Löw über das 7:1: "In diesem Spiel ging alles auf"

Am 8. Juli 2014 haben sich zwei Zahlen ins kollektive Fußballgedächtnis gebrannt: sieben und eins. Das Halbfinale der WM 2014 wurde zu einem Spiel für die Geschichtsbücher. Deutschland überrollte Gastgeber Brasilien, niemand, der die 90 Minuten in Belo Horizonte gesehen hat, wird diesen Abend je vergessen. Auch nicht Bundestrainer Joachim Löw, der sich für DFB.DE an eine magische Nacht erinnert.

So etwas erlebt man nur einmal. Mit diesem Ergebnis, in diesem Land, gegen diesen Gegner, mit dieser Art und Weise. Die Halbfinals großer Turniere sind in der Regel hart umkämpft und spannend bis zum Schluss. Dieses Halbfinale war auch dramatisch, aber eben auf eine ganz andere Art.

Der Fokus meiner Spieler war mehr als beeindruckend, sie haben sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Nicht im Spiel und auch nicht durch die Ereignisse im Vorfeld. Als wir am Tag vor dem Spiel in Belo Horizonte ankamen, gab es große Aufregung. Beim Abendessen kam der Verdacht auf, dass uns etwas ins Essen getan wurde. Zum Glück hat sich das nicht bestätigt. In der Nacht dann wurde es laut. Vor unserem Hotel wurden Raketen und Böller gezündet. Es war ein schönes Spektakel, zwei, drei Stunden lang war an Schlaf nicht zu denken.

Doch als wir uns am Morgen zum Frühstück trafen, war nichts davon ein Thema. Niemand hat darüber gesprochen, kein Wort wurde dazu verloren. Für das Spiel am Abend gab mir das große Zuversicht. In den Gesprächen mit den Spielern hatte ich den Eindruck, dass sie das alles gar nicht interessiert, sie hat nur interessiert, dass sie dieses Spiel gewinnen und ins Finale einziehen. Alles andere haben sie ausgeblendet.

Als die Brasilianer am Abend ins Stadion in Belo Horizonte liefen und als ihre Hymne erklang, war die Atmosphäre gigantisch, es war innbrünstig, laut, es war vehement. Auch die Brasilianer hatten einen riesigen Willen, eine große Klarheit. Vor dem Spiel hatte Trainer Luiz Felipe Scolari in der Pressekonferenz keine Zweifel gelassen. Er hat nicht gesagt, wir wollen gewinnen, hat er hat gesagt: "Wir werden gewinnen." Es sei sicher, hat er gesagt, "wir kommen nach Maracana, wir kommen ins Finale, wir gewinnen dieses Spiel".

Siegenthalers Sicht

Wenn ich über das Spiel gegen Brasilien schreibe, muss und will ich Urs Siegenthaler nennen. Urs hat Brasilien vor dem Turnier ein paar Mal gesehen und er hat sie auch während der WM beobachtet. Nach dem Viertelfinale der Brasilianer gegen Chile kam er noch einmal zu mir und fasste zusammen, was ihm aufgefallen ist.

Wir gingen am Strand vor dem Campo Bahia spazieren, an seine Worte erinnere ich mich genau. Brasilien sei "grottenschlecht" in der Defensive, hat Urs gesagt. Von dieser Einschätzung hat er sich auch durch mein mehrmaliges Nachfragen nicht abbringen lassen. Urs war sich ganz sicher: So schlecht, wie die aktuelle Selecao, habe eine brasilianische Nationalmannschaft noch nie verteidigt.

Ich hatte die Mannschaft auch ein paar Mal gesehen und ja, in der Defensive waren sie anfällig. "Die sind nicht anfällig", hat Urs gesagt, "die sind einfach richtig schlecht." Seine Beobachtung war, dass die Außenverteidiger permanent vorne stehen, dass auch David Luiz häufig ungesichert aufrückt und es dadurch riesige Lücken gibt. Dass die Gegner der Brasilianer das noch nicht ausnutzen konnten, hat Urs auf zwei Faktoren zurückgeführt: Glück auf der einen Seite und fehlende Konsequenz auf der anderen Seite. Urs hat gesagt, dass Brasilien sich dieser Schwäche bewusst sei und ihr Defensivkonzept im Wesentlichen darin bestehe, nach Ballverlusten sofort zu foulen und das Spiel zu unterbrechen. Sie hätten nicht die Ambition, Zweikämpfe zu führen und den Ball zurückzugewinnen, für sie gehe es nur darum, das Spiel zu unterbinden.

