Menotti: "Deutschland hat die Schönheit entdeckt"

DFB.de: Spüren Sie eine Veränderung des Weltfußballs durch den deutschen Titelgewinn 2014?

Menotti: Der spektakuläre Fußball, den zum Beispiel Barcelona spielt oder Deutschland, ist tatsächlich dabei, die Kultur zu verändern. Italien zum Beispiel ist bereit, seine Art Fußball zu spielen zu verändern, weil es sieht, dass Deutschland und Barcelona alles gewonnen haben. Und das obwohl sie den Catenaccio ja praktisch mit ihrer DNA vererben.

DFB.de: Mit all ihrer Erfahrung: Welche Eigenschaften muss ein Trainer mitbringen?

Menotti: Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Aber ein guter Trainer braucht vor allem Know-how. Ich weiß nicht, ob es einen guten Trainer auszeichnet, wenn er Spieler bestraft, die statt um 8 Uhr morgens erst um 8.10 Uhr auf dem Trainingsplatz erscheinen. Oder ob es ihn zu einem guten Trainer macht, sich besonders aggressiv am Spielfeldrand zu verhalten oder zu schreien, damit die Leute sagen: Der Mann hat Autorität. Ein Profi akzeptiert und unterwirft sich nur Know-how. Ein Trainer muss wissen, wie man einen Spieler, selbst wenn er Lionel Messi heißt, noch ein bisschen besser machen kann. Das ist die Kernaufgabe eines Trainers, die Fähigkeit, Spieler zu verbessern und zu korrigieren. Manchmal redet alle Welt davon, welche Systeme gespielt werden sollen, ob 4-3-3 oder 4-1-4-1. Das kommt mir manchmal so vor, als ginge es darum, Telefonnummern auswendig zu lernen.

DFB.de: Worum geht es dann?

Menotti: Der Fußball ist im Prinzip sehr einfach, er besteht aus vier Grundeigenschaften: Verteidigung, Balleroberung, Spielentwicklung und Abschluss. Es gilt, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Die Aufgabe eines Trainers ist es, die Spieler zu entwickeln. Wer das schafft, ist ein guter Trainer.

DFB.de: Argentinien stand 2014 gegen Deutschland im WM-Finale, doch der Fußball im Land macht keine einfache Zeit durch. In der WM-Qualifikation läuft es nicht besonders, nach wie vor fokussiert sich alles auf Messi. Auch den Vereinen ging es schon besser. Wie fällt Ihr Blick in die Zukunft aus?

Menotti: Die Zukunft unseres Fußballs hängt davon ab, ob sie seine Organisation in den Griff kriegen. Wenn nicht, dann wird es noch schlimmer als es jetzt schon ist, denn im Moment gibt es keine klaren Regeln, kann ein Klub auch 100 Millionen Dollar Schulden haben und immer noch mehr Spieler kaufen und weiter Schulden machen. So ist das in Unternehmen, die niemand kontrolliert. Und wenn man über Fußball spricht, dann muss man auch definieren, was Fußball überhaupt ist, denn viele Leute denken, das ist Messi, das ist Guardiola und dass alle 20 Millionen verdienen. Hier gibt es aber Spieler, die verdienen vielleicht 250, 300 Euro im Monat, und das reicht nicht einmal um den Bus zu bezahlen, um zum Training zu kommen. Und wer hat das alles autorisiert? Die Mittelmäßigkeit in den Führungsetagen. Sie verfügen nicht über die notwendige Kompetenz, sie haben keine Vision und kein Verständnis davon, was den Fußball in Argentinien kennzeichnet.



César Luis Menotti (78) gehört zu den intellektuellen Querdenkern im internationalen Fußball. Im DFB.de-Interview spricht der argentinische Weltmeister-Trainer von 1978 über verwegene Fußballer, über Autos und Abenteuer, über Barca und Boxen. Und über die fußballerischen Aussichten im Land des Vizeweltmeisters.

DFB.de: Herr Menotti, was verstehen Sie unter Philosophie des Fußballs?

