem Weg.

DFB.de: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Sammer: Nach dem grandiosen Sommer haben wir es nicht geschafft, mit unserer neuen Rolle umzugehen. Wir hatten etwas erreicht, die Wahrnehmung hatte sich verändert. Damit mussten wir umgehen. Die größte Schwachstelle sehe ich in Kompromissen, die wir eingegangen sind. Wir haben die Auseinandersetzung und das Streitgespräch immer im Interesse der Sache nicht mehr gesucht und den harmonischen Weg gewählt. Ich kann mich nur wiederholen: Aus meiner Erfahrung heraus geht das im Leistungssport in die falsche Richtung. Eine fruchtbare Atmosphäre kann sich nur aus einer kritischen Auseinandersetzung entwickeln.

DFB.de: Sie haben bei Ihrem Amtsantritt im Jahr 2006 den Anspruch formuliert, „etwas aufzubauen“ und „junge und leistungsstarke Spieler“ an die Nationalmannschaft heranzuführen. Angesichts der Entwicklung von beispielsweise Boateng, Neuer und Özil müssen Sie sich in Ihrer Zielsetzung bestätigt fühlen.

Sammer: In der individuellen Leistungsfähigkeit haben wir in der Tat Fortschritte gemacht. Wir müssen aber die Individualität der Spieler noch stärker weiterentwickeln und dazu ihren Charakter schulen. Die Spanier, von deren EM-Startformation 2008 zehn Spieler – außer dem gebürtigen Brasilianer Marcos Senna - im Junioren-Bereich Titel gewonnen haben, sind das beste Beispiel für eine kontinuierliche und erfolgreiche Nachwuchsarbeit. Da haben wir Nachholbedarf. Wir pflegen aus meiner Sicht zu oft einen zu behutsamen Umgang mit unseren Talenten. Ich vermisse eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit den jungen Spielern über ihren Entwicklungsstand, die aber immer förderlich, hilfreich und unterstützend geführt werden muss. Wenn wir unsere besten Talente wirklich fördern wollen, dürfen wir auch das Fordern nicht vergessen.

DFB.de: Beinhaltet das die „Gier nach Erfolg“, von der Sie zuweilen sprechen?

Sammer: Bei einem großen Turnier am Ende als Sieger dazustehen und den Pokal überreicht zu bekommen, prägt einen fürs Leben. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht, als ich 1986 mit der DDR-Auswahl U 18-Europameister wurde. Ich halte es für wichtig, dass man den Spielern genügend Raum zur individuellen Entwicklung gibt. Aber wir müssen Rahmenbedingungen aufzeigen und Anstöße geben. Neben der individuellen Entwicklung muss ein Instinkt dafür entwickelt werden, Sieger sein zu wollen. Die Spieler wachsen daran, wenn sie sich in schwierigen Phasen behaupten und sich der Verantwortung stellen.

DFB.de: Nicht nur die EM-Titel, sondern auch der Nachhaltigkeitspreis oder die Maurice-Burlaz-Trophäe geben dem DFB mit seiner Konzeption recht.

Sammer: Als ich 2006 DFB-Sportdirektor wurde, bin ich mit Präsident Dr. Theo Zwanziger, Generalsekretär Horst R. Schmidt und seinem designierten Nachfolger Wolfgang Niersbach auf Leute getroffen, die meine Arbeit als Sportdirektor und das Bekenntnis zur Eliteförderung unterstützen. Es ist unsere grundsätzliche Denkweise, durch gute und nachhaltige Nachwuchsförderung unser Aushängeschild Nationalmannschaft mit einer guten Basis zu versehen und junge Spieler heranzuführen.

DFB.de: Sie haben Ende dieses Jahres einen Kodex für die Junioren-Nationalspieler vorgestellt. Was erwarten Sie von den begabtesten Nachwuchsfußballern Deutschlands?