So haben wir die Mannschaft vorbereitet. Wir haben den Spielern die vielen Räume gezeigt, die wir bespielen können und ihnen auch gesagt, wie sie das machen müssen. Es ging darum, sich blitzschnell zu lösen und den Brasilianern nach Ballgewinn nicht die Möglichkeit zu geben, zu foulen. Es ging darum, auf den Beinen zu bleiben, die Fouls nicht anzunehmen. Es ging darum, minimale Ballkontaktzeiten zu haben und sofort in die Räume zu starten. Es ging um den Automatismus, sich nach Ballgewinn blitzschnell in vollem Tempo nach vorne zu lösen.

"In diesem Spiel ging alles auf"

Manchmal gehen Matchpläne auf, manchmal auch nicht. In diesem Spiel ging alles auf. Brasilien hatte in den ersten Minuten eine unglaubliche Wucht, aber das war nicht überraschend. Uns war klar, dass wir die ersten fünf, zehn Minuten irgendwie überstehen mussten. Diese Wucht und diesen Drang der Brasilianer wollten wir für uns nutzen. Wir haben den Spielern gesagt, wenn sie so kommen, genau dann gibt es für uns Räume. Und: Sie kamen - es gab Räume – wir haben sie genutzt.

Das 1:0 ist aus einem Eckball resultiert, das hat uns natürlich in die Karten gespielt. Brasilien hat danach aber einfach weitergemacht - blind nach vorne. Beim 2:0, 3:0 und 4:0 waren es genau solche Situationen, die wir vorher beobachtet und den Spielern gezeigt hatten. Wie am Reißbrett. Es war, wie Urs es prophezeit hatte: Wenn die Brasilianer nach Ballverlust nicht sofort Zugriff bekommen, dann ist es für sie im Grunde zu spät. Dann hatten sie hinten nur noch die beiden Innenverteidiger - und wir hatten die Qualität, unsere Überzahl auszuspielen. Die Tore zwei, drei, vier und fünf fielen innerhalb von sechs Minuten, es war unwirklich, unfassbar.

Trotzdem: Die Situation war gefährlich. In der Halbzeit bin ich so deutlich geworden wie selten zuvor. Ich habe den Spielern gedroht: Wer nicht seriös weiterspielt, der spielt das Finale nicht. Mir ging es um zwei Aspekte: Respekt vor dem Gegner und vor der großen Fußballnation Brasilien, Kunststücke und Aktionen für die Galerie wollte ich nicht sehen. Respekt aber nicht nur vor der Tradition, sondern auch vor der Gegenwart und unserer Situation. Das 4:4 gegen Schweden wirkte in mir noch nach. Gegen Schweden hatten wir vier Tore in 30 Minuten kassiert. Und jetzt spielten wir in Brasilien gegen Brasilien.

Ich konnte fast hören, was Scolari seinen Spielern in der Kabine in der Halbzeit sagen würde: 'Abhaken, die erste Halbzeit ist verloren, weiter gehts. Wir haben nichts mehr zu verlieren, wir haben keinen Druck mehr, der Druck ist jetzt bei den Deutschen. Wenn wir in den ersten zehn Minuten ein Tor machen, dann kann alles noch kippen. Dann werden sie nervös.'

"... dann spielt er im Finale nicht"

Ich bin sicher, dass Scolari seinen Spielern gesagt hat, dass sie die fünf Tore vergessen sollen. 'Wir müssen nicht fünf Tore schießen', wird Scolari gesagt haben, 'das Stadion hilft uns. Wenn wir kurz vor Ende zwei Tore hinten sind, dann reicht das. Dann kocht das Stadion, dann fangen die Deutschen an, nachzudenken und irgendwann können sie dem Druck nicht mehr standhalten.'

Deswegen war ich energisch in der Halbzeit. Ich habe gesagt: "Leute, ich beobachte das. Wenn einer anfängt, den Gegner lächerlich zu machen und uns damit in Schwierigkeiten bringt, dann spielt er das Finale nicht. Egal, wer das ist."

