Martin Reim: "Wollen das Spiel genießen"

Martin Reim ist schon lange dabei, als Spieler und als Trainer, doch ein Spiel gegen Deutschland hat er noch nie erlebt. Im Interview mit DFB.de spricht der 48-Jährige über die Entwicklung des Fußballs in Estland, über seinen Superstar, das DFB-Team und das große Ziel Turnierteilnahme.

DFB.de: Sie haben 157 Länderspiele absolviert, sind jetzt seit knapp drei Jahren Nationaltrainer und treffen zum ersten Mal auf Deutschland. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in dieses Spiel?

Martin Reim: Es ist natürlich für eine so kleine Nation, wie wir es sind, etwas Außergewöhnliches, gegen eine der größten Mannschaften zu spielen. Für mich ist es das erste Mal gegen Deutschland, das größte Spiel überhaupt. Das einzige Spiel, das ich damit vergleichen würde, war unser Auswärtsspiel in Belgien – und wir alle wissen, wie das für uns ausging (Estland verlor im November 2016 mit 1:8, d. Red.). Aber wir haben daraus gelernt und können uns jetzt, so glaube ich, mit einem starken Team messen, das obendrein die eigenen Fans im Rücken hat. Der Druck liegt nicht auf unserer Seite, wir wollen das Spiel, so gut es geht, genießen und werden unser Bestes geben. Estlands Spieler können gegen einen solchen Gegner, der zu den besten der Welt gehört, zeigen, wie weit und wie gut sie sind.

DFB.de: Haben Sie eine bestimmte Idee, eine Philosophie, wie Sie mit Ihrer Mannschaft spielen wollen?

Reim: Die haben wir natürlich grundsätzlich, aber die Frage ist eben auch, inwieweit wir uns in so einem Spiel daran halten können. Wir werden unseren Plan sicherlich auch am Gegner ausrichten müssen.

DFB.de: Welche Rolle spielt der Fußball generell in Estland?

Reim: Unsere Fußballkultur ist so jung wie unser Land, sie entwickelt sich noch. Aber wir werden Stück für Stück besser, bei Kindern und Jugendlichen ist Fußball mehrheitlich die erste Wahl und auch generell gibt es keinen beliebteren Sport in unserem Land als Fußball. Und doch sind wir weit von der Situation entfernt, wie sie in Deutschland ist – viele Menschen bei uns spielen gerne Fußball, aber finden nicht so oft den Weg in unsere Stadien. Wir können uns auf vielen Ebenen verbessern, zum Beispiel, was unsere Infrastruktur oder unsere Trainerausbildung angeht. Ich hoffe, dass noch bessere Zeiten vor uns liegen.

DFB.de: Sie waren selbst einige Jahre Jugendtrainer, haben sogar eine eigene Akademie gegründet. Welches Potenzial hat der estnische Fußball aus Ihrer Sicht?

Reim: Wir haben nicht einmal 1,5 Millionen Einwohner, dadurch sind uns gewisse Grenzen gesetzt. Klar ist: Wenn wir als kleines Land mithalten wollen, müssen wir kluge Entscheidungen treffen und uns anschauen, wie es andere kleine Nationen geschafft haben. Dafür braucht es gewiss auch Investitionen von Seiten des Staates oder der Kommunen. Sie müssen den Fußball unterstützen, wenn sie wollen, dass wir erfolgreich sind. Und wir müssen unsere jungen Spieler besser ausbilden. Es bei uns in eine Junioren-Nationalmannschaft zu schaffen, ist bei Weitem nicht so schwierig wie bei Ihnen in Deutschland. Da brauchen wir mehr Wettbewerb.

DFB.de: 2012 stand Estland auf Platz 47 der FIFA.-Weltrangliste, inzwischen nur auf Platz 96. Wie lässt sich dies erklären?

Reim: Wir hatten damals eine großartige Spielergeneration, es war eine gute Chemie, ein guter Geist in der Mannschaft, und viele Spieler hatten Schlüsselpositionen in ihren Vereinen inne. Wir hatten gehofft, dass die Übergangsphase zu einer ähnlichen Generation kürzer sein würde, doch wir hatten einige Jahre am Stück, in denen aus unseren Nachwuchsteams zu wenige Spieler kamen, die uns weiterbrachten. Ragnar Klavan ist eine Ausnahme, ansonsten haben wir im Moment auch zu wenige Spieler, die in Top-Ligen unter Vertrag stehen. Das alles führt dazu, dass wir in unserer Entwicklung noch nicht da sind, wo wir gerne wären.

