Otto Rehhagel in der JVA Plötzensee: Alleine im Mittelkreis

Otto Rehhagel ist aus Essen gekommen - in diese für seinen Lebensweg besondere Stadt. Berlin, Bremen, Kaiserslautern, Athen - das sind seine Städte gewesen. Jeder Fußballfan 40 plus kennt die Rehhagel-Geschichten, die großen Momente passend zu den Städten. Heute führt ihn ausnahmsweise nicht der Fußball in die Hauptstadt. Es ist das Schicksal von 20 jungen Männern, inhaftiert in der Jugendstrafanstalt Plötzensee, die mit 449 Insassen eine der größten Verwahrungsanstalten jugendlicher Straftäter Deutschlands ist. Eisflächen blitzen auf den Gehwegen. Der Anstoß für ein neues Leben – um nicht weniger geht es an diesem eiskalten Dezembertag.

"Anstoß für ein neues Leben", so nennt sich die Initiative der DFB-Stiftung Sepp Herberger, die in Partnerschaft mit der Bundesagentur für Arbeit, den DFB-Landesverbänden und den Justizbehörden um die Zukunft junger Straftäter ringt. Deren Chancen auf eine drogen- und straffreie Zukunft grotesk schlecht stehen. Die Rückfallquote junger delinquenter Männer türmt sich hoch wie die Gefängnismauern, hinter denen sie hier in Plötzensee ihre Tage verbringen. Ihre Zeit absitzen. Jeder zweite kehrt zurück, in manchen Standorten bei manchen Delikten klettert die Rückfallquote auf bis zu 80 Prozent. Der Fußball will helfen. Die jungen Gefangenen trainieren, sie werden zum Schiedsrichter oder Übungsleiter ausgebildet, einmal pro Jahr bestreiten sie ein Finalturnier, Oliver Kahn oder zuletzt im Mai in Wuppertal Rudi Völler schauen zu, suchen die Gespräche mit den Jugendlichen.

"Wer oben ist, darf die unten nicht vergessen"

Die BA unterstützt die Jobsuche, der Anschluss an einen Fußballverein soll den Ausweg aus dem kriminellen Milieu erleichtern. Neun Bundesländer sind von der Stiftungsidee überzeugt und beteiligen sich am "Anstoß". Tendenz steigend. Disziplin, Teamgeist, Bewegung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung, neue Freunde in der Freiheit, unbedingt: ein Job – das alles soll resozialisierend zusammenwirken.

Seit 2009 betreibt Deutschlands älteste Fußballstiftung die Initiative in der heutigen Form. Alt-Bundestrainer Sepp Herberger hatte 1970 damit begonnen, mit viel Herz aber noch ohne Konzept und Netzwerk (gab es das Wort damals überhaupt?), angetrieben von seinem Credo "Wer oben ist, darf die unten nicht vergessen", Haftanstalten zu Besuchen. Nach Herbergers Tod 1977 übernahm sein Kapitän Fritz Walter, später Horst Eckel. Heute also Otto Rehhagel.

Das inzwischen 76 Jahre alte "Kind der Bundesliga" erlebte in Berlin schon einmal den Anstoß für ein neues Leben. Im Juni 1963 unterschrieb er bei Hertha BSC. Rehhagel erinnerte sich später: "Ich sehe mich noch heute mit meinem VW am Theodor-Heuss-Platz stehen, so hieß der damals, und die Straße hinunterschauen zur Siegessäule und zum Brandenburger Tor, und höre mich zu mir selbst sagen, 'Otto, jetzt geht's los!'. Das war für mich der Startschuss zu neuen Dimensionen."

Ein Startschuss zu neuen Dimensionen? Nein, der fällt heute nicht. Im besten Falle gelingt den 20 jungen Männern heute der erste oder zweite Schritt auf einem verdammt langen Weg zurück in die bürgerliche Mitte.

"Uns allen, ihnen, ist nur ein Leben gegeben"

Zweierreihe, die vorderen gebückt, Mannschaftsfoto vorm Weihnachtsbaum, er in der Mitte. Rehhagel kämpft um seine Jungs, motiviert, mahnt: "Uns allen, ihnen, ist nur ein Leben gegeben."