7:1, das klingt deutlich, es ist auch deutlich. Es war aber so, dass Brasilien kurz nach dem Seitenwechsel zwei, drei gute Möglichkeiten hatte. Wir hatten zum Glück Manu, der immer zur Stelle war. So haben wir auch diese Phase überstanden und das Spiel dann, genau wie wir es wollten, seriös zu Ende gespielt.

Was noch wichtiger war: Wir waren faire Gewinner, so wie die Brasilianer auch faire Verlierer waren. Nach dem Spiel gab es bei uns keine Überheblichkeit, keine Arroganz, es gab nur Respekt, Anstand und Empathie. Einige unserer Spieler hatten ähnliche Empfindungen und Gedanken, wie ich sie hatte. In mir kam die Erinnerung an die WM 2006 auf. Das Gefühl, wie es ist, ein WM-Halbfinale im eigenen Land zu verlieren, kannten wir. Philipp LahmBastian SchweinsteigerPer MertesackerLukas Podolski und Miro Klose standen 2006 in Dortmund gegen Italien auf dem Rasen, sie wussten, wie hart es ist, wenn ein Traum stirbt.

Ein WM-Finale zu erreichen - und das noch im eigenen Land - mehr geht nicht. Und es geht nicht schlimmer, als wenn dieser Traum zu Ende geht. Die Empfindungen der Brasilianer konnten wir nachvollziehen, wir wussten, was sich in ihren Köpfen und Herzen abspielt. Ich war an diesem Abend sehr stolz auf die Mannschaft und auf meine Spieler – fast noch mehr als auf das Sportliche darauf, wie sie sich in der Stunde des Sieges gegeben haben.

"Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt"

Die Rückreise in dieser Nacht ins Campo Bahia gehört zu den schönsten Erlebnissen meines Trainerlebens und meines Lebens überhaupt. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. 7:1, dass man ein Spiel auch auf eine solche Art und Weise gewinnt, war etwas, dass ich mir noch irgendwie hatte vorstellen können. Unvorstellbar war die Reaktion der Brasilianer. Nach dem Flug nach Salvador sind wir durch die Nacht und in den Morgen hinein mit dem Bus die Küste entlang ins Campo Bahia gefahren. Und der Wegesrand war gesäumt von Menschen in gelb, grün und blau, von Fans der Selecao. Frauen, Kinder und Männer standen dort. Und was haben diese Menschen, die gerade mit dem 1:7 einen gewaltigen Schlag zu verarbeiten hatten, gemacht? Es gab keine Feindseligkeit, keine Aggressivität – wir wurden gefeiert.

'Germania, Germania', haben sie gerufen. Ich räume ein, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Ich hatte Wut und Zorn erwartet, und ich hätte das nachvollziehen können. Immerhin hatten wir den Brasilianern gerade die wohl größte Niederlage ihrer Geschichte zugefügt, Buhrufe und Pfiffe hätte ich niemanden verübeln können. Heute tut mir diese Einschätzung leid. Diese Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt. Ich finde: Sie trifft auch eine Aussage über Charakter und Mentalität der Brasilianer. Sie war aber auch eine Reaktion darauf, dass wir faire Gewinner waren. Unsere Gesten nach dem Spiel hatten Wirkung. Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller haben sich um Dante gekümmert, Miro Klose war bei Luiz Gustavo, ich habe Felipe Scolari in den Arm genommen. Wir haben während des Spiels viel richtig gemacht - und nach dem Spiel genauso.

Beim Applaus durch die Brasilianer in dieser Nacht hat auch unsere Art des Fußballs eine Rolle gespielt. Als deutsche Nationalmannschaft hatten wir eine größere Akzeptanz als noch die Mannschaften der 80er-Jahre oder der um die Jahrtausendwende. Deutschland stand damals für Kampf, Willen und Effizienz und nicht für 'das schöne Spiel', das der Fußball für die Brasilianer ist. 2014 waren wir eine fußballerisch starke Mannschaft, die auf technisch hohem Niveau agierte. Unsere Spielkultur, Fußballer wie Özil und Kroos, das waren Spieler, für die sich auch Brasilianer begeistern konnten. Es kamen viele Aspekte zusammen, die in Summe dazu führten, dass wir durch ein Meer an Applaus zurück in unser Basecamp gefahren sind.

