Michael Ballack: Ein Kapitän auf Titelkurs

Winterpause, Weihnachtsurlaub, keine Spiele. Für Michael Ballack gilt das alles nicht. Die englische Premier League spielt durch, der FC Chelsea kämpft um Meisterschaftspunkte und der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft ist dabei.

Es macht ihm nichts aus, über die Feiertage Fußball zu spielen. Im Gegenteil: Ballack fühlt sich gut, wohl, heimisch. Er mag das Leben in London und er mag den Fußball auf der Insel. Beides hat ihn reifer werden lassen, reif genug für große Ziele – mit Chelsea und mit der Nationalmannschaft. Der freie Journalist Raphael Honigstein hat Ballack in London für das DFB-Journal getroffen.

"Mit Essien gleich abgeklatscht"

Kurz vor Manchester wähnten sich die Engländer bereits im WM-Finale von Johannesburg. "Die waren die Einzigen, die gefeiert haben", erzählt Michael Ballack lächelnd. Der Kapitän der Nationalmannschaft verfolgte die WM-Gruppenauslosung von Kapstadt zusammen mit seinen Vereinskollegen vom FC Chelsea im Mannschaftsbus; auf dem Weg zum Auswärtsspiel bei Manchester City verwandelten sich treue Mitspieler urplötzlich in knifflige Gegner. "Michael Essien sitzt genau vor mir, wir haben uns gleich abgeklatscht", sagt Ballack über den Moment, als Ghana der deutschen Gruppe D zugelost wurde.

Wenig später winkte Branislav Ivanovic aufreizend cool herüber – der Verteidiger wird am 18. Juni mit Serbien auf Joachim Löws Mannschaft treffen. "Ihm schien es ziemlich egal zu sein, gegen Deutschland spielen zu müssen, er hat zumindest einen sehr selbstbewussten Eindruck gemacht", berichtet der 33-Jährige. Die anderen Afrikaner im Team, Didier Drogba, Salomon Kalou (beide Elfenbeinküste) und John Mikel Obi (Nigeria), wirkten mit ihren WM-Gruppen weniger zufrieden.

Ein bisschen überrascht war Ballack von den Reaktionen in der Heimat. "Teilweise konnte man da von einem Glückslos lesen", sagt er kopfschüttelnd, seiner Einschätzung entspricht das ganz und gar nicht. Es sei "eine schwere Gruppe", meint der gebürtige Görlitzer, "ausgeglichen" und voller "physisch starker" Gegner; unangenehm zu spielende Teams, die "für jede Mannschaft zum Stolperstein" werden könnten. Serbien hat eine imposante Qualifikation absolviert. Australien und Ghana überzeugten bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Deutschland.

"Gruppe wird uns alles abverlangen"

"Die Gruppe wird uns alles abverlangen", warnt er, doch das sei nicht unbedingt ein Nachteil für die DFB-Auswahl: "Es ist gut, wenn das Turnier gleich richtig losgeht". Wenn möglich, sollte man aber auch noch als Gruppenerster abschließen, um den Engländern im Achtelfinale aus dem Weg zu gehen, fügt Ballack hinzu. Er zählt die Männer mit den drei Löwen auf dem Trikot neben Spanien und Brasilien zu den Favoriten auf den Titel. Die Gruppe C (mit USA, Algerien, Slowenien) dürfte John Terry & Co. jedenfalls wenige Probleme machen. Zusammen mit dem italienischen Trainer Fabio Capello scheinen die Engländer nun auch noch das traditionell deutsche Losglück importiert zu haben.

Muss man sich also Sorgen um die DFB-Auswahl machen? Es sind mahnende, nachdenkliche Worte, die "der Capitano" (Jürgen Klinsmann) ausspricht, aber der entspannte Gesichtsausdruck dazu verrät, dass er seiner Mannschaft in Südafrika trotz etwaiger Unpässlichkeiten in der Vorrunde insgesamt Großes zutraut. "Man muss es sowieso nehmen, wie es kommt", sagt er vor seinem fünften internationalen Turnier gut gelaunt. "Wir wollen es ins Halbfinale, ins Finale schaffen. Wir sind Deutschland – das ist ja fast schon ein Muss."