Sammer: Gemeinsam mit Spezialisten aus allen Bereichen haben wir versucht, unsere Leistungsvoraussetzungen nach modernsten Gesichtspunkten darzustellen und aktiv zu beeinflussen. Die Entwicklung der Seiten einer Persönlichkeit sind hierbei der schwierigste und auch langwierigste Teil. Ich bin der Auffassung, dass wir uns damit stärker beschäftigen und auch neue Wege einschlagen müssen.

DFB.de: Zum Beispiel?

Sammer: In unseren Junioren-Mannschaften stehen heute Spieler mit unterschiedlichsten sozialen Hintergründen und Wurzeln. Wir wollen jeden Einzelnen für unseren Weg begeistern und ihn bei seiner Gesamtentwicklung unterstützen. Mit dem Leitfaden konfrontieren wir unsere Junioren-Spieler mit „der Seele unseres Spiels“. Was hat unsere A-Mannschaft gestern ausgezeichnet, was prägt sie heute und was wird von ihr morgen erwartet. Die Spieler sollen die Tradition des DFB kennen und bereit sein, diese fortsetzen zu wollen. Unser Leitfaden ist eine Orientierung auf diesem, zugegeben anspruchsvollen und langen Weg. Das sehen wir als einen längeren Prozess an. Daher ist das jetzt der erste Schritt. Unsere DFB-Junioren-Trainer werden im Dialog mit den Spielern diesen Prozess weiterführen.

DFB.de: Nach dem Tod von Robert Enke haben Sie eine bessere Begleitung der Talente auf dem Weg zur öffentlichen Person als notwendig erachtet. Wie weit sind diese Überlegungen?

Sammer: Mir ist wichtig, dass wir in der Diskussion zwischen der Persönlichkeitsentwicklung und einem tragischen Krankheitsbild grundsätzlich unterscheiden. Auch wir im Fußball sollten im Blick behalten, dass unsere jungen Spieler eine vielseitige Persönlichkeitsentwicklung nehmen. Auf diesem Weg brauchen junge Spieler Vertrauenspersonen, die sie auch im Fördersystem des deutschen Fußballs begleiten.

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DFB.de: Lässt sich dieser Ansatz mit dem Streben nach Erfolg vereinbaren?

Sammer: Wir müssen erfolgsorientiert denken und gleichzeitig dem Spieler vermitteln, dass die Verantwortlichen beim DFB Ansprechpartner für ihn sind, die die persönlichen Belange nie außer Acht lassen. Die ungewohnte Erwartungshaltung erzeugt öffentlichen Druck und auf die Spieler brechen Dinge mit unglaublicher Wucht herein. Der Spieler muss sich dann uns und anderen Vertrauenspersonen öffnen können.

DFB.de: Kann dies bereits in der Trainerausbildung berücksichtigt werden?

Sammer: Auch hier wiederhole ich mich: Wir verlangen, dass Jugendspieler in der Entwicklungsphase gefordert, aber auch gefördert werden. Der Trainer muss dazu auch ein Pädagoge und Freund der Spieler sein. Dazu gehören neben Vertrauen auch Ehrlichkeit und Direktheit durch den Trainer.

DFB.de: Schauen wir in das WM-Jahr 2010. Was erwarten Sie?

Sammer: Wir müssen zusammenrücken und alles unserem Ziel unterordnen, Titel zu gewinnen. Die Nationalmannschaft ist unser Aushängeschild, von dem auch die Junioren-Teams des DFB sportlich und wirtschaftlich profitieren. Daher werden wir alles dafür tun, die sportliche Leitung um Bundestrainer Joachim Löw und Oliver Bierhoff als Manager zu unterstützen.

DFB.de: Und wie lauten Ihre Wünsche für 2010?

Sammer: Grundsätzlich wünsche ich mir Gesundheit für meine Familie und alle DFB-Mitarbeiter, damit wir mit unveränderter Energie daran arbeiten können, unsere Ziele zu verwirklichen. Sportlich wünsche ich mir, dass wir in Südafrika Weltmeister werden, dass unsere U 17 und U 19 den Sprung zur Endrunde schaffen und wir wieder einen Junioren-Titel holen.