Mit Schnix durchs Paradies

Nach dem Ende seiner Karriere ist Bernd Schneider mit seiner Familie zurück in die Heimat gegangen. Nach Thüringen, nach Jena. Hier ist er aufgewachsen, Profi geworden. Hier hat der 81-malige Nationalspieler gerade seinen 40. Geburtstag gefeiert. Und hier hat er vor einiger Zeit seine größte sportliche Herausforderung hinter sich gebracht. Mit dem DFB-Journal hat er einen Streifzug unternommen zu den Lieblingsplätzen seiner Geburtsstadt - Heimspiel Schneider.

Der Nebel liegt wie ein Daunenbett über der Stadt. Noch ist nicht klar, ob es die Spätherbstsonne schaffen wird, den Tag bunt anzumalen. Wir stehen mit Bernd Schneider auf dem Bahnsteig der Station "Jena Paradies". Als ein abfahrender ICE den Blick auf die Innenstadt wieder freigibt, schwärmt er: "Jena ist schön. Irgendwie gemütlich, aber auch lebendig." In 81 Länderspielen hat er die ganze Welt gesehen und doch zählte für ihn nur dieses Fleckchen Erde in Thüringen, "deshalb wollte ich immer zurück". Für Bernd Schneider ist seine Heimatstadt groß genug, um sich einigermaßen unerkannt bewegen zu können. "Das klappt ganz gut, vielleicht, weil ich so lange weg war", vermutet er. Den großen Rummel im Fußballgeschäft hat er ohnehin nie gemocht.

K.o. auf der Langstreckenwanderung

Der einstige Dribbelkünstler will uns seine Lieblingsplätze zeigen. Zuerst geht es hoch zum Landgrafen. Vom Volksmund wird der Aussichtspunkt "Balkon von Jena" genannt. Oben angekommen, verstehen wir warum. Die Sonne hat ganze Arbeit geleistet. Es eröffnet sich ein grandioser Blick auf die im Kessel liegende Stadt. Schneider zeigt in die Ferne. Irgendwo dahinten, sagt er, habe er vor gut zweieinhalb Jahren seine größte sportliche Herausforderung begonnen. Wie bitte? Frühjahr 2011? Sein Abschiedsspiel war im Jahr davor, haben wir was verpasst? Die regelmäßigen Auftritte mit seinem Freizeit-Team von "Grasshoppers Jena" kann er doch nicht meinen. Der Vize-Weltmeister von 2002 klärt auf: "Jedes Jahr im Mai gibt’s hier eine Langstreckenwanderung. Rund um Jena über 100 Kilometer in maximal 24 Stunden. Also genau von 18 bis 18 Uhr."

Schneiders Zeigefinger malt die Streckenführung über den Horizont: "Da drüben ging´s hoch, über den Kamm und wieder runter. Dann wieder hoch ..." Von zwei Freunden habe er sich überreden lassen und war ohne jede Vorbereitung an den Start gegangen. Natürlich in der Annahme, es würde ein gemütliches Tempo angeschlagen. Mit einer Art Grubenlampe an der Stirn ging es in die Nacht. Zehn Stunden später gab er auf. Vom ständigen Auf und Ab zermürbt, vom Schüttelfrost geplagt. Gut 40 Kilometer hatte er da in den Knochen. "Als ich früh um fünf im Bett lag, tat mir alles weh. Diesen Zustand hatte ich in fast 20 Jahren als Profi nie erlebt", sagt er. Später erfuhr er, dass nur jeder zweite der 1.000 Starter bis ins Ziel gekommen war. Seitdem wandert Bernd Schneider lieber auf Rädern, mit Freunden, mit der Familie oder auch mal allein auf dem Mountainbike, und gibt zu: "Für die Fitness müsste man das öfter machen".