César Luis Menotti: Jorge Luis Borges, ein großer argentinischer Schriftsteller, wurde eines Tages gefragt: Was zeichnet die Philosophie eines großen Künstlers aus. Borges antwortete: Um ein großer Schriftsteller zu sein, musst Du drei Dinge besitzen: Talent, Ordnung und Abenteuerlust. Die Deutschen haben in ihrer Geschichte immer von der Ordnung gelebt, aber der Qualitätssprung kam, als sie dies auch noch mit der individuellen Qualität verknüpft haben, mit Spielern wie Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath oder Gerd Müller. Seit 2006 spielen sie im Kollektiv wagemutig, ja geradezu verwegen. Man könnte auch sagen, der deutsche Fußball hat begonnen, die Schönheit im Spiel zu entdecken, mehr als die Effizienz, die er ohnehin schon immer besaß. Deutschland ist sowieso immer anders gewesen als andere Fußball-Nationen.

DFB.de: Wie meinen Sie das?

Menotti: Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren nicht auf der Basis einer Niederlage weiterentwickelt, sondern es hat seine Veränderungen vollzogen, auch und obwohl es wichtige Spiele gewonnen hat. Das ist ein Schlüssel zum Erfolg, wenn eine Fußball-Nation auch dann Veränderungen vornimmt, wenn sie erfolgreich ist. Ihnen ist dadurch etwas gelungen, das ich zuvor noch nie in dieser Form in Deutschland gesehen habe.

DFB.de: Was?

Menotti: Bei der WM 2006 habe ich diese Begeisterung gespürt. Obwohl die Mannschaft nicht Weltmeister wurde, waren die Deutschen stolz auf ihr Team. All die neuen wunderschönen und vollen Stadien, die deutschen Fahnen in den Fenstern und an den Autos. Das war der Moment, in dem sich Deutschland in das Fußball-Spektakel verliebte und nicht mehr nur seiner Effizienz vertraute. Ich habe noch nie ein solch riesiges Straßenfest gesehen. Ich glaube, seitdem ist es in Deutschland nicht nur wichtig, die eigene Mannschaft siegen zu sehen. Die Menschen gehen auch ins Stadion, um ein Spektakel zu erleben.

DFB.de: Also: Erlebnis und Ergebnis?

Menotti: Das ist die Botschaft von Jürgen Klinsmann aus dem Jahr 2006. Manchmal gibt es eine Generation von Spielern wie Maradona oder Messi, die für einen Qualitätssprung sorgen. Aber in diesem Fall, der Entwicklung Deutschlands, scheint es mir, wir müssen eher von einer Revolution des guten Geschmacks sprechen. Deutschland hat nicht diesen einen exzellenten Individualisten, sondern viele sehr gute Spieler und vor allem eine großartige Mannschaft.

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DFB.de: Welche Bedeutung messen Sie in dieser Entwicklung Bundestrainer Joachim Löw bei?

Menotti: Ich habe ihn in der Zeit kennengelernt, als Klinsmann Trainer war. Für mich ist er der Hauptverantwortliche für die jüngste Entwicklung des deutschen Fußballs, denn er hat den Mut, überhaupt so spielen zu lassen. Das verdient meinen ganzen Respekt.

DFB.de: Der 7:1-Sieg der deutschen Nationalmannschaft im WM-Halbfinale 2014 gegen Gastgeber Brasilien gilt als eines der besten Spiele der DFB-Auswahl in ihrer Geschichte. Manche sprechen von einem fußballerischen Kunstwerk.

Menotti: Die Schönheit in der Kunst wird nicht in der Anstrengung geboren, nicht in der Suche des Künstlers. Picasso hat nicht gemalt, um schön zu malen. Kein Musiker spielt wunderschöne Melodien, weil er das einfach nur will. Die Schönheit wird durch das besondere Talent und die Fähigkeit, dieses Talent auch richtig einsetzen zu können, geboren. Die großen Orchester entstehen durch die Probe und das Wissen um eine gute Zusammenstellung. Da sieht man den Unterschied in der Konstruktion eines Spiels. Es hat mich nicht überrascht, dass Deutschland eine solche Schönheit in seinem Spiel erreicht hat.

DFB.de: Und Brasilien?