Es ist vor allem der Blick zurück auf das vergangene Jahr, das Ballack optimistisch nach vorne schauen lässt. 2009 fing für die Nationalmannschaft mit einer 0:1-Niederlage im Freundschaftsspiel gegen Norwegen an und hörte mit einem 2:2 gegen die Elfenbeinküste auf. Dazwischen überzeugte das Team nur partiell, dafür aber in einer Partie so ungemein, dass jener Glanz noch weit bis ins nächste Frühjahr hineinstrahlen wird. Der 1:0-Sieg in Russland im Oktober hat der Mannschaft nicht nur zwei nervenaufreibende Relegations-Spiele erspart, sondern auch die vielleicht wichtigste aller "deutschen Tugenden" bestätigt: die einzigartige Fähigkeit, das Leistungspotenzial auf den Punkt genau abrufen zu können.

"Wir haben bewiesen, dass wir da sind, wenn es darauf ankommt", sagt Ballack nicht ohne Stolz, "das zeigt die Qualität der Mannschaft, den Charakter der Spieler, und dass wir im richtigen Moment an unsere Grenzen gehen können". Das erstaunlich souverän herausgespielte Resultat von Moskau sei "das klare Highlight der Qualifikation" gewesen, und hätte auch bei der internationalen Konkurrenz Eindruck hinterlassen. Ballack schätzt das 1:0 so bedeutend für die Entwicklung des Teams ein, dass es nachhaltig wirken wird. "Das Russland-Match wird aktuell bleiben", glaubt er.

Keine Winterpause auf der Insel

Viel Zeit für Vorfreude auf die WM lässt ihm der Spielplan der Premier League nicht. Ballack kommt als einziger Nationalspieler nicht in den Genuss einer Winterpause, auf der Insel wird durchgespielt - der FC Chelsea bestimmt bis zum Argentinien-Spiel die nächsten Monate. "Nach drei Jahren ohne Meisterschaft und dem unglücklichen Aus im Halbfinale der Champions League ist der Hunger größer als je zuvor", sagt Ballack, dem die "Sunday Times" vor kurzem die beste Saison seit seinem Wechsel an die Themse im Sommer 2006 attestiert hat. Er führt seine Konstanz unter anderem auf fünf Wochen Urlaub vor Saisonbeginn zurück: Sowohl mental als auch körperlich würde er von der ungewohnt langen Erholungspause enorm profitieren.

Man werde nun alles daransetzen, um in der Liga oben zu bleiben, verspricht er, "mit ein bisschen Glück" könne der Frühling jene (Vereins-)Titel bringen, die ihm noch im Lebenslauf fehlen. Darüber hinaus werden bald die Weichen für seine konkrete berufliche Zukunft gestellt: Sein Vertrag in West-London läuft zu Saisonende aus. Chelsea ist sein erster Ansprechpartner, sagt er, "ob und wie wir zusammenkommen, wird man demnächst sehen". Am liebsten würde er noch ein wenig länger auf der Insel bleiben. Die Zurückhaltung und Höflichkeit der Engländer haben ihm abseits des Platzes den Freiraum gelassen, sich persönlich zu entwickeln und ganz neue Seiten an sich zu entdecken. Selbst die Parkwächter, die vor der schicken "Tini"-Bar im Galerien- und Einkaufsviertel South Kensington um seinen Wagen schleichen, habe er "im Griff", lacht er. London, das merkt man, ist seine Stadt geworden.