[dfb]

Am 8. Juli 2014 haben sich zwei Zahlen ins kollektive Fußballgedächtnis gebrannt: sieben und eins. Das Halbfinale der WM 2014 wurde zu einem Spiel für die Geschichtsbücher. Deutschland überrollte Gastgeber Brasilien, niemand, der die 90 Minuten in Belo Horizonte gesehen hat, wird diesen Abend je vergessen. Auch nicht Bundestrainer Joachim Löw, der sich für DFB.DE an eine magische Nacht erinnert.

So etwas erlebt man nur einmal. Mit diesem Ergebnis, in diesem Land, gegen diesen Gegner, mit dieser Art und Weise. Die Halbfinals großer Turniere sind in der Regel hart umkämpft und spannend bis zum Schluss. Dieses Halbfinale war auch dramatisch, aber eben auf eine ganz andere Art.

Der Fokus meiner Spieler war mehr als beeindruckend, sie haben sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Nicht im Spiel und auch nicht durch die Ereignisse im Vorfeld. Als wir am Tag vor dem Spiel in Belo Horizonte ankamen, gab es große Aufregung. Beim Abendessen kam der Verdacht auf, dass uns etwas ins Essen getan wurde. Zum Glück hat sich das nicht bestätigt. In der Nacht dann wurde es laut. Vor unserem Hotel wurden Raketen und Böller gezündet. Es war ein schönes Spektakel, zwei, drei Stunden lang war an Schlaf nicht zu denken.

Doch als wir uns am Morgen zum Frühstück trafen, war nichts davon ein Thema. Niemand hat darüber gesprochen, kein Wort wurde dazu verloren. Für das Spiel am Abend gab mir das große Zuversicht. In den Gesprächen mit den Spielern hatte ich den Eindruck, dass sie das alles gar nicht interessiert, sie hat nur interessiert, dass sie dieses Spiel gewinnen und ins Finale einziehen. Alles andere haben sie ausgeblendet.

Als die Brasilianer am Abend ins Stadion in Belo Horizonte liefen und als ihre Hymne erklang, war die Atmosphäre gigantisch, es war innbrünstig, laut, es war vehement. Auch die Brasilianer hatten einen riesigen Willen, eine große Klarheit. Vor dem Spiel hatte Trainer Luiz Felipe Scolari in der Pressekonferenz keine Zweifel gelassen. Er hat nicht gesagt, wir wollen gewinnen, hat er hat gesagt: "Wir werden gewinnen." Es sei sicher, hat er gesagt, "wir kommen nach Maracana, wir kommen ins Finale, wir gewinnen dieses Spiel".

Siegenthalers Sicht

Wenn ich über das Spiel gegen Brasilien schreibe, muss und will ich Urs Siegenthaler nennen. Urs hat Brasilien vor dem Turnier ein paar Mal gesehen und er hat sie auch während der WM beobachtet. Nach dem Viertelfinale der Brasilianer gegen Chile kam er noch einmal zu mir und fasste zusammen, was ihm aufgefallen ist.

Wir gingen am Strand vor dem Campo Bahia spazieren, an seine Worte erinnere ich mich genau. Brasilien sei "grottenschlecht" in der Defensive, hat Urs gesagt. Von dieser Einschätzung hat er sich auch durch mein mehrmaliges Nachfragen nicht abbringen lassen. Urs war sich ganz sicher: So schlecht, wie die aktuelle Selecao, habe eine brasilianische Nationalmannschaft noch nie verteidigt.

Ich hatte die Mannschaft auch ein paar Mal gesehen und ja, in der Defensive waren sie anfällig. "Die sind nicht anfällig", hat Urs gesagt, "die sind einfach richtig schlecht." Seine Beobachtung war, dass die Außenverteidiger permanent vorne stehen, dass auch David Luiz häufig ungesichert aufrückt und es dadurch riesige Lücken gibt. Dass die Gegner der Brasilianer das noch nicht ausnutzen konnten, hat Urs auf zwei Faktoren zurückgeführt: Glück auf der einen Seite und fehlende Konsequenz auf der anderen Seite. Urs hat gesagt, dass Brasilien sich dieser Schwäche bewusst sei und ihr Defensivkonzept im Wesentlichen darin bestehe, nach Ballverlusten sofort zu foulen und das Spiel zu unterbrechen. Sie hätten nicht die Ambition, Zweikämpfe zu führen und den Ball zurückzugewinnen, für sie gehe es nur darum, das Spiel zu unterbinden.