DFB.de: Wie konkret ist die Hoffnung, einmal bei einem großen Turnier dabei sein zu können – so wie es zum Beispiel 2004 Ihr Nachbar Lettland geschafft hat?

Reim: Glauben Sie mir oder nicht: Aber es ist realistisch. Es mag vielleicht in dieser Qualifikation noch ein unrealistisches Ziel sein, auch weil die Gruppe sehr stark ist. Aber man weiß nie, was passiert, wenn man mal gegen eine starke Mannschaft spielt, die einen schlechten Tag hat. Dann müssen wir da sein. In der Qualifikation zur Europameisterschaft 2012 haben wir es schon mal in die Playoffs geschafft, sind in unserer Gruppe Zweiter geworden vor Serbien, Slowenien und Nordirland. Und wir sollten nicht vergessen, dass sich uns über die UEFA Nations League eine zusätzliche Chance bietet, uns für ein großes Turnier zu qualifizieren.

DFB.de: Bislang haben es nur wenige estnische Spieler in eine große europäische Liga geschafft. Wem trauen Sie einen ähnlichen Werdegang zu wie zum Beispiel Ragnar Klavan?

Reim: Ich nenne nie Namen in diesem Zusammenhang, und es wird auch nie um einen einzelnen Spieler gehen. Es müssen auch gar nicht die größten Ligen sein. Wenn wir einige Spieler zum Beispiel in der Eredivisie oder einer Liga auf vergleichbarem Niveau hätten, würde mir das schon gefallen.

DFB.de: Durch Klavans Zeit beim FC Augsburg hatten Sie den Fußball bei uns über Jahre besonders im Blick. Welchen Eindruck haben Sie vom deutschen Fußball – bezogen auf Liga und Nationalmannschaft?

Reim: Um es kurz zu sagen: Der deutsche Fußball ist beeindruckend! Es ist wunderbar, zu sehen, wie beliebt die Bundesliga in Deutschland ist; das macht die Liga enorm attraktiv, auch für die Spieler. Für meinen Geschmack sind die Bayern allerdings etwas zu dominant, auch wenn das Titelrennen in diesem Jahr durchaus spannend war. Sind die Bayern gut, ist auch die Nationalmannschaft gut – und umgekehrt. Um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen neidisch auf die große Auswahl an Spielern, die Joachim Löw zur Verfügung steht. Es ist deshalb auch gar nicht so einfach, sich auf solch ein Spiel vernünftig vorzubereiten, Deutschland hat einfach so viele Optionen und sogar die Möglichkeit, dem einen oder anderen Top-Spieler eine Pause zu geben – und selbst dann ist diese Mannschaft noch herausragend.

DFB.de: Als Spieler waren Sie eine Zeit lang in Finnland. Würde es Sie auch reizen, mal im Ausland zu trainieren?

Reim: Jeder Trainer hat seine Ziele. Ich habe mich derzeit zu 100 Prozent meiner Aufgabe in Estland verschrieben. Wenn du zu weit nach vorne blickst, schöpfst du dein Potenzial in deiner aktuellen Aufgabe nicht aus.

DFB.de: Neben Ihrer Fußballkarriere haben Sie in Tallinn einen Universitätsabschluss in Materialtechnologie gemacht. War das für Sie eine Absicherung, falls es nichts mit einem Job im Fußball werden sollte, oder hatten Sie tatsächlich vor, in diesem Beruf zu arbeiten?

Reim: Ich habe in den späten 80ern die Schule abgeschlossen, und damals war die einzige Nationalmannschaft, für die ich hätte spielen können, die sowjetische. Diese zu erreichen, erschien mir ziemlich unrealistisch. Meine Entscheidung, mein Leben auf den Fußball auszurichten, fiel erst später. Die Fakultät für Chemie war damals sehr beliebt, ich entschied mich für Materialtechnologie und spezialisierte mich später in Richtung Zellstoff- und Papierindustrie. Es war eine bewusste Entscheidung, aber ich würde es nicht ein "Sicherheitsnetz" nennen für den Fall, dass es mit der Fußballkarriere nichts wird. Vor dieser Entscheidung stand ich damals nämlich gar nicht.

DFB.de: Später hatten Sie dann doch die Entscheidungsmöglichkeit und haben auf die Karte Fußball gesetzt. Würden Sie das heute wieder tun?