"Ein aufregender Sommer steht an"

Wird es auch Deutschlands Jahr, sein Jahr werden? "Auf jeden Fall steht ein aufregender Sommer an", sagt Ballack gelassen. Er ist froh, bis März "eine Verschnaufpause in Sachen Nationalmannschaft und die Ruhe vor dem Sturm" genießen zu können und noch froher, dass mit den von Diego Maradona trainierten Argentiniern ein echtes Spitzenteam zum Test nach München kommt. "Wir brauchen diese Spiele gegen große Nationen, um zu sehen, wo wir stehen", sagt Ballack. "Nur in diesen Partien kannst du wachsen oder auch die Fehler machen, aus denen du lernst. Da man in der Qualifikation nur selten gegen Top-Gegner spielt, ist es sehr wichtig für uns, dieses Feedback zu bekommen."

In drei Monaten könne sich zwar viel ändern, in beide Richtungen ("Als Spieler bist du extrem von deiner Tagesform abhängig"), aber der Kapitän sieht das Team insbesondere dank eines jungen Spielers auf dem Weg, eine neue Entwicklungsstufe zu erreichen. "Mesut Özil hat Frische in unser Spiel gebracht", lobt er den Bremer, "seine Qualität und Kreativität tun jeder Mannschaft gut." In der Vergangenheit sei das Spiel des Nationalteams nicht auf einen zentralen offensiven Mittelfeldspieler ausgerichtet gewesen; Özil, den er als "klassischen Zehner oder hängende Spitze" bezeichnet, eröffnet nun ganz neue taktische Varianten. "Wir können das System wechseln und sind so für die Gegner viel schwerer auszurechnen", sagt Ballack.

Auch dem Leverkusener Stürmer Stefan Kießling traut er bei der WM eine tragende Rolle zu: "Er hat sich in den vergangenen Monaten aufgedrängt und gute Chancen, im Team noch weitere Schritte nach vorne zu machen." Zudem bieten sich noch im defensiven Mittelfeld "Möglichkeiten für jüngere Spieler, auf sich aufmerksam zu machen", sagt Ballack. Und auch für ältere? "Warum nicht?"

Zwei Faktoren werden laut Deutschlands Schlüsselspieler, der noch vor dem Turnierauftakt gegen Australien in Durban die Marke von 100 Länderspielen erreicht haben dürfte, entscheidend für einen positiven Verlauf der Weltmeisterschaft sein. Erstens darf es kaum Ausfälle durch Verletzungen geben – in der Breite sei man einfach nicht so gut besetzt wie andere Nationen. Außerdem sei wie vor den beiden vorherigen Turnieren die Vorbereitung äußerst wichtig. "Wir müssen frühzeitig zusammenkommen und zusehen, dass sich jeder in der Gruppe einbringt. Die Spieler müssen Sicherheit in ihren Positionen und im Mannschaftsgefüge finden. So können wir den Zusammenhalt und den Glauben an uns gewinnen, von dem wir als Mannschaft leben." Falls es dem Team gelänge, ähnlich außergewöhnliche Leistungen wie in Russland abzurufen, könne man zumindest "am WM-Pokal kratzen", glaubt Ballack.

"Man muss uns auf dem Zettel haben"

Inwieweit es für ihn der letzte Griff nach einer Trophäe im weißen Trikot sein wird, will er noch offen lassen. "Ich kann im Moment nicht sagen, dass es mein letztes Turnier sein wird", sagt Ballack. "Mein Ziel ist es, so lange wie möglich auf dem höchsten Niveau zu spielen. Falls das klappt, behält man natürlich die Nationalmannschaft im Auge. Allerdings muss man im Zwei-Jahres-Rhyhtmus denken. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, wie sich die Situation im Verein darstellt und wo die Reise hingeht."

Am besten geht sie natürlich bis ins Soccer City Stadion, wo am 11. Juli das Endspiel der Weltmeisterschaft ausgetragen wird. "Die Erwartungshaltung ist vielleicht nicht ganz so groß wie vor der EM 2008, als uns auch die ausländischen Nationen sehr weit vorne sahen", sagt Ballack abschließend. "Aber wenn die WM näherkommt, werden uns die anderen wieder auf dem Zettel haben, da bin ich ganz sicher." Dann darf man gespannt sein, wer von den Insassen des Chelsea-Busses am Ende jubeln darf.