Auf dem Weg zu seinem ersten Bolzplatz chauffiert er uns durch die verschlungenen Straßen der Stadt. "Da drüben wohnt Eberhard Vogel. Und gleich daneben Konrad Weise." Die zwei Ikonen der Zeiss-Elf bringen es auf 160 Länderspiele. Jena ist auch ein ganzes Stück Fußballgeschichte. Mit Vogel und Weise als Trainer beim FC Carl Zeiss war der junge Schneider in die 2. Bundesliga aufgestiegen. 1995 war das, er trug einen Nackenspoiler bis auf die Schulter. Und heute? Schneiders Stimme macht eine Pause. Klar sei es bitter, dass Jena nur in der Regionalliga kickt: "Dafür gibt es viele Ursachen, nicht nur das fehlende Geld." Gegen Zwickau war er zuletzt im Stadion. Auch, weil sein alter Kumpel Torsten Ziegner als Gäste-Coach an der Seitenlinie stand. Gemeinsam hatten sie einst das Zeiss-Trikot getragen. Zur damaligen Mannschaft gehörte auch ein junger Torhüter: Robert Enke. Dessen Todestag jährte sich gerade zum vierten Mal. "Der Torsten hat am 9. November Geburtstag und Robert, beide waren gut befreundet, hat ihm jedes Jahr gratuliert. Doch 2009 schwieg das Telefon." Schneider fragt sich seitdem, wie man mit diesem Thema umgeht. "Die Sache mit dem Robert", sagt er, "hat uns alle mitgenommen und auch nachdenklich gemacht."

Von Jena bis nach Japan

Wir stehen auf dem Hartplatz im Stadtteil Jena-Lobeda. Hier hat 1979 alles begonnen. Die rostigen Torpfosten und die Lichtmasten mit den wuchtigen Peitschenlampen erinnern an die Zeit, als der Verein noch BSG Aufbau Jena hieß. Aus dem kleinen Bernd wurde ganz schnell der "Schnix" mit einer schier unstillbaren Lust auf den Ball. Fast täglich pendelt er zwischen Plattenbau und Bolzplatz. 20 Jahre später wird er in Leverkusen einen Spieler mit ähnlicher Prägung treffen – Michael Ballack. Beide verstehen sich fast blind und stürmen in der Saison 2001/2002 erst mit der Werkself bis ins Finale der Champions League, dann mit dem deutschen Team ins WM-Endspiel.

"Wenn ich die damalige Bayer-Mannschaft mit Borussia Dortmund von heute vergleiche, dann hatten wir schon eine ähnliche Qualität", sagt Schneider und kommt einer Nachfrage zuvor: "Wenn wir Meister werden, holen wir auch die anderen Titel – also Pokal und Champions League. Aber wir waren in den letzten Punktspielen zu naiv. Nicht clever genug, um auf Ergebnis zu spielen." Erst kürzlich war er zu Besuch bei Michael Ballack. Fast ein Jahrzehnt bildeten der "Capitano" und der "weiße Brasilianer" die Kreativzentrale der Nationalmannschaft. Durchlebten große Momente und erlitten bittere Niederlagen. Ob es bei der Weltmeisterschaft 2014 mit dem ersehnten Titel für Deutschland klappt? "Klar gehören wir zu den Top Four – aber was heißt das schon bei einer WM? Schließlich kann in einem K.-o.-Spiel alles passieren."

Trainerbank ist keine Option

Am Haltepunkt "Jena Paradies" zückt Schneider sein Handy. Zeigt Fotos vom Hochwasser im Juni 2013, aufgenommen von ähnlicher Stelle. Die Saale hatte Straßen und Wege, Häuser und Gärten überflutet. Auch das Stadion. Deshalb soll Jenas neue Arena nun an der Autobahn entstehen. Ob es ihn reizen würde, dort irgendwann als Trainer zu stehen? "Nee, nee, das ist nichts für mich." Momentan schnuppert er in die Firma eines Bekannten hinein: "In Sachen Marketing und Sponsoring, das interessiert mich." Beim Versuch, die zweite Hälfte in seinem beruflichen Leben zu planen, will er sich Zeit nehmen. "Ich habe das große Glück, dass nicht gleich der erste Schuss sitzen muss", sagt er.

Wir haben beim Rundgang durch Jena viel über Bernd Schneider erfahren. Wissen auch, dass er sich mit dem Heiraten Zeit lassen will – seit nunmehr 17 Jahren sind seine Freundin und er ein Paar. Dass sich sein fünfjähriger Sohn nicht für Fußball, sondern für Baufahrzeuge interessiert. Dass seine Tochter an der internationalen Schule fast spielend Fremdsprachen lernt. Zum Abschied verabreden wir uns mit ihm für Ende 2023. Dann wird er 50: "Also übermorgen", flachst der nun 40-jährige Junge aus Jena, der sich und seiner Stadt immer treu geblieben ist. Egal, wo ihn der Fußball auch hingeführt hat.

