Sami und der sechste Sinn

Vom gewachsenen Selbstbewusstsein des jungen Fußballers, der sich bei einem der besten Klubs der Welt durchgesetzt hat, profitiert auch Joachim Löw. Beim Länderspiel gegen Frankreich (1:2) überzeugte Khedira auch in der Niederlage mit einem kraftvollen und engagierten Auftritt. Das Jahr 2012 soll für ihn mindestens so erinnerungswürdig werden wie sein Karrierejahr 2010. Die Freunde und Bewunderer stimmte er an Silvester auf seiner Facebook-Seite ein: „Ich plane fest mit zwei Terminen – 19. Mai und 1. Juli, und dafür werde ich alles geben!“ Khedira will also das Endspiel der Champions League und das Finale der Europameisterschaft erreichen und, selbstredend, gewinnen. Er spielt ja nicht umsonst in einem Klub, der die Krone im Wappen führt – Adel verpflichtet.

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Die Gelehrten sind sich nicht einig darüber, welcher Fußballklub auf der Erde der größte und großartigste ist. Die einen sind überzeugt, dass der FC Barcelona die faszinierendste Ausstrahlung besitzt, weil er das schöne Spiel systematisch zur Kunstform erhoben hat. Andere loben die majestätische Herrlichkeit von Barcelonas ewigem Widersacher Real Madrid, und wieder andere finden, dass Manchester United oder Bayern München die meiste Bewunderung verdienen, weil sie nicht nur als Sportvereine mit weltweiter Anhängerschaft leuchten, sondern auch florierende Wirtschaftsunternehmen sind.

Fragt man Sami Khedira, ist die Antwort klar: „Real Madrid es el mejor club del mundo“ – Real Madrid ist der beste Klub der Welt, selbstverständlich. Als Ensemble-Mitglied des Weißen Balletts muss Khedira zwar als befangen gelten, aber nach mehr als anderthalb Jahren in der spanischen Hauptstadt ist er längst durchdrungen vom Geist dieses großen Vereins. Er hat in Madrid sein Glück als Fußballprofi gefunden. Nicht alle haben ihm das zugetraut, als er sich im Sommer 2010 beim VfB Stuttgart verabschiedete. Genauer gesagt: Der eine oder andere war eher skeptisch, ob er sich wirklich durchsetzen kann im Prominenten-Klub.

Stammspieler, Stratege - und dann ein Königlicher

2010 war das Jahr, in dem Khedira in die große Fußballwelt aufgebrochen ist. In den Tagen vor dem Start zur Weltmeisterschaft in Südafrika beförderte ihn der Bundestrainer zum Stammspieler im Mittelfeld. Joachim Löw handelte aus Überzeugung, er hatte immer schon eine besonders hohe Meinung von dem wuchtigen Stuttgarter Mittelfeldstrategen. Aber er handelte auch aus einer gewissen Not heraus: Soeben hatte ihm Kapitän Michael Ballack wegen Verletzung absagen müssen, und die anderen bewährten Kandidaten für einen Posten im defensiven Mittelfeld standen ebenfalls nicht zur Verfügung: Thomas Hitzlsperger bekam bei Lazio Rom nicht die nötige Spielpraxis, Simon Rolfes kurierte eine komplizierte Verletzung aus. Blieb als Partner für Bastian Schweinsteiger: Sami Khedira. „Wenn sich die Chance ergeben sollte, dann möchte ich sie nutzen“, erklärte er höchst gewandt im Trainingslager auf Sizilien.

Dass er seine Chance zu nutzen wusste, das hat während des Turniers die ganze Welt gesehen. Khedira bewährte sich nicht nur als Absicherung für den eher offensiven Schweinsteiger, er setzte auch eigene Akzente im Spiel nach vorn. Außer durch strategisches und spielerisches Geschick fiel er durch seine Laufleistung auf, er legte in 90 Minuten rennend und hastend mehr Kilometer zurück, als manch anderer in der gleichen Zeit mit einem Fahrrad schaffen würde. Trotz seines zehrenden Spiels behält er Ruhe und Übersicht, eine Qualität, die ihn schon in seinen frühen Profijahren auszeichnete und die ihn zum perfekten „Sechser“ macht.

Ein bisschen Lokalpatriotismus bewahrt

Khedira ist als Achtjähriger zum VfB gekommen, zum führenden Klub in seiner Heimatstadt. Er ist fest davon überzeugt, dem besten Lehrbetrieb des deutschen Fußballs zu entstammen. „Beim VfB kann man sich guten Gewissens ausbilden lassen“, hat er mal erklärt, „da wird alles gefordert: technisch, taktisch und auch hinsichtlich der persönlichen Entwicklung.“ Kein anderer Verein habe so eine gute Quote erfolgreicher Schulabgänger, hebt er hervor. Ein bisschen Lokalpatriotismus hat er sich auch in der Weltstadt Madrid bewahrt.