Reim: Ganz sicher!

[gt]

Martin Reim ist schon lange dabei, als Spieler und als Trainer, doch ein Spiel gegen Deutschland hat er noch nie erlebt. Im Interview mit DFB.de spricht der 48-Jährige über die Entwicklung des Fußballs in Estland, über seinen Superstar, das DFB-Team und das große Ziel Turnierteilnahme.

DFB.de: Sie haben 157 Länderspiele absolviert, sind jetzt seit knapp drei Jahren Nationaltrainer und treffen zum ersten Mal auf Deutschland. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in dieses Spiel?

Martin Reim: Es ist natürlich für eine so kleine Nation, wie wir es sind, etwas Außergewöhnliches, gegen eine der größten Mannschaften zu spielen. Für mich ist es das erste Mal gegen Deutschland, das größte Spiel überhaupt. Das einzige Spiel, das ich damit vergleichen würde, war unser Auswärtsspiel in Belgien – und wir alle wissen, wie das für uns ausging (Estland verlor im November 2016 mit 1:8, d. Red.). Aber wir haben daraus gelernt und können uns jetzt, so glaube ich, mit einem starken Team messen, das obendrein die eigenen Fans im Rücken hat. Der Druck liegt nicht auf unserer Seite, wir wollen das Spiel, so gut es geht, genießen und werden unser Bestes geben. Estlands Spieler können gegen einen solchen Gegner, der zu den besten der Welt gehört, zeigen, wie weit und wie gut sie sind.

DFB.de: Haben Sie eine bestimmte Idee, eine Philosophie, wie Sie mit Ihrer Mannschaft spielen wollen?

Reim: Die haben wir natürlich grundsätzlich, aber die Frage ist eben auch, inwieweit wir uns in so einem Spiel daran halten können. Wir werden unseren Plan sicherlich auch am Gegner ausrichten müssen.

DFB.de: Welche Rolle spielt der Fußball generell in Estland?

Reim: Unsere Fußballkultur ist so jung wie unser Land, sie entwickelt sich noch. Aber wir werden Stück für Stück besser, bei Kindern und Jugendlichen ist Fußball mehrheitlich die erste Wahl und auch generell gibt es keinen beliebteren Sport in unserem Land als Fußball. Und doch sind wir weit von der Situation entfernt, wie sie in Deutschland ist – viele Menschen bei uns spielen gerne Fußball, aber finden nicht so oft den Weg in unsere Stadien. Wir können uns auf vielen Ebenen verbessern, zum Beispiel, was unsere Infrastruktur oder unsere Trainerausbildung angeht. Ich hoffe, dass noch bessere Zeiten vor uns liegen.

DFB.de: Sie waren selbst einige Jahre Jugendtrainer, haben sogar eine eigene Akademie gegründet. Welches Potenzial hat der estnische Fußball aus Ihrer Sicht?

Reim: Wir haben nicht einmal 1,5 Millionen Einwohner, dadurch sind uns gewisse Grenzen gesetzt. Klar ist: Wenn wir als kleines Land mithalten wollen, müssen wir kluge Entscheidungen treffen und uns anschauen, wie es andere kleine Nationen geschafft haben. Dafür braucht es gewiss auch Investitionen von Seiten des Staates oder der Kommunen. Sie müssen den Fußball unterstützen, wenn sie wollen, dass wir erfolgreich sind. Und wir müssen unsere jungen Spieler besser ausbilden. Es bei uns in eine Junioren-Nationalmannschaft zu schaffen, ist bei Weitem nicht so schwierig wie bei Ihnen in Deutschland. Da brauchen wir mehr Wettbewerb.

DFB.de: 2012 stand Estland auf Platz 47 der FIFA.-Weltrangliste, inzwischen nur auf Platz 96. Wie lässt sich dies erklären?

Reim: Wir hatten damals eine großartige Spielergeneration, es war eine gute Chemie, ein guter Geist in der Mannschaft, und viele Spieler hatten Schlüsselpositionen in ihren Vereinen inne. Wir hatten gehofft, dass die Übergangsphase zu einer ähnlichen Generation kürzer sein würde, doch wir hatten einige Jahre am Stück, in denen aus unseren Nachwuchsteams zu wenige Spieler kamen, die uns weiterbrachten. Ragnar Klavan ist eine Ausnahme, ansonsten haben wir im Moment auch zu wenige Spieler, die in Top-Ligen unter Vertrag stehen. Das alles führt dazu, dass wir in unserer Entwicklung noch nicht da sind, wo wir gerne wären.