[dfb]

Nach dem Ende seiner Karriere ist Bernd Schneider mit seiner Familie zurück in die Heimat gegangen. Nach Thüringen, nach Jena. Hier ist er aufgewachsen, Profi geworden. Hier hat der 81-malige Nationalspieler gerade seinen 40. Geburtstag gefeiert. Und hier hat er vor einiger Zeit seine größte sportliche Herausforderung hinter sich gebracht. Mit dem DFB-Journal hat er einen Streifzug unternommen zu den Lieblingsplätzen seiner Geburtsstadt - Heimspiel Schneider.

Der Nebel liegt wie ein Daunenbett über der Stadt. Noch ist nicht klar, ob es die Spätherbstsonne schaffen wird, den Tag bunt anzumalen. Wir stehen mit Bernd Schneider auf dem Bahnsteig der Station "Jena Paradies". Als ein abfahrender ICE den Blick auf die Innenstadt wieder freigibt, schwärmt er: "Jena ist schön. Irgendwie gemütlich, aber auch lebendig." In 81 Länderspielen hat er die ganze Welt gesehen und doch zählte für ihn nur dieses Fleckchen Erde in Thüringen, "deshalb wollte ich immer zurück". Für Bernd Schneider ist seine Heimatstadt groß genug, um sich einigermaßen unerkannt bewegen zu können. "Das klappt ganz gut, vielleicht, weil ich so lange weg war", vermutet er. Den großen Rummel im Fußballgeschäft hat er ohnehin nie gemocht.

K.o. auf der Langstreckenwanderung

Der einstige Dribbelkünstler will uns seine Lieblingsplätze zeigen. Zuerst geht es hoch zum Landgrafen. Vom Volksmund wird der Aussichtspunkt "Balkon von Jena" genannt. Oben angekommen, verstehen wir warum. Die Sonne hat ganze Arbeit geleistet. Es eröffnet sich ein grandioser Blick auf die im Kessel liegende Stadt. Schneider zeigt in die Ferne. Irgendwo dahinten, sagt er, habe er vor gut zweieinhalb Jahren seine größte sportliche Herausforderung begonnen. Wie bitte? Frühjahr 2011? Sein Abschiedsspiel war im Jahr davor, haben wir was verpasst? Die regelmäßigen Auftritte mit seinem Freizeit-Team von "Grasshoppers Jena" kann er doch nicht meinen. Der Vize-Weltmeister von 2002 klärt auf: "Jedes Jahr im Mai gibt’s hier eine Langstreckenwanderung. Rund um Jena über 100 Kilometer in maximal 24 Stunden. Also genau von 18 bis 18 Uhr."

Schneiders Zeigefinger malt die Streckenführung über den Horizont: "Da drüben ging´s hoch, über den Kamm und wieder runter. Dann wieder hoch ..." Von zwei Freunden habe er sich überreden lassen und war ohne jede Vorbereitung an den Start gegangen. Natürlich in der Annahme, es würde ein gemütliches Tempo angeschlagen. Mit einer Art Grubenlampe an der Stirn ging es in die Nacht. Zehn Stunden später gab er auf. Vom ständigen Auf und Ab zermürbt, vom Schüttelfrost geplagt. Gut 40 Kilometer hatte er da in den Knochen. "Als ich früh um fünf im Bett lag, tat mir alles weh. Diesen Zustand hatte ich in fast 20 Jahren als Profi nie erlebt", sagt er. Später erfuhr er, dass nur jeder zweite der 1.000 Starter bis ins Ziel gekommen war. Seitdem wandert Bernd Schneider lieber auf Rädern, mit Freunden, mit der Familie oder auch mal allein auf dem Mountainbike, und gibt zu: "Für die Fitness müsste man das öfter machen".