Menotti: Die Brasilianer standen unter dem enormen Druck des Gewinnen-müssens um jeden Preis, und sie sind auf eine Mannschaft getroffen, die gekommen war, um zunächst einmal gut zu spielen. Und wenn solche Mannschaften ein Tor gegen Dich erzielen, dann treffen diese Mannschaften oft auch zwei-, dreimal. Manchmal sagen die Journalisten hier, Deutschland hätte seine Überlegenheit in diesem Spiel missbraucht. Aber ich antworte dann: Ihr seid Idioten. Ich habe niemals eine Mannschaft zuvor gesehen, die so ernst und seriös weitergespielt hat, trotz einer 5:0-Führung. Die Deutschen haben nicht mal einen Beinschuss versucht. Das ist nicht allein die Schuld der Deutschen, wenn sie siebenmal treffen. Was erwartest Du, dass sie nach zwei Toren aufhören?

DFB.de: Der Heimvorteil war für die Brasilianer keiner, so schien es jedenfalls.

Menotti: Nun, es ist das zweite Mal das Brasilien im eigenen Land eine WM nicht gewonnen hat. Normalerweise sagt man, dass ein Gastgeber immer einen Vorteil hat. Aber ich glaube das nicht. Vielleicht wenn eine WM in Chile stattfindet, weil Chile nicht zu den Favoriten zählt und deswegen unbelastet aufspielen kann. Aber für Nationen wie Spanien oder Italien, die eine WM ausgerichtet haben, war das ein zu großer Druck, für Brasilien auch. Das Spiel zwischen Deutschland und Brasilien hat mich an einen Boxkampf erinnert, zwischen einem Papa und seinem vierjährigen Sohn. Wenn Du 3:0 führst, bist Du niemals müde, wenn Du aber 0:4 zurückliegst, dann sind Deine Beine unheimlich schwer und Du kannst nicht mal mehr richtig laufen. In einem solchen Spiel wünscht Du Dir, Du wärst weit weg, am liebsten in Uganda oder so.

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DFB.de: Spüren Sie eine Veränderung des Weltfußballs durch den deutschen Titelgewinn 2014?

Menotti: Der spektakuläre Fußball, den zum Beispiel Barcelona spielt oder Deutschland, ist tatsächlich dabei, die Kultur zu verändern. Italien zum Beispiel ist bereit, seine Art Fußball zu spielen zu verändern, weil es sieht, dass Deutschland und Barcelona alles gewonnen haben. Und das obwohl sie den Catenaccio ja praktisch mit ihrer DNA vererben.

DFB.de: Mit all ihrer Erfahrung: Welche Eigenschaften muss ein Trainer mitbringen?

Menotti: Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Aber ein guter Trainer braucht vor allem Know-how. Ich weiß nicht, ob es einen guten Trainer auszeichnet, wenn er Spieler bestraft, die statt um 8 Uhr morgens erst um 8.10 Uhr auf dem Trainingsplatz erscheinen. Oder ob es ihn zu einem guten Trainer macht, sich besonders aggressiv am Spielfeldrand zu verhalten oder zu schreien, damit die Leute sagen: Der Mann hat Autorität. Ein Profi akzeptiert und unterwirft sich nur Know-how. Ein Trainer muss wissen, wie man einen Spieler, selbst wenn er Lionel Messi heißt, noch ein bisschen besser machen kann. Das ist die Kernaufgabe eines Trainers, die Fähigkeit, Spieler zu verbessern und zu korrigieren. Manchmal redet alle Welt davon, welche Systeme gespielt werden sollen, ob 4-3-3 oder 4-1-4-1. Das kommt mir manchmal so vor, als ginge es darum, Telefonnummern auswendig zu lernen.

DFB.de: Worum geht es dann?

Menotti: Der Fußball ist im Prinzip sehr einfach, er besteht aus vier Grundeigenschaften: Verteidigung, Balleroberung, Spielentwicklung und Abschluss. Es gilt, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Die Aufgabe eines Trainers ist es, die Spieler zu entwickeln. Wer das schafft, ist ein guter Trainer.

DFB.de: Argentinien stand 2014 gegen Deutschland im WM-Finale, doch der Fußball im Land macht keine einfache Zeit durch. In der WM-Qualifikation läuft es nicht besonders, nach wie vor fokussiert sich alles auf Messi. Auch den Vereinen ging es schon besser. Wie fällt Ihr Blick in die Zukunft aus?

