Olympia 1912: Der "Gentleman-Stürmer" trifft zehnmal

Am kommenden Freitag blickt die Welt nach London, wenn dort mit der offiziellen Eröffnung die 30. Olympischen Sommerspiele gestartet werden. Die Fußballwelt blickt freilich schon einen Tag früher nach Großbritannien, denn am Donnerstag beginnt mit den ersten acht Gruppenspielen das olympische Fußballturnier der Männer, ausgetragen in sechs Stadien in England, Schottland und Wales.

Der deutsche Fußball ist diesmal weder bei den Männern noch bei den Frauen dabei. Seinen Fans bleibt der nostalgische Rückblick. Zum Beispiel auf Olympia 1912 in Stockholm, als Gottfried Fuchs mit zehn Treffern beim 16:0-Rekordsieg über Russland die bis heute meisten Tore in einem DFB-Länderspiel erzielte, das deutsche Team dennoch in der Vorrunde ausschied. Für DFB.de berichtet der Autor und Historiker Udo Muras über das bewegte und bewegende Leben des olympischen Torjägers von Stockholm.

Rekord und Schicksal - einzigartig

Sein Rekord ist einzigartig, sein Schicksal ist es auch. Gottfried Fuchs ist der deutsche Nationalspieler, der die meisten Tore in einem Länderspiel schoss. Und er war der einzige Nationalspieler, der aus Deutschland floh, um sein Leben zu retten.

Fuchs, der 1972 mit 82 Jahren in Montreal/Kanada starb, war Jude. 1912 schoss er bei den Olympischen Spielen in Stockholm beim Rekordsieg (16:0) über Russland zehn Treffer, was kein Gerd Müller, Uwe Seeler oder Rudi Völler je erreicht haben. Tore waren sein Markenzeichen. Seine Torquote – 13 Treffer in nur sechs Einsätzen sind 2,16 pro Spiel – ist beispiellos in 104 Jahren Länderspiel-Historie.

Auch auf Vereinsebene war der schlaksige dunkelhaarige Mann erfolgreich. 1907 wurde der gebürtige Karlsruher westdeutscher Meister mit dem Düsseldorfer FC 1899, damals war der gerade 18-Jährige beruflich am Rhein tätig. Danach ging der Kaufmannssohn sogar ein Jahr nach England, worüber wenig bekannt ist. 1909 kehrte er in die Heimat zurück, arbeitete in der väterlichen Holzhandlung und schloss sich dem Karlsruher FV an, mit dem er 1910 auf Anhieb Deutscher Meister wurde. Im Finale gegen Holstein Kiel (1:0) ging er allerdings leer aus.

"Ich bin über die eigenen Beine gestolpert"

Dafür punktete "der Gentleman-Stürmer" auf dem Bankett. Den erst in der Verlängerung unterlegenen Kielern überreichte er elf Zweige aus dem Lorbeerkranz, die er eigenhändig abtrennte. Verbürgt ist auch die Geschichte, dass er in einem Spiel gegen Wiesbaden auf einen Foulelfmeter für den KFV verzichtete und dem Schiedsrichter gestand: "Ich bin über die eigenen Beine gestolpert." 1920 beendete er seine durch den Krieg ohnehin unterbrochene Laufbahn.

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, zählten seine Verdienste nichts mehr. Weder seine Tore noch seine Auszeichnungen im Weltkrieg, in dessen Verlauf er viermal verwundet worden war.

Es durfte nicht sein, dass Juden in Deutschland Rekorde hielten. Und so kam es zu einer bizarren Anordnung von ganz oben: Die Tore und Einsätze der beiden jüdischen Nationalspieler Fuchs und Julius Hirsch, die gemeinsam beim KFV stürmten, wurden aus den DFB-Statistiken gestrichen. Offiziell hatten sie nie gespielt, und in den Chroniken jener dunklen Tage eierten die Journalisten herum. Da war dann etwa zu lesen: "Der Halblinke ließ wieder das Feuerwerk seiner Schießkunst steigen." Das Ergebnis musste ja trotzdem stimmen.

Herberger nutzt Fuchs als Vorbild

Während Gottfried Fuchs mit Familie 1937 in die Schweiz floh und 1940 nach Kanada auswanderte, blieb Julius Hirsch im Land seiner Väter. 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und kam nie zurück. Auch Fuchs kam nie zurück, aber er lebte noch lange.

Nach dem Krieg erinnerte man sich endlich seiner. Sepp Herberger, der Fuchs schon als Kind spielen sah und ihn und seine Kameraden Fritz Förderer, Max Breunig oder Julius Hirsch schier verehrte, ließ 1955 anlässlich des ersten Länderspiels in Russland die Nationalspieler eine Grußkarte an ihn unterschreiben. Er spornte seine Weltmeister an: "Ihm müsst ihr’s nachmachen, er hat zehn Tore gegen Russland geschossen." Die Karte steckte er in einen Briefumschlag, steuerte noch ein paar persönliche Zeilen dazu. Godfrey E. Fochs, wie er sich nannte, antwortete: "Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich ihr natürlicher und herzlicher Brief gerührt hat."

Eine frühe Ehrung soll nicht unerwähnt bleiben: 1912 hatte ihm der preußische Kronprinz Wilhelm einen Silberpokal überreicht für seinen Tore-Rekord. Ein Rekord, der am 1. Juli 2012 genau 100 Jahre alt wurde. Es ist einer für die Ewigkeit.