Eine Sporthalle aus den 80er Jahren, kurz danach zum letzten Mal getüncht, die Basketballkörbe aus der Schrempf-statt-Nowitzki-Zeit, hier haben sie sich getroffen. Legenden-Besuch und Weihnachtsfeier in einem. Auf dem Tisch Zimtsterne und rote Servietten, bedruckt mit Rentieren und Christbaumkugeln. Beim dritten Versuch funktioniert der Beamer, die jungen Inhaftierten zeigen Bilder aus Rehhagels Karriere. Geboren 1938 in Essen, die Ausbildung als Maler, der erste Job in der Zeche Helene, Vertrag bei Hertha, Bundesliga- und Otto-Start für immer verwoben, die Knorpelabsprengung, Schluss als Spieler im September 1971, Saarbrücken und Offenbach und Dortmund und Bielefeld und Düsseldorf nur Zwischenstopps, dann die Rehhagel-Ära in Bremen, immer wieder Wunder an der Weser, Münchner Intermezzo in Moll, schließlich dieser einzigartige Triumph: die Meisterschaft mit einem Aufsteiger.

Selbst verfolgt, selbst erlebt haben die jungen Strafgefangen nicht König Otto, nur den Rehakles, als er 2004 eine völlig unbekannte griechische Nationalmannschaft zum Europameister machte. Er kam nach Athen und änderte alles, nicht nur die Art, wie diese "No-Names" Fußball spielten. "Früher hat jeder gemacht, was er will. Jetzt macht jeder, was er kann", sagte er und auch: "Die Griechen haben die Demokratie erfunden. Ich habe die demokratische Diktatur eingeführt." So erzwang er, dass eher durchschnittlich begabte Einzelkönner zu einer Mannschaft zusammenwuchsen. Sie gewannen ihre Qualigruppe (vor Spanien!), überstanden die EM-Vorrunde, schalteten Titelverteidiger Frankreich und den Mitfavoriten Tschechien aus und besiegten im Finale Portugal. Charisteas, der Kopfball, 1:0.

Das hören sie gerne hier in der Jugendstrafanstalt, diese Geschichte vom so völlig unerwarteten wie unwahrscheinlichen Triumph des Außenseiters. Fünf Stunden dauerte die Busfahrt vom Flughafen in die Innenstadt. 1,5 Millionen Athener blockierten die Straßen und Plätze. Rehhagel lacht in sich hinein und erzählt ihnen. "Meinen Jungs habe ich damals während des Turniers gesagt: Eh' die anderen was merken, müssen wir durch sein." Sie lachen mit.

Gehlenborg und Alt begleiten Rehhagel nach Berlin

Eugen Gehlenborg und Heinrich Alt haben Otto Rehhagel beim Besuch hier in Berlin begleitet. Gehlenborg gehört dem DFB-Präsidium an, verantwortet dort die Sozialthemen. Alt ist Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit und hat gerade den Vertrag mit dem DFB um weitere zwei Jahre verlängert. Kernthema der Kooperation ist die "Anstoß-Initiative". Der BA-Vorstand will den jungen Straftätern Mut machen, und weil er keine EM mit Griechenland gewonnen hat, spricht er über Zahlen, erklärt, dass 1964 der geburtstärkste Jahrgang des Landes sei, dass 1,4 Millionen Menschen in Deutschland 2014 50 Jahre alt wurden. "Ich war auf einer Menge Geburtstage in diesem Jahr." Nach den Baby-Boomern aber flache die Kurve ab, manche Jahrgänge seien nur mit 600.000 besetzt. Alt kommt zum Punkt: "Wenn sie entlassen werden, wartet Deutschland mit einer Aufgabe auf sie. Wir als BA werden versuchen, einen Platz für sie am Markt zu finden."

Alts Argumentation ist schlüssig, doch der EM-Titel der Griechen hat sie mehr überzeugt. Kurz nach 17 Uhr in Berlin, draußen ist es bereits stockfinster, Rehhagel will zurück, im Hotel wartet seine Beate, mit der er seit 51 Jahren verheiratet ist. Seit einer halben Stunde wurde Kaffee getrunken und Zimtsterne geknabbert. Aber jetzt greift Otto Rehhagel nochmal nach dem Mikrofon, das ist ihm wichtig: "Der liebe Gott hat uns allen nur ein Leben gegeben. Dieses Geschenk des Lebens ist einmalig. Sie wollen dieses Leben doch nicht im Gefängnis verbringen. Ihre nächste Chance müssen sie nutzen."

Wie Charisteas. Wie Otto Rehhagel. Der Trainer hat sie motiviert. Die Herberger-Stiftung das Feld vorbereitet. Beim Anstoß stehen sie alleine im Mittelkreis.