Menotti: Die Zukunft unseres Fußballs hängt davon ab, ob sie seine Organisation in den Griff kriegen. Wenn nicht, dann wird es noch schlimmer als es jetzt schon ist, denn im Moment gibt es keine klaren Regeln, kann ein Klub auch 100 Millionen Dollar Schulden haben und immer noch mehr Spieler kaufen und weiter Schulden machen. So ist das in Unternehmen, die niemand kontrolliert. Und wenn man über Fußball spricht, dann muss man auch definieren, was Fußball überhaupt ist, denn viele Leute denken, das ist Messi, das ist Guardiola und dass alle 20 Millionen verdienen. Hier gibt es aber Spieler, die verdienen vielleicht 250, 300 Euro im Monat, und das reicht nicht einmal um den Bus zu bezahlen, um zum Training zu kommen. Und wer hat das alles autorisiert? Die Mittelmäßigkeit in den Führungsetagen. Sie verfügen nicht über die notwendige Kompetenz, sie haben keine Vision und kein Verständnis davon, was den Fußball in Argentinien kennzeichnet.

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DFB.de: Ist das auch eine kulturelle Frage?

Menotti: Sicher, für die große Show brauchst du große Künstler. Aber auch die große Bühne. Und in Argentinien gibt es die großen Bühnen nur in den Träumen und irgendwelchen Versprechen. Das ist nicht wie in Deutschland, wo sie von einer WM kommen und dann gleich mit dem Neuaufbau anfangen, wo Du in neue Stadien kommst und gleich da bleiben willst. Wir sind da anders. In Argentinien basiert alles auf der Leidenschaft der Leute, auf ein paar Unternehmern. Früher war es so, dass sie die Bars und Cafés während der Spiele zugeschlossen haben, weil alle Menschen im Stadion waren. Heute gehen die Menschen in die Kneipe, wenn River spielt und schauen sich im Fernsehen das Spiel von Mannschaften an, die immer schlechter werden. All das zerstört den einheimischen Fußball, die argentinische Liga. Dabei gibt es eine ganze Menge Talente, die sehr hungrig sind zu lernen.

DFB.de: Kommen die denn auch ganz oben an?

Menotti: Manchmal spielt ein Junge von 13, vielleicht auch 15, 16, 17 Jahren zwei gute Spiele und dann wird er gleich nach Europa vermittelt. Ohne richtige Ausbildung. Und viele dieser Spieler bleiben dann zwei, drei Jahre in Europa – ohne dass sie einen Schritt vorwärts kommen. Wenn sie Glück haben, treffen sie auf gute Trainer. Wenn sie Pech haben, verschwinden sie in der Versenkung. Das ist wie eine Lotterie des Lebens. Wären unsere Vereine Firmen, dann wären sie alle pleite und von der Bildfläche verschwunden. Es gibt nicht einen Verein, der innerhalb seines Budgets bleibt. Das macht es sehr schwierig für Talente, in Argentinien eine nachhaltige Entwicklung zu nehmen.

DFB.de: Die Probleme sind also vor allem struktureller Art.

Menotti: Schauen Sie sich doch mal an, wo unsere Nationalmannschaft inzwischen spielt, wenn es keine WM-Qualifikationsspiele gibt. Dann spielen wir gegen Haiti in den USA. Das wäre so, als würde Deutschland gegen Singapur in Neuseeland spielen. Das ist keine gute Entwicklung und entwurzelt den Fußball. Sie machen das so, weil sie Messi haben. Und ihn kann man dem Fernsehen am besten verkaufen. Alles andere ist egal. Das hat zu einer Entkultivierung des Fußballs geführt. Und alles ist dem Inferno des Erfolgs untergeordnet. Hat nicht Diego Simeone gesagt, dass der zweite Platz nichts zählt und man sich ein Messer zwischen die Zähne stecken müsse, wenn man auf den Platz geht? In Argentiniens Fußball seit Mitte der 80er geht es nur noch darum zu gewinnen. Es gibt keine Botschaft, die idiotischer oder perverser ist, als die, dass der zweite Platz nichts wert ist.