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Winterpause, Weihnachtsurlaub, keine Spiele. Für Michael Ballack gilt das alles nicht. Die englische Premier League spielt durch, der FC Chelsea kämpft um Meisterschaftspunkte und der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft ist dabei.

Es macht ihm nichts aus, über die Feiertage Fußball zu spielen. Im Gegenteil: Ballack fühlt sich gut, wohl, heimisch. Er mag das Leben in London und er mag den Fußball auf der Insel. Beides hat ihn reifer werden lassen, reif genug für große Ziele – mit Chelsea und mit der Nationalmannschaft. Der freie Journalist Raphael Honigstein hat Ballack in London für das DFB-Journal getroffen.

"Mit Essien gleich abgeklatscht"

Kurz vor Manchester wähnten sich die Engländer bereits im WM-Finale von Johannesburg. "Die waren die Einzigen, die gefeiert haben", erzählt Michael Ballack lächelnd. Der Kapitän der Nationalmannschaft verfolgte die WM-Gruppenauslosung von Kapstadt zusammen mit seinen Vereinskollegen vom FC Chelsea im Mannschaftsbus; auf dem Weg zum Auswärtsspiel bei Manchester City verwandelten sich treue Mitspieler urplötzlich in knifflige Gegner. "Michael Essien sitzt genau vor mir, wir haben uns gleich abgeklatscht", sagt Ballack über den Moment, als Ghana der deutschen Gruppe D zugelost wurde.

Wenig später winkte Branislav Ivanovic aufreizend cool herüber – der Verteidiger wird am 18. Juni mit Serbien auf Joachim Löws Mannschaft treffen. "Ihm schien es ziemlich egal zu sein, gegen Deutschland spielen zu müssen, er hat zumindest einen sehr selbstbewussten Eindruck gemacht", berichtet der 33-Jährige. Die anderen Afrikaner im Team, Didier Drogba, Salomon Kalou (beide Elfenbeinküste) und John Mikel Obi (Nigeria), wirkten mit ihren WM-Gruppen weniger zufrieden.

Ein bisschen überrascht war Ballack von den Reaktionen in der Heimat. "Teilweise konnte man da von einem Glückslos lesen", sagt er kopfschüttelnd, seiner Einschätzung entspricht das ganz und gar nicht. Es sei "eine schwere Gruppe", meint der gebürtige Görlitzer, "ausgeglichen" und voller "physisch starker" Gegner; unangenehm zu spielende Teams, die "für jede Mannschaft zum Stolperstein" werden könnten. Serbien hat eine imposante Qualifikation absolviert. Australien und Ghana überzeugten bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Deutschland.

"Gruppe wird uns alles abverlangen"

"Die Gruppe wird uns alles abverlangen", warnt er, doch das sei nicht unbedingt ein Nachteil für die DFB-Auswahl: "Es ist gut, wenn das Turnier gleich richtig losgeht". Wenn möglich, sollte man aber auch noch als Gruppenerster abschließen, um den Engländern im Achtelfinale aus dem Weg zu gehen, fügt Ballack hinzu. Er zählt die Männer mit den drei Löwen auf dem Trikot neben Spanien und Brasilien zu den Favoriten auf den Titel. Die Gruppe C (mit USA, Algerien, Slowenien) dürfte John Terry & Co. jedenfalls wenige Probleme machen. Zusammen mit dem italienischen Trainer Fabio Capello scheinen die Engländer nun auch noch das traditionell deutsche Losglück importiert zu haben.

Muss man sich also Sorgen um die DFB-Auswahl machen? Es sind mahnende, nachdenkliche Worte, die "der Capitano" (Jürgen Klinsmann) ausspricht, aber der entspannte Gesichtsausdruck dazu verrät, dass er seiner Mannschaft in Südafrika trotz etwaiger Unpässlichkeiten in der Vorrunde insgesamt Großes zutraut. "Man muss es sowieso nehmen, wie es kommt", sagt er vor seinem fünften internationalen Turnier gut gelaunt. "Wir wollen es ins Halbfinale, ins Finale schaffen. Wir sind Deutschland – das ist ja fast schon ein Muss."