So haben wir die Mannschaft vorbereitet. Wir haben den Spielern die vielen Räume gezeigt, die wir bespielen können und ihnen auch gesagt, wie sie das machen müssen. Es ging darum, sich blitzschnell zu lösen und den Brasilianern nach Ballgewinn nicht die Möglichkeit zu geben, zu foulen. Es ging darum, auf den Beinen zu bleiben, die Fouls nicht anzunehmen. Es ging darum, minimale Ballkontaktzeiten zu haben und sofort in die Räume zu starten. Es ging um den Automatismus, sich nach Ballgewinn blitzschnell in vollem Tempo nach vorne zu lösen.

"In diesem Spiel ging alles auf"

Manchmal gehen Matchpläne auf, manchmal auch nicht. In diesem Spiel ging alles auf. Brasilien hatte in den ersten Minuten eine unglaubliche Wucht, aber das war nicht überraschend. Uns war klar, dass wir die ersten fünf, zehn Minuten irgendwie überstehen mussten. Diese Wucht und diesen Drang der Brasilianer wollten wir für uns nutzen. Wir haben den Spielern gesagt, wenn sie so kommen, genau dann gibt es für uns Räume. Und: Sie kamen - es gab Räume – wir haben sie genutzt.

Das 1:0 ist aus einem Eckball resultiert, das hat uns natürlich in die Karten gespielt. Brasilien hat danach aber einfach weitergemacht - blind nach vorne. Beim 2:0, 3:0 und 4:0 waren es genau solche Situationen, die wir vorher beobachtet und den Spielern gezeigt hatten. Wie am Reißbrett. Es war, wie Urs es prophezeit hatte: Wenn die Brasilianer nach Ballverlust nicht sofort Zugriff bekommen, dann ist es für sie im Grunde zu spät. Dann hatten sie hinten nur noch die beiden Innenverteidiger - und wir hatten die Qualität, unsere Überzahl auszuspielen. Die Tore zwei, drei, vier und fünf fielen innerhalb von sechs Minuten, es war unwirklich, unfassbar.

Trotzdem: Die Situation war gefährlich. In der Halbzeit bin ich so deutlich geworden wie selten zuvor. Ich habe den Spielern gedroht: Wer nicht seriös weiterspielt, der spielt das Finale nicht. Mir ging es um zwei Aspekte: Respekt vor dem Gegner und vor der großen Fußballnation Brasilien, Kunststücke und Aktionen für die Galerie wollte ich nicht sehen. Respekt aber nicht nur vor der Tradition, sondern auch vor der Gegenwart und unserer Situation. Das 4:4 gegen Schweden wirkte in mir noch nach. Gegen Schweden hatten wir vier Tore in 30 Minuten kassiert. Und jetzt spielten wir in Brasilien gegen Brasilien.

Ich konnte fast hören, was Scolari seinen Spielern in der Kabine in der Halbzeit sagen würde: 'Abhaken, die erste Halbzeit ist verloren, weiter gehts. Wir haben nichts mehr zu verlieren, wir haben keinen Druck mehr, der Druck ist jetzt bei den Deutschen. Wenn wir in den ersten zehn Minuten ein Tor machen, dann kann alles noch kippen. Dann werden sie nervös.'

"... dann spielt er im Finale nicht"

Ich bin sicher, dass Scolari seinen Spielern gesagt hat, dass sie die fünf Tore vergessen sollen. 'Wir müssen nicht fünf Tore schießen', wird Scolari gesagt haben, 'das Stadion hilft uns. Wenn wir kurz vor Ende zwei Tore hinten sind, dann reicht das. Dann kocht das Stadion, dann fangen die Deutschen an, nachzudenken und irgendwann können sie dem Druck nicht mehr standhalten.'

Deswegen war ich energisch in der Halbzeit. Ich habe gesagt: "Leute, ich beobachte das. Wenn einer anfängt, den Gegner lächerlich zu machen und uns damit in Schwierigkeiten bringt, dann spielt er das Finale nicht. Egal, wer das ist."

