Kuzorra: "Im Fußball nur Freude gehabt"

Er schuf "einen ganz neuen Mittelstürmer-Typ"

Er ist gerade 22, da ruft erstmals das Vaterland. Länderspiel in Köln gegen die Holländer. "Ich bin morgens um acht mit dem Zug auf einer Holzbank angereist. Am Nachmittag war das Spiel. Das war alles", erzählte Kuzorra gern, noch viele Jahre. Auch am Stammtisch bei Bosch.

1930 schuf er in der Nationalmannschaft "einen ganz neuen Mittelstürmer-Typ", schrieb 1942 der Kicker. Zwei Tore schoss er beim 5:0 gegen die Schweiz in Zürich. Auf Schalke spielte er zwar auf halblinks im angesagten WM-System, war mehr Vorbereiter als Vollstrecker. Aber auch auf dem Platz zeichnete ihn dank seiner Technik Vielseitigkeit aus. "Er konnte dribbeln und schießen, dass einem die Augen übergingen. Er bestimmte ganz allein die Strategie des Spiels und lag fast immer richtig damit", würdigte ihn Kamerad Otto Tibulski, auch einer aus der großen Zeit der Schalker, noch 1985.

Schalke wäre aber nicht Schalke, hätte es kein Skandälchen gegeben – auch unter Kuzorra, den alle Clemens riefen, weil sie drei Ernsts im Kader hatten. Gerade war das nationale Mittelstürmer-Problem gelöst, wurde Kuzorra gesperrt. Wie alle Schalker, die im August 1930 des Berufsspielertums überführt worden und aus dem Spielbetrieb ausgeschlossen worden waren. Noch Jahrzehnte lang grollte er: "Wegen 20 Mark Spesen haben sie uns zu Berufsspielern erklärt, wo wir nur zehn hätten erhalten dürfen." Kuzorra und Szepan erhielten Angebote aus Wien, wo damals Europas Fußballherz schlug, aber sie blieben Schalke treu. Kickten auf dem Land, zum Gaudium der Massen, aber nicht um Punkte. Schalke war 1930/31 ein Phantom-Klub. "Wenn ich nur Kuzorra wieder hätte", seufzte Reichstrainer Otto Nerz, als die Nationalelf ihre schwärzeste Stunde vor dem Krieg erlebte. 0:6 in Berlin gegen Österreich, im Mai 1931.

Nun, er bekam ihn wieder. Schalkes Begnadigung nach einem Jahr war auch für den deutschen Fußball ein Segen. Fritz Szepan führte die Nationalelf bei der ersten WM-Teilnahme 1934 gleich auf Platz 3. Schwager Ernst war nicht mehr dabei. Seine Länderspiel-Karriere erstreckt sich zwar über neun Jahre (1927 - 1936), doch sie hat große Lücken. Mit Nerz war nicht gut Kirschen essen, mit Kuzorra und Schwager Fritz auch nicht. Führungsfiguren prallten hier aufeinander, die selbstbewussten Kicker waren für den "Befehl-und-Gehorsam-Stil" von Nerz nicht geeignet. Bei Landefeld heißt es: "Zwölfmal hat er für Deutschland gespielt. Es wären sicherlich mehr Spiele geworden, wäre der Ernst nicht so kantig und bestimmt gewesen."



Ohne das Wort ehemalig kommt man wohl nicht aus bei einer Laudatio über einen wie ihn. Auch wenn er dort, wo der Fußball den Alltag bestimmt, wohl ewig leben wird. Also: Am ehemaligen Stadion des FC Schalke 04, der Glückauf-Kampfbahn steht noch immer das ehemalige Vereins-Lokal (Bosch) und im vorderen Bereich weist eine Plakette daraufhin, wo der ehemals berühmteste Stammgast immer gesessen hat.

Heute vor 110 Jahren kam Ernst Kuzorra zur Welt, vor 25 hat er sie wieder verlassen. Am Neujahrs-Tag 1990. Das neue Jahrzehnt fing also denkbar schlecht an für jeden echten Schalker. Auch Präsident Günter Eichberg wird sich im Stillen gedacht haben: "Mensch, hätte der Ernst nicht noch ein bisschen warten können?" Eichberg weilte über den Jahreswechsel in Florida und weil auch Flugzeuge, in denen Präsidenten sitzen, Verspätung haben können, kam er zur spät zur Beerdigung. Die ließ er dann kurzerhand, in kleinerer Besetzung, wiederholen. Er konnte doch nicht fehlen auf dem Bild. Es sind Geschichten wie diese, die den Mythos Schalke ausmachen.

Kuzorra quasi von Beginn an dabei

Ernst Kuzorra war quasi bei der Geburt dabei. 1904 wurde der Verein gegründet, der Name erklärt sich dadurch. Aber da war Ernst noch nicht auf der Welt. Erst als der Sohn eines ostpreußischen Bergmanns an der Seite seines Schwagers Fritz Szepan dem Leder nachjagte, wurde Schalke was es ist: ein Kult-Klub.

Der Schalker "Kreisel", wie die zermürbende Ballzirkulation genannt wird, an der im Idealfall alle Spieler beteiligt waren, wurde in den Dreißigern zum Wertbegriff. Die Männer, die fast alle in der Zeche "Consolidation" direkt neben dem Stadion arbeiteten – Schichtbeginn vier Uhr morgens – wollten das nicht auch noch sonntags. Lieber lassen sie den Ball laufen. Es gab keine höhere Spielkultur im deutschen Fußball und auch ohne Fernsehen kannten jedes Kind Namen wie Urban, Eppenhoff, Kalwitzki, Bornemann oder Pörgen. Ernst Kuzorra überragte sie alle, auch von seiner Persönlichkeit her. Und so war er schon mit 18 Spielertrainer, Manager und Kassenwart. "Aber die Mannschaft aufstellen, neue Spieler entdecken und einbauen, die Trainer engagieren oder entlassen und selbstverständlich die Bezahlung – das alles war ausschließlich seine, Ernst Kuzorras Sache", schrieb Harald Landefeld im Kicker zu seinem 80. Geburtstag. Tore schießen natürlich auch. 270 werden in 351 Spielen für Schalke gezählt.

Für Deutschland sind es sieben – nur sieben.

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Er schuf "einen ganz