Auf dem Weg zu seinem ersten Bolzplatz chauffiert er uns durch die verschlungenen Straßen der Stadt. "Da drüben wohnt Eberhard Vogel. Und gleich daneben Konrad Weise." Die zwei Ikonen der Zeiss-Elf bringen es auf 160 Länderspiele. Jena ist auch ein ganzes Stück Fußballgeschichte. Mit Vogel und Weise als Trainer beim FC Carl Zeiss war der junge Schneider in die 2. Bundesliga aufgestiegen. 1995 war das, er trug einen Nackenspoiler bis auf die Schulter. Und heute? Schneiders Stimme macht eine Pause. Klar sei es bitter, dass Jena nur in der Regionalliga kickt: "Dafür gibt es viele Ursachen, nicht nur das fehlende Geld." Gegen Zwickau war er zuletzt im Stadion. Auch, weil sein alter Kumpel Torsten Ziegner als Gäste-Coach an der Seitenlinie stand. Gemeinsam hatten sie einst das Zeiss-Trikot getragen. Zur damaligen Mannschaft gehörte auch ein junger Torhüter: Robert Enke. Dessen Todestag jährte sich gerade zum vierten Mal. "Der Torsten hat am 9. November Geburtstag und Robert, beide waren gut befreundet, hat ihm jedes Jahr gratuliert. Doch 2009 schwieg das Telefon." Schneider fragt sich seitdem, wie man mit diesem Thema umgeht. "Die Sache mit dem Robert", sagt er, "hat uns alle mitgenommen und auch nachdenklich gemacht."

Von Jena bis nach Japan

Wir stehen auf dem Hartplatz im Stadtteil Jena-Lobeda. Hier hat 1979 alles begonnen. Die rostigen Torpfosten und die Lichtmasten mit den wuchtigen Peitschenlampen erinnern an die Zeit, als der Verein noch BSG Aufbau Jena hieß. Aus dem kleinen Bernd wurde ganz schnell der "Schnix" mit einer schier unstillbaren Lust auf den Ball. Fast täglich pendelt er zwischen Plattenbau und Bolzplatz. 20 Jahre später wird er in Leverkusen einen Spieler mit ähnlicher Prägung treffen – Michael Ballack. Beide verstehen sich fast blind und stürmen in der Saison 2001/2002 erst mit der Werkself bis ins Finale der Champions League, dann mit dem deutschen Team ins WM-Endspiel.

"Wenn ich die damalige Bayer-Mannschaft mit Borussia Dortmund von heute vergleiche, dann hatten wir schon eine ähnliche Qualität", sagt Schneider und kommt einer Nachfrage zuvor: "Wenn wir Meister werden, holen wir auch die anderen Titel – also Pokal und Champions League. Aber wir waren in den letzten Punktspielen zu naiv. Nicht clever genug, um auf Ergebnis zu spielen." Erst kürzlich war er zu Besuch bei Michael Ballack. Fast ein Jahrzehnt bildeten der "Capitano" und der "weiße Brasilianer" die Kreativzentrale der Nationalmannschaft. Durchlebten große Momente und erlitten bittere Niederlagen. Ob es bei der Weltmeisterschaft 2014 mit dem ersehnten Titel für Deutschland klappt? "Klar gehören wir zu den Top Four – aber was heißt das schon bei einer WM? Schließlich kann in einem K.-o.-Spiel alles passieren."

Trainerbank ist keine Option

Am Haltepunkt "Jena Paradies" zückt Schneider sein Handy. Zeigt Fotos vom Hochwasser im Juni 2013, aufgenommen von ähnlicher Stelle. Die Saale hatte Straßen und Wege, Häuser und Gärten überflutet. Auch das Stadion. Deshalb soll Jenas neue Arena nun an der Autobahn entstehen. Ob es ihn reizen würde, dort irgendwann als Trainer zu stehen? "Nee, nee, das ist nichts für mich." Momentan schnuppert er in die Firma eines Bekannten hinein: "In Sachen Marketing und Sponsoring, das interessiert mich." Beim Versuch, die zweite Hälfte in seinem beruflichen Leben zu planen, will er sich Zeit nehmen. "Ich habe das große Glück, dass nicht gleich der erste Schuss sitzen muss", sagt er.

Wir haben beim Rundgang durch Jena viel über Bernd Schneider erfahren. Wissen auch, dass er sich mit dem Heiraten Zeit lassen will – seit nunmehr 17 Jahren sind seine Freundin und er ein Paar. Dass sich sein fünfjähriger Sohn nicht für Fußball, sondern für Baufahrzeuge interessiert. Dass seine Tochter an der internationalen Schule fast spielend Fremdsprachen lernt. Zum Abschied verabreden wir uns mit ihm für Ende 2023. Dann wird er 50: "Also übermorgen", flachst der nun 40-jährige Junge aus Jena, der sich und seiner Stadt immer treu geblieben ist. Egal, wo ihn der Fußball auch hingeführt hat.