7:1, das klingt deutlich, es ist auch deutlich. Es war aber so, dass Brasilien kurz nach dem Seitenwechsel zwei, drei gute Möglichkeiten hatte. Wir hatten zum Glück Manu, der immer zur Stelle war. So haben wir auch diese Phase überstanden und das Spiel dann, genau wie wir es wollten, seriös zu Ende gespielt.

Was noch wichtiger war: Wir waren faire Gewinner, so wie die Brasilianer auch faire Verlierer waren. Nach dem Spiel gab es bei uns keine Überheblichkeit, keine Arroganz, es gab nur Respekt, Anstand und Empathie. Einige unserer Spieler hatten ähnliche Empfindungen und Gedanken, wie ich sie hatte. In mir kam die Erinnerung an die WM 2006 auf. Das Gefühl, wie es ist, ein WM-Halbfinale im eigenen Land zu verlieren, kannten wir. Philipp LahmBastian SchweinsteigerPer MertesackerLukas Podolski und Miro Klose standen 2006 in Dortmund gegen Italien auf dem Rasen, sie wussten, wie hart es ist, wenn ein Traum stirbt.

Ein WM-Finale zu erreichen - und das noch im eigenen Land - mehr geht nicht. Und es geht nicht schlimmer, als wenn dieser Traum zu Ende geht. Die Empfindungen der Brasilianer konnten wir nachvollziehen, wir wussten, was sich in ihren Köpfen und Herzen abspielt. Ich war an diesem Abend sehr stolz auf die Mannschaft und auf meine Spieler – fast noch mehr als auf das Sportliche darauf, wie sie sich in der Stunde des Sieges gegeben haben.

"Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt"

Die Rückreise in dieser Nacht ins Campo Bahia gehört zu den schönsten Erlebnissen meines Trainerlebens und meines Lebens überhaupt. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. 7:1, dass man ein Spiel auch auf eine solche Art und Weise gewinnt, war etwas, dass ich mir noch irgendwie hatte vorstellen können. Unvorstellbar war die Reaktion der Brasilianer. Nach dem Flug nach Salvador sind wir durch die Nacht und in den Morgen hinein mit dem Bus die Küste entlang ins Campo Bahia gefahren. Und der Wegesrand war gesäumt von Menschen in gelb, grün und blau, von Fans der Selecao. Frauen, Kinder und Männer standen dort. Und was haben diese Menschen, die gerade mit dem 1:7 einen gewaltigen Schlag zu verarbeiten hatten, gemacht? Es gab keine Feindseligkeit, keine Aggressivität – wir wurden gefeiert.

'Germania, Germania', haben sie gerufen. Ich räume ein, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Ich hatte Wut und Zorn erwartet, und ich hätte das nachvollziehen können. Immerhin hatten wir den Brasilianern gerade die wohl größte Niederlage ihrer Geschichte zugefügt, Buhrufe und Pfiffe hätte ich niemanden verübeln können. Heute tut mir diese Einschätzung leid. Diese Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt. Ich finde: Sie trifft auch eine Aussage über Charakter und Mentalität der Brasilianer. Sie war aber auch eine Reaktion darauf, dass wir faire Gewinner waren. Unsere Gesten nach dem Spiel hatten Wirkung. Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller haben sich um Dante gekümmert, Miro Klose war bei Luiz Gustavo, ich habe Felipe Scolari in den Arm genommen. Wir haben während des Spiels viel richtig gemacht - und nach dem Spiel genauso.

Beim Applaus durch die Brasilianer in dieser Nacht hat auch unsere Art des Fußballs eine Rolle gespielt. Als deutsche Nationalmannschaft hatten wir eine größere Akzeptanz als noch die Mannschaften der 80er-Jahre oder der um die Jahrtausendwende. Deutschland stand damals für Kampf, Willen und Effizienz und nicht für 'das schöne Spiel', das der Fußball für die Brasilianer ist. 2014 waren wir eine fußballerisch starke Mannschaft, die auf technisch hohem Niveau agierte. Unsere Spielkultur, Fußballer wie Özil und Kroos, das waren Spieler, für die sich auch Brasilianer begeistern konnten. Es kamen viele Aspekte zusammen, die in Summe dazu führten, dass wir durch ein Meer an Applaus zurück in unser Basecamp gefahren sind.

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