Es ist vor allem der Blick zurück auf das vergangene Jahr, das Ballack optimistisch nach vorne schauen lässt. 2009 fing für die Nationalmannschaft mit einer 0:1-Niederlage im Freundschaftsspiel gegen Norwegen an und hörte mit einem 2:2 gegen die Elfenbeinküste auf. Dazwischen überzeugte das Team nur partiell, dafür aber in einer Partie so ungemein, dass jener Glanz noch weit bis ins nächste Frühjahr hineinstrahlen wird. Der 1:0-Sieg in Russland im Oktober hat der Mannschaft nicht nur zwei nervenaufreibende Relegations-Spiele erspart, sondern auch die vielleicht wichtigste aller "deutschen Tugenden" bestätigt: die einzigartige Fähigkeit, das Leistungspotenzial auf den Punkt genau abrufen zu können.

"Wir haben bewiesen, dass wir da sind, wenn es darauf ankommt", sagt Ballack nicht ohne Stolz, "das zeigt die Qualität der Mannschaft, den Charakter der Spieler, und dass wir im richtigen Moment an unsere Grenzen gehen können". Das erstaunlich souverän herausgespielte Resultat von Moskau sei "das klare Highlight der Qualifikation" gewesen, und hätte auch bei der internationalen Konkurrenz Eindruck hinterlassen. Ballack schätzt das 1:0 so bedeutend für die Entwicklung des Teams ein, dass es nachhaltig wirken wird. "Das Russland-Match wird aktuell bleiben", glaubt er.

Keine Winterpause auf der Insel

Viel Zeit für Vorfreude auf die WM lässt ihm der Spielplan der Premier League nicht. Ballack kommt als einziger Nationalspieler nicht in den Genuss einer Winterpause, auf der Insel wird durchgespielt - der FC Chelsea bestimmt bis zum Argentinien-Spiel die nächsten Monate. "Nach drei Jahren ohne Meisterschaft und dem unglücklichen Aus im Halbfinale der Champions League ist der Hunger größer als je zuvor", sagt Ballack, dem die "Sunday Times" vor kurzem die beste Saison seit seinem Wechsel an die Themse im Sommer 2006 attestiert hat. Er führt seine Konstanz unter anderem auf fünf Wochen Urlaub vor Saisonbeginn zurück: Sowohl mental als auch körperlich würde er von der ungewohnt langen Erholungspause enorm profitieren.

Man werde nun alles daransetzen, um in der Liga oben zu bleiben, verspricht er, "mit ein bisschen Glück" könne der Frühling jene (Vereins-)Titel bringen, die ihm noch im Lebenslauf fehlen. Darüber hinaus werden bald die Weichen für seine konkrete berufliche Zukunft gestellt: Sein Vertrag in West-London läuft zu Saisonende aus. Chelsea ist sein erster Ansprechpartner, sagt er, "ob und wie wir zusammenkommen, wird man demnächst sehen". Am liebsten würde er noch ein wenig länger auf der Insel bleiben. Die Zurückhaltung und Höflichkeit der Engländer haben ihm abseits des Platzes den Freiraum gelassen, sich persönlich zu entwickeln und ganz neue Seiten an sich zu entdecken. Selbst die Parkwächter, die vor der schicken "Tini"-Bar im Galerien- und Einkaufsviertel South Kensington um seinen Wagen schleichen, habe er "im Griff", lacht er. London, das merkt man, ist seine Stadt geworden.