DFB.de: Wie konkret ist die Hoffnung, einmal bei einem großen Turnier dabei sein zu können – so wie es zum Beispiel 2004 Ihr Nachbar Lettland geschafft hat?

Reim: Glauben Sie mir oder nicht: Aber es ist realistisch. Es mag vielleicht in dieser Qualifikation noch ein unrealistisches Ziel sein, auch weil die Gruppe sehr stark ist. Aber man weiß nie, was passiert, wenn man mal gegen eine starke Mannschaft spielt, die einen schlechten Tag hat. Dann müssen wir da sein. In der Qualifikation zur Europameisterschaft 2012 haben wir es schon mal in die Playoffs geschafft, sind in unserer Gruppe Zweiter geworden vor Serbien, Slowenien und Nordirland. Und wir sollten nicht vergessen, dass sich uns über die UEFA Nations League eine zusätzliche Chance bietet, uns für ein großes Turnier zu qualifizieren.

DFB.de: Bislang haben es nur wenige estnische Spieler in eine große europäische Liga geschafft. Wem trauen Sie einen ähnlichen Werdegang zu wie zum Beispiel Ragnar Klavan?

Reim: Ich nenne nie Namen in diesem Zusammenhang, und es wird auch nie um einen einzelnen Spieler gehen. Es müssen auch gar nicht die größten Ligen sein. Wenn wir einige Spieler zum Beispiel in der Eredivisie oder einer Liga auf vergleichbarem Niveau hätten, würde mir das schon gefallen.

DFB.de: Durch Klavans Zeit beim FC Augsburg hatten Sie den Fußball bei uns über Jahre besonders im Blick. Welchen Eindruck haben Sie vom deutschen Fußball – bezogen auf Liga und Nationalmannschaft?

Reim: Um es kurz zu sagen: Der deutsche Fußball ist beeindruckend! Es ist wunderbar, zu sehen, wie beliebt die Bundesliga in Deutschland ist; das macht die Liga enorm attraktiv, auch für die Spieler. Für meinen Geschmack sind die Bayern allerdings etwas zu dominant, auch wenn das Titelrennen in diesem Jahr durchaus spannend war. Sind die Bayern gut, ist auch die Nationalmannschaft gut – und umgekehrt. Um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen neidisch auf die große Auswahl an Spielern, die Joachim Löw zur Verfügung steht. Es ist deshalb auch gar nicht so einfach, sich auf solch ein Spiel vernünftig vorzubereiten, Deutschland hat einfach so viele Optionen und sogar die Möglichkeit, dem einen oder anderen Top-Spieler eine Pause zu geben – und selbst dann ist diese Mannschaft noch herausragend.

DFB.de: Als Spieler waren Sie eine Zeit lang in Finnland. Würde es Sie auch reizen, mal im Ausland zu trainieren?

Reim: Jeder Trainer hat seine Ziele. Ich habe mich derzeit zu 100 Prozent meiner Aufgabe in Estland verschrieben. Wenn du zu weit nach vorne blickst, schöpfst du dein Potenzial in deiner aktuellen Aufgabe nicht aus.

DFB.de: Neben Ihrer Fußballkarriere haben Sie in Tallinn einen Universitätsabschluss in Materialtechnologie gemacht. War das für Sie eine Absicherung, falls es nichts mit einem Job im Fußball werden sollte, oder hatten Sie tatsächlich vor, in diesem Beruf zu arbeiten?

Reim: Ich habe in den späten 80ern die Schule abgeschlossen, und damals war die einzige Nationalmannschaft, für die ich hätte spielen können, die sowjetische. Diese zu erreichen, erschien mir ziemlich unrealistisch. Meine Entscheidung, mein Leben auf den Fußball auszurichten, fiel erst später. Die Fakultät für Chemie war damals sehr beliebt, ich entschied mich für Materialtechnologie und spezialisierte mich später in Richtung Zellstoff- und Papierindustrie. Es war eine bewusste Entscheidung, aber ich würde es nicht ein "Sicherheitsnetz" nennen für den Fall, dass es mit der Fußballkarriere nichts wird. Vor dieser Entscheidung stand ich damals nämlich gar nicht.

DFB.de: Später hatten Sie dann doch die Entscheidungsmöglichkeit und haben auf die Karte Fußball gesetzt. Würden Sie das heute wieder tun?

Reim: Ganz sicher!

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