Unter den Experten, die sich von den neuen Hauptdarstellern des deutschen Fußballs faszinieren ließen, befand sich im Sommer 2010 auch ein gewisser José Mourinho, den Real Madrid just für viel Geld als Trainer engagiert hatte, um die Vorherrschaft des FC Barcelona in Spaniens Primera Division zu brechen. Der portugiesische Startrainer hatte großen Respekt für den deutschen Auftritt in Afrika, aus Löws Auswahl suchte er sich zwei Spieler aus, die fortan die Eckpunkte seines Mittelfelds bilden sollten. Für Mesut Özil und Sami Khedira war das Interesse von Señor Mourinho eine besondere Ehre. Inzwischen dürfen sie sich dadurch geehrt fühlen, dass sie die hohen Ansprüche des Trainers auch im spanischen Alltag zu erfüllen wissen.

Fan von Mourinho

Khedira ist ein großer Fan des äußerst eigensinnigen, aber charismatischen Portugiesen, und die Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit. Mourinho schätzt die Zuverlässigkeit und das Pflichtbewusstsein seines Spielers. Die Prioritäten, die der Trainer ihm setzt, hat Khedira einmal wie folgt beschrieben: „Wir haben viele starke Offensivspieler, daher soll ich erst mal dafür sorgen, dass wir sicher stehen – und dann am Spielaufbau teilnehmen.“

In den bald zwei Jahren bei Real hat Khedira die Erwartungen seines Chefs selten enttäuscht, deshalb nimmt er als Mittelfeldpartner des Spaniers Xabi Alonso einen festen Platz in den Planungen des Trainers ein. Was die taktische Ordnung bei Real angeht, muss sich Khedira bei Real nicht anders verhalten als in der Nationalmannschaft. Xabi Alonso ist bei Real der offensivere Nebenmann wie Schweinsteiger im DFB-Team, allerdings mit dem Unterschied, dass Real in der spanischen Liga nahezu jeden Gegner dominiert und das vermeintliche Defensiv-Duett Khedira/Alonso deshalb oft tief in der gegnerischen Hälfte agiert.

Lieber spielen als reden

Der Erfolg ist Khedira dabei keineswegs in den Schoß gefallen. Er bekam nichts geschenkt, musste sich nach Verletzungspausen wieder in die Mannschaft kämpfen und der ästhetischen Kritik der spanischen Sportpresse standhalten. Seine Beziehung mit dem Publikum ist gut, aber nicht innig, was vor allem daran liegt, dass ihm seine Funktion als effizienter Dienstleister eine Rolle zuteilt, die ihn im Madrider Glitzerbetrieb weniger glänzen lässt als zum Beispiel den Weggefährten Özil. Mittlerweile ist er aber eine akzeptierte Größe, und Kenner wissen seine Qualitäten ohnehin richtig einzuordnen.

Kürzlich erst stellte der spanische Nationaltrainer Vicente del Bosque respektvoll fest, dass die deutschen Spieler bei Real eine prägende Bedeutung für das Spiel des Hauptstadtklubs hätten, es gebe eine „gute Wechselwirkung“, sagte er. „Khedira und Özil profitieren von einem starken Real Madrid – aber auch Real Madrid profitiert von diesen beiden Spielern.“ Khedira selbst äußerte sich zuletzt selten zu seinem Leben bei Real, Interviews sind nicht unbedingt erwünscht vom Maestro – Mourinho möchte seine Profis lieber spielen sehen als reden hören.

Zwei Ziele für den Sommer

Im Trainingszentrum „Ciudad Real Madrid“ bei Valdebebas im Nordosten der Stadt können sich die Fußballer auf die Arbeit konzentrieren, Medienpflichten fallen selten an. Aber was Khedira im Herbst bei einem Aufenthalt in Deutschland verlauten ließ, das hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren: „Real Madrid ist für mich der größte Verein der Welt, und ich habe einen Trainer, der hinter mir steht. Ich bin sehr, sehr glücklich und wenn ich spiele, bringe ich meine Leistung.“ Ansonsten ist selbst Real nur eine Fußballmannschaft wie viele andere. Mit einem Cristiano Ronaldo zum Beispiel, den die ganze Welt als Superstar kennt, der im Tagesbetrieb aber „kein abgehobener, abgeschotteter Spieler ist, sondern auch ein Stück weit ein Spaßvogel“, wie Khedira erzählt.

Vom gewachsenen Selbstbewusstsein des jungen Fußballers, der sich bei einem der besten Klubs der Welt durchgesetzt hat, profitiert auch Joachim Löw. Beim Länderspiel gegen Frankreich (1:2) überzeugte Khedira auch in der Niederlage mit einem kraftvollen und engagierten Auftritt. Das Jahr 2012 soll für ihn mindestens so erinnerungswürdig werden wie sein Karrierejahr 2010. Die Freunde und Bewunderer stimmte er an Silvester auf seiner Facebook-Seite ein: „Ich plane fest mit zwei Terminen – 19. Mai und 1. Juli, und dafür werde ich alles geben!“ Khedira will also das Endspiel der Champions League und das Finale der Europameisterschaft erreichen und, selbstredend, gewinnen. Er spielt ja nicht umsonst in einem Klub, der die Krone im Wappen führt – Adel verpflichtet.