[um]

[bild1]

Am kommenden Freitag blickt die Welt nach London, wenn dort mit der offiziellen Eröffnung die 30. Olympischen Sommerspiele gestartet werden. Die Fußballwelt blickt freilich schon einen Tag früher nach Großbritannien, denn am Donnerstag beginnt mit den ersten acht Gruppenspielen das olympische Fußballturnier der Männer, ausgetragen in sechs Stadien in England, Schottland und Wales.

Der deutsche Fußball ist diesmal weder bei den Männern noch bei den Frauen dabei. Seinen Fans bleibt der nostalgische Rückblick. Zum Beispiel auf Olympia 1912 in Stockholm, als Gottfried Fuchs mit zehn Treffern beim 16:0-Rekordsieg über Russland die bis heute meisten Tore in einem DFB-Länderspiel erzielte, das deutsche Team dennoch in der Vorrunde ausschied. Für DFB.de berichtet der Autor und Historiker Udo Muras über das bewegte und bewegende Leben des olympischen Torjägers von Stockholm.

Rekord und Schicksal - einzigartig

Sein Rekord ist einzigartig, sein Schicksal ist es auch. Gottfried Fuchs ist der deutsche Nationalspieler, der die meisten Tore in einem Länderspiel schoss. Und er war der einzige Nationalspieler, der aus Deutschland floh, um sein Leben zu retten.

Fuchs, der 1972 mit 82 Jahren in Montreal/Kanada starb, war Jude. 1912 schoss er bei den Olympischen Spielen in Stockholm beim Rekordsieg (16:0) über Russland zehn Treffer, was kein Gerd Müller, Uwe Seeler oder Rudi Völler je erreicht haben. Tore waren sein Markenzeichen. Seine Torquote – 13 Treffer in nur sechs Einsätzen sind 2,16 pro Spiel – ist beispiellos in 104 Jahren Länderspiel-Historie.

Auch auf Vereinsebene war der schlaksige dunkelhaarige Mann erfolgreich. 1907 wurde der gebürtige Karlsruher westdeutscher Meister mit dem Düsseldorfer FC 1899, damals war der gerade 18-Jährige beruflich am Rhein tätig. Danach ging der Kaufmannssohn sogar ein Jahr nach England, worüber wenig bekannt ist. 1909 kehrte er in die Heimat zurück, arbeitete in der väterlichen Holzhandlung und schloss sich dem Karlsruher FV an, mit dem er 1910 auf Anhieb Deutscher Meister wurde. Im Finale gegen Holstein Kiel (1:0) ging er allerdings leer aus.

"Ich bin über die eigenen Beine gestolpert"

Dafür punktete "der Gentleman-Stürmer" auf dem Bankett. Den erst in der Verlängerung unterlegenen Kielern überreichte er elf Zweige aus dem Lorbeerkranz, die er eigenhändig abtrennte. Verbürgt ist auch die Geschichte, dass er in einem Spiel gegen Wiesbaden auf einen Foulelfmeter für den KFV verzichtete und dem Schiedsrichter gestand: "Ich bin über die eigenen Beine gestolpert." 1920 beendete er seine durch den Krieg ohnehin unterbrochene Laufbahn.

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, zählten seine Verdienste nichts mehr. Weder seine Tore noch seine Auszeichnungen im Weltkrieg, in dessen Verlauf er viermal verwundet worden war.

Es durfte nicht sein, dass Juden in Deutschland Rekorde hielten. Und so kam es zu einer bizarren Anordnung von ganz oben: Die Tore und Einsätze der beiden jüdischen Nationalspieler Fuchs und Julius Hirsch, die gemeinsam beim KFV stürmten, wurden aus den DFB-Statistiken gestrichen. Offiziell hatten sie nie gespielt, und in den Chroniken jener dunklen Tage eierten die Journalisten herum. Da war dann etwa zu lesen: "Der Halblinke ließ wieder das Feuerwerk seiner Schießkunst steigen." Das Ergebnis musste ja trotzdem stimmen.

[bild2]

Herberger nutzt Fuchs als Vorbild

Während Gottfried Fuchs mit Familie 1937 in die Schweiz floh und 1940 nach Kanada auswanderte, blieb Julius Hirsch im Land seiner Väter. 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und kam nie zurück. Auch Fuchs kam nie zurück, aber er lebte noch lange.

Nach dem Krieg erinnerte man sich endlich seiner. Sepp Herberger, der Fuchs schon als Kind spielen sah und ihn und seine Kameraden Fritz Förderer, Max Breunig oder Julius Hirsch schier verehrte, ließ 1955 anlässlich des ersten Länderspiels in Russland die Nationalspieler eine Grußkarte an ihn unterschreiben. Er spornte seine Weltmeister an: "Ihm müsst ihr’s nachmachen, er hat zehn Tore gegen Russland geschossen." Die Karte steckte er in einen Briefumschlag, steuerte noch ein paar persönliche Zeilen dazu. Godfrey E. Fochs, wie er sich nannte, antwortete: "Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich ihr natürlicher und herzlicher Brief gerührt hat."

Eine frühe Ehrung soll nicht unerwähnt bleiben: 1912 hatte ihm der preußische Kronprinz Wilhelm einen Silberpokal überreicht für seinen Tore-Rekord. Ein Rekord, der am 1. Juli 2012 genau 100 Jahre alt wurde. Es ist einer für die Ewigkeit.