[th]

Otto Rehhagel ist aus Essen gekommen - in diese für seinen Lebensweg besondere Stadt. Berlin, Bremen, Kaiserslautern, Athen - das sind seine Städte gewesen. Jeder Fußballfan 40 plus kennt die Rehhagel-Geschichten, die großen Momente passend zu den Städten. Heute führt ihn ausnahmsweise nicht der Fußball in die Hauptstadt. Es ist das Schicksal von 20 jungen Männern, inhaftiert in der Jugendstrafanstalt Plötzensee, die mit 449 Insassen eine der größten Verwahrungsanstalten jugendlicher Straftäter Deutschlands ist. Eisflächen blitzen auf den Gehwegen. Der Anstoß für ein neues Leben – um nicht weniger geht es an diesem eiskalten Dezembertag.

"Anstoß für ein neues Leben", so nennt sich die Initiative der DFB-Stiftung Sepp Herberger, die in Partnerschaft mit der Bundesagentur für Arbeit, den DFB-Landesverbänden und den Justizbehörden um die Zukunft junger Straftäter ringt. Deren Chancen auf eine drogen- und straffreie Zukunft grotesk schlecht stehen. Die Rückfallquote junger delinquenter Männer türmt sich hoch wie die Gefängnismauern, hinter denen sie hier in Plötzensee ihre Tage verbringen. Ihre Zeit absitzen. Jeder zweite kehrt zurück, in manchen Standorten bei manchen Delikten klettert die Rückfallquote auf bis zu 80 Prozent. Der Fußball will helfen. Die jungen Gefangenen trainieren, sie werden zum Schiedsrichter oder Übungsleiter ausgebildet, einmal pro Jahr bestreiten sie ein Finalturnier, Oliver Kahn oder zuletzt im Mai in Wuppertal Rudi Völler schauen zu, suchen die Gespräche mit den Jugendlichen.

"Wer oben ist, darf die unten nicht vergessen"

Die BA unterstützt die Jobsuche, der Anschluss an einen Fußballverein soll den Ausweg aus dem kriminellen Milieu erleichtern. Neun Bundesländer sind von der Stiftungsidee überzeugt und beteiligen sich am "Anstoß". Tendenz steigend. Disziplin, Teamgeist, Bewegung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung, neue Freunde in der Freiheit, unbedingt: ein Job – das alles soll resozialisierend zusammenwirken.

Seit 2009 betreibt Deutschlands älteste Fußballstiftung die Initiative in der heutigen Form. Alt-Bundestrainer Sepp Herberger hatte 1970 damit begonnen, mit viel Herz aber noch ohne Konzept und Netzwerk (gab es das Wort damals überhaupt?), angetrieben von seinem Credo "Wer oben ist, darf die unten nicht vergessen", Haftanstalten zu Besuchen. Nach Herbergers Tod 1977 übernahm sein Kapitän Fritz Walter, später Horst Eckel. Heute also Otto Rehhagel.

Das inzwischen 76 Jahre alte "Kind der Bundesliga" erlebte in Berlin schon einmal den Anstoß für ein neues Leben. Im Juni 1963 unterschrieb er bei Hertha BSC. Rehhagel erinnerte sich später: "Ich sehe mich noch heute mit meinem VW am Theodor-Heuss-Platz stehen, so hieß der damals, und die Straße hinunterschauen zur Siegessäule und zum Brandenburger Tor, und höre mich zu mir selbst sagen, 'Otto, jetzt geht's los!'. Das war für mich der Startschuss zu neuen Dimensionen."

Ein Startschuss zu neuen Dimensionen? Nein, der fällt heute nicht. Im besten Falle gelingt den 20 jungen Männern heute der erste oder zweite Schritt auf einem verdammt langen Weg zurück in die bürgerliche Mitte.

"Uns allen, ihnen, ist nur ein Leben gegeben"

Zweierreihe, die vorderen gebückt, Mannschaftsfoto vorm Weihnachtsbaum, er in der Mitte. Rehhagel kämpft um seine Jungs, motiviert, mahnt: "Uns allen, ihnen, ist nur ein Leben gegeben."

