Psychologe Hermann: Fußball ist wichtig!

DFB.de: Wie schauen Sie Länderspiele? Gehen Sie richtig mit oder sind Sie von Ihrem Auftrag gezwungen, die Spieler relativ nüchtern und mit professioneller Distanz zu beobachten?

Hermann: Ich bin manchmal zu viel Fan. Ganz einfach, weil es mich packt und ich so begeistert und emotionalisiert bin. Das Spiel lässt mich nicht kalt. Dann schaue ich mir anschließend in Ruhe das Spiel nochmal als Aufzeichnung an.

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Im Stadion, vor dem Fernseher, vor dem Radio. Auswärts, zu Hause. Mit und ohne Fanschal. In der Bundesliga, in der Kreisliga, bei der Nationalmannschaft. Wo Fußball gespielt wird, finden sich Fans. Das Fan-Sein hat viele Facetten und Gesichter.

Auch Nationalmannschaftspsychologe Dr. Hans-Dieter Hermann ist Fußballfan. Im DFB.de-Interview mit Redakteur Steffen Lüdeke spricht er über Emotionen eines Fans, Fußballsucht und die Begeisterung zum Sport.

DFB.de: Herr Hermann, Fußball ist eigentlich unwichtig. Es geht nicht um die Familie, nicht um Leben und Tod, nicht um den Arbeitsplatz, nicht um die Beziehung. Warum sind Menschen dennoch so sehr in ihren Emotionen betroffen, wenn ihr Verein ein Spiel gewonnen oder verloren hat?

Hans-Dieter Hermann: Pardon, aber der Ansatz ist falsch. Fußball ist für die Fans wichtig. Jeder definiert für sich selbst, was wichtig und unwichtig ist. Deshalb kann ein Verein, eine Mannschaft tatsächlich Lebensinhalt sein und Richtung und Struktur geben. Für viele Menschen in Deutschland ist der Verein ein ganz wesentlicher Teil ihres Lebens. Von daher ist es für diese Menschen in hohem Maße relevant, welche Ergebnisse ihr Verein erzielt. Dass sie dann von den Resultaten – positiv oder negativ – betroffen sind, ergibt sich fast von selbst.

DFB.de: Ist es für die Psyche eines Menschen positiv oder negativ, Fußballfan zu sein? Hilft beispielsweise der Stressabbau durch das Ausleben von Emotionen?

Hermann: Das muss nicht zwangsläufig so sein. Je mehr Spannung ein Fan empfindet, desto mehr Stressgefühle werden aufgebaut. Allerdings werden sie bei einem Sieg im Nachhinein positiv erlebt, bei einer Niederlage negativ. Vor einigen Jahren gab es eine ganz interessante Studie zu kardialen Notfällen an WM-Tagen. In dieser methodisch sehr sauberen Studie, die Kontrollzeiträume ohne WM sowie Hitze, Schadstoffbelastung etc. berücksichtigte, konnten die Forscher eine um den Faktor 2,7 signifikant erhöhte Anzahl kardialer Notfälle in Deutschland feststellen, an denen die deutsche Mannschaft ihre Spiele 2006 absolvierte. Die meisten Notfälle gab es an den Tagen des Viertel- und des Halbfinales. Und dennoch hat das Fan-sein viele positive Aspekte – auch für die Psyche. Vor allem die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gibt den Menschen Halt und Selbstwertgefühl.

DFB.de: Welche Abläufe ereignen sich in der Psyche eines Fans, wenn die eigene Mannschaft ein Tor erzielt?

Hermann: Neurophysiologisch formuliert: Wahrscheinlich wird Dopamin ausgeschüttet, die Menschen sind glücklicher als vor dem Tor. Es entlädt sich Anspannung, man fühlt sich gut, freut sich mit dem Team, ist euphorisch. Es entsteht ein Effekt, dieses Gefühl immer wieder haben zu wollen. Umgekehrt, also wenn das eigene Team ein Tor kassiert, wird Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet. Es kommt zu Enttäuschung, Wut und Ärger.

DFB.de: Kann die Zuneigung zu einer Mannschaft auch zu groß sein?

Hermann: Die Grenze ist dort, wo ein Fan komplett vom Rhythmus des Teams beherrscht wird. Wenn das Lebensglück nur davon abhängt, ob die Mannschaft gewinnt oder nicht und jegliche andere relevanten Entscheidungen oder Personen im Leben eines Menschen hinter die der Mannschaft rücken. Wenn also der Umgang mit Sieg oder Niederlage nicht angemessen ist, sondern auch den Rest des Lebens massiv beeinflusst.

DFB.de: Gibt es eine Art von Fußball-Sucht?

Hermann: So wie ich argumentiert habe, ließe sich das fast schlussfolgern. Ich möchte dennoch nicht davon sprechen. Der Begriff Sucht hat noch einmal eine andere Qualität. Dann müsste es richtige Abhängigkeiten geben, auch Entzugserscheinungen. Das habe ich bei Fußballfans noch nicht erlebt. Auch wenn manche in der Sommerpause durchaus davon sprechen, dass sie richtige Entzugserscheinungen haben. Das wird dann umgangssprachlich so genannt, hat aber keine klinische Qualität. Eine Fußballsucht im pathologischen Sinne gibt es meines Wissens nicht.

DFB.de: Fußballfans werden von ihren Teams oft enttäuscht, mit jeder Niederlage erneut. Anders als in einer zwischenmenschlichen Beziehung kann dies der Verbindung zum Team aber nichts anhaben. Warum nicht?

Hermann: Zum einen hat dies damit zu tun, dass man die Liebe zu einer Mannschaft in der Regel mit vielen anderen teilt. Anders also als in der Beziehung zwischen Menschen. Außerdem gehören in der Verbindung zwischen Fans und Verein Trauer und Enttäuschung fast schon naturgemäß dazu. Hinzu kommt, dass in Deutschland und in vielen anderen Nationen der Wert Treue bei den Fans sehr hochgehalten wird.

DFB.de: Fußballfans lassen sich unterteilen beispielsweise in Supporter, Ultras und Groundhopper. Lassen sich Fans auch aus psychologischer Sicht kategorisieren?

Hermann: Nein, zumindest ich kann das nicht. Einen Unterschied kann ich höchstens im Weltbild der genannten Fan-Gruppen ausmachen.

DFB.de: Gibt es eine psychologische Erklärung dafür, warum gerade die Sportart Fußball eine so große Begeisterung auf die Massen ausübt?

Hermann: Die Frage enthält zum Teil schon die Antwort. Weil Massen Massen bewegen. Der Mensch hat eine Tendenz, sich größeren Gruppen anzuschließen. Das lässt sich in verschiedenen Lebensbereichen so feststellen. Ob das Mode ist, Musik, generell Kultur. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass zu Vielem vieles dazukommt. Wenn in der Zeitung steht, dass eine bestimmte Partei großen Zulauf hat, wählen noch mehr Leute diese Partei. So ähnlich ist es auch mit dem Fußball. Als Fan ist man Teil eines großen Ganzen und erlebt regelmäßig eine unglaubliche Atmosphäre im Stadion, die es sonst vielleicht nur noch auf einem Rockkonzert gibt. Dazu sind die Regeln nur in Zweifelsfällen kompliziert, man kann sich mit allen Altersgruppen und Bildungsschichten darüber unterhalten und jeder hat schon einmal Fußball gespielt. Es gibt keine andere Sportart auf der Welt, die das für so viele Menschen bietet. Und noch ein wichtiger Punkt: Fußball ist spannend, denn die Ergebnisse sind nur bedingt vorhersehbar. Auch der vermeintliche Underdog hat immer eine Chance.

DFB.de: Wenn sich die Medien entscheiden, vermehrt zu berichten, ist also nicht ausgeschlossen, dass eines Tages 50.000 Menschen im Stadion sitzen und jubeln, beispielsweise wenn sich zwei Schachspieler duellieren?

Hermann: Wahrscheinlich nicht gerade beim Schach. Aber ich weiß, was Sie meinen. Und ja, rein theoretisch wäre etwas in dieser Hinsicht möglich, zumindest via TV oder Internet: Die Medien schaffen es ja auch, 1 bis 1,5 Millionen Menschen vor den Bildschirm zu locken, um einen Frauen Kickbox-WM-Kampf anzuschauen. Im Fußball hat das alles aber noch einmal eine ganz, ganz andere Dimension, denn Fußball hat den Vorteil, dass dieser Sport in Deutschland eine riesige Tradition hat. Fußball ist eben nicht nur eine Modeerscheinung. Dieser Sport ist über Generationen tief in der Gesellschaft verwurzelt. Der Fußball hat viele Deutsche ihr Leben lang begleitet. Schon in der Kindheit lernt man, dass am Wochenende der Sport, der Fußball, das Wort hat.

DFB.de: Kann der Psychotherapeut Dr. Hans-Dieter Hermann Unterschiede zwischen Vereins-Fans und Nationalmannschaft-Fans erkennen?

Hermann: Dafür habe ich keine Daten vorliegen. Aber ich gehe davon aus, dass es bei den Vereinen einen größeren Anteil an Fans gibt, die sich quasi lebenslang an das Team binden und bei denen eine unerschütterliche Verbundenheit da ist.

DFB.de: Sind Sie selber Fußball-Fan?

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Hermann: Ja, seit meiner Kindheit. Heute bin ich vor allem Fan der Fußball-Nationalmannschaft. Und ich bin Fan unserer Spieler. Wenn man die Personen kennt, wenn ich sehe, welcher Aufwand hinter ihren Leistungen steckt, was die Spieler alles investieren, dann bin ich einfach Fan der Spieler und ihrer Leistungen.

DFB.de: Wie schauen Sie Länderspiele? Gehen Sie richtig mit oder sind Sie von Ihrem Auftrag gezwungen, die Spieler relativ nüchtern und mit professioneller Distanz zu beobachten?

Hermann: Ich bin manchmal zu viel Fan. Ganz einfach, weil es mich packt und ich so begeistert und emotionalisiert bin. Das Spiel lässt mich nicht kalt. Dann schaue ich mir anschließend in Ruhe das Spiel nochmal als Aufzeichnung an.