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"Ein aufregender Sommer steht an"

Wird es auch Deutschlands Jahr, sein Jahr werden? "Auf jeden Fall steht ein aufregender Sommer an", sagt Ballack gelassen. Er ist froh, bis März "eine Verschnaufpause in Sachen Nationalmannschaft und die Ruhe vor dem Sturm" genießen zu können und noch froher, dass mit den von Diego Maradona trainierten Argentiniern ein echtes Spitzenteam zum Test nach München kommt. "Wir brauchen diese Spiele gegen große Nationen, um zu sehen, wo wir stehen", sagt Ballack. "Nur in diesen Partien kannst du wachsen oder auch die Fehler machen, aus denen du lernst. Da man in der Qualifikation nur selten gegen Top-Gegner spielt, ist es sehr wichtig für uns, dieses Feedback zu bekommen."

In drei Monaten könne sich zwar viel ändern, in beide Richtungen ("Als Spieler bist du extrem von deiner Tagesform abhängig"), aber der Kapitän sieht das Team insbesondere dank eines jungen Spielers auf dem Weg, eine neue Entwicklungsstufe zu erreichen. "Mesut Özil hat Frische in unser Spiel gebracht", lobt er den Bremer, "seine Qualität und Kreativität tun jeder Mannschaft gut." In der Vergangenheit sei das Spiel des Nationalteams nicht auf einen zentralen offensiven Mittelfeldspieler ausgerichtet gewesen; Özil, den er als "klassischen Zehner oder hängende Spitze" bezeichnet, eröffnet nun ganz neue taktische Varianten. "Wir können das System wechseln und sind so für die Gegner viel schwerer auszurechnen", sagt Ballack.

Auch dem Leverkusener Stürmer Stefan Kießling traut er bei der WM eine tragende Rolle zu: "Er hat sich in den vergangenen Monaten aufgedrängt und gute Chancen, im Team noch weitere Schritte nach vorne zu machen." Zudem bieten sich noch im defensiven Mittelfeld "Möglichkeiten für jüngere Spieler, auf sich aufmerksam zu machen", sagt Ballack. Und auch für ältere? "Warum nicht?"

Zwei Faktoren werden laut Deutschlands Schlüsselspieler, der noch vor dem Turnierauftakt gegen Australien in Durban die Marke von 100 Länderspielen erreicht haben dürfte, entscheidend für einen positiven Verlauf der Weltmeisterschaft sein. Erstens darf es kaum Ausfälle durch Verletzungen geben – in der Breite sei man einfach nicht so gut besetzt wie andere Nationen. Außerdem sei wie vor den beiden vorherigen Turnieren die Vorbereitung äußerst wichtig. "Wir müssen frühzeitig zusammenkommen und zusehen, dass sich jeder in der Gruppe einbringt. Die Spieler müssen Sicherheit in ihren Positionen und im Mannschaftsgefüge finden. So können wir den Zusammenhalt und den Glauben an uns gewinnen, von dem wir als Mannschaft leben." Falls es dem Team gelänge, ähnlich außergewöhnliche Leistungen wie in Russland abzurufen, könne man zumindest "am WM-Pokal kratzen", glaubt Ballack.

"Man muss uns auf dem Zettel haben"

Inwieweit es für ihn der letzte Griff nach einer Trophäe im weißen Trikot sein wird, will er noch offen lassen. "Ich kann im Moment nicht sagen, dass es mein letztes Turnier sein wird", sagt Ballack. "Mein Ziel ist es, so lange wie möglich auf dem höchsten Niveau zu spielen. Falls das klappt, behält man natürlich die Nationalmannschaft im Auge. Allerdings muss man im Zwei-Jahres-Rhyhtmus denken. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, wie sich die Situation im Verein darstellt und wo die Reise hingeht."

Am besten geht sie natürlich bis ins Soccer City Stadion, wo am 11. Juli das Endspiel der Weltmeisterschaft ausgetragen wird. "Die Erwartungshaltung ist vielleicht nicht ganz so groß wie vor der EM 2008, als uns auch die ausländischen Nationen sehr weit vorne sahen", sagt Ballack abschließend. "Aber wenn die WM näherkommt, werden uns die anderen wieder auf dem Zettel haben, da bin ich ganz sicher." Dann darf man gespannt sein, wer von den Insassen des Chelsea-Busses am Ende jubeln darf.