Eine Sporthalle aus den 80er Jahren, kurz danach zum letzten Mal getüncht, die Basketballkörbe aus der Schrempf-statt-Nowitzki-Zeit, hier haben sie sich getroffen. Legenden-Besuch und Weihnachtsfeier in einem. Auf dem Tisch Zimtsterne und rote Servietten, bedruckt mit Rentieren und Christbaumkugeln. Beim dritten Versuch funktioniert der Beamer, die jungen Inhaftierten zeigen Bilder aus Rehhagels Karriere. Geboren 1938 in Essen, die Ausbildung als Maler, der erste Job in der Zeche Helene, Vertrag bei Hertha, Bundesliga- und Otto-Start für immer verwoben, die Knorpelabsprengung, Schluss als Spieler im September 1971, Saarbrücken und Offenbach und Dortmund und Bielefeld und Düsseldorf nur Zwischenstopps, dann die Rehhagel-Ära in Bremen, immer wieder Wunder an der Weser, Münchner Intermezzo in Moll, schließlich dieser einzigartige Triumph: die Meisterschaft mit einem Aufsteiger.

Selbst verfolgt, selbst erlebt haben die jungen Strafgefangen nicht König Otto, nur den Rehakles, als er 2004 eine völlig unbekannte griechische Nationalmannschaft zum Europameister machte. Er kam nach Athen und änderte alles, nicht nur die Art, wie diese "No-Names" Fußball spielten. "Früher hat jeder gemacht, was er will. Jetzt macht jeder, was er kann", sagte er und auch: "Die Griechen haben die Demokratie erfunden. Ich habe die demokratische Diktatur eingeführt." So erzwang er, dass eher durchschnittlich begabte Einzelkönner zu einer Mannschaft zusammenwuchsen. Sie gewannen ihre Qualigruppe (vor Spanien!), überstanden die EM-Vorrunde, schalteten Titelverteidiger Frankreich und den Mitfavoriten Tschechien aus und besiegten im Finale Portugal. Charisteas, der Kopfball, 1:0.

Das hören sie gerne hier in der Jugendstrafanstalt, diese Geschichte vom so völlig unerwarteten wie unwahrscheinlichen Triumph des Außenseiters. Fünf Stunden dauerte die Busfahrt vom Flughafen in die Innenstadt. 1,5 Millionen Athener blockierten die Straßen und Plätze. Rehhagel lacht in sich hinein und erzählt ihnen. "Meinen Jungs habe ich damals während des Turniers gesagt: Eh' die anderen was merken, müssen wir durch sein." Sie lachen mit.

Gehlenborg und Alt begleiten Rehhagel nach Berlin

Eugen Gehlenborg und Heinrich Alt haben Otto Rehhagel beim Besuch hier in Berlin begleitet. Gehlenborg gehört dem DFB-Präsidium an, verantwortet dort die Sozialthemen. Alt ist Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit und hat gerade den Vertrag mit dem DFB um weitere zwei Jahre verlängert. Kernthema der Kooperation ist die "Anstoß-Initiative". Der BA-Vorstand will den jungen Straftätern Mut machen, und weil er keine EM mit Griechenland gewonnen hat, spricht er über Zahlen, erklärt, dass 1964 der geburtstärkste Jahrgang des Landes sei, dass 1,4 Millionen Menschen in Deutschland 2014 50 Jahre alt wurden. "Ich war auf einer Menge Geburtstage in diesem Jahr." Nach den Baby-Boomern aber flache die Kurve ab, manche Jahrgänge seien nur mit 600.000 besetzt. Alt kommt zum Punkt: "Wenn sie entlassen werden, wartet Deutschland mit einer Aufgabe auf sie. Wir als BA werden versuchen, einen Platz für sie am Markt zu finden."

Alts Argumentation ist schlüssig, doch der EM-Titel der Griechen hat sie mehr überzeugt. Kurz nach 17 Uhr in Berlin, draußen ist es bereits stockfinster, Rehhagel will zurück, im Hotel wartet seine Beate, mit der er seit 51 Jahren verheiratet ist. Seit einer halben Stunde wurde Kaffee getrunken und Zimtsterne geknabbert. Aber jetzt greift Otto Rehhagel nochmal nach dem Mikrofon, das ist ihm wichtig: "Der liebe Gott hat uns allen nur ein Leben gegeben. Dieses Geschenk des Lebens ist einmalig. Sie wollen dieses Leben doch nicht im Gefängnis verbringen. Ihre nächste Chance müssen sie nutzen."

Wie Charisteas. Wie Otto Rehhagel. Der Trainer hat sie motiviert. Die Herberger-Stiftung das Feld vorbereitet. Beim Anstoß stehen sie alleine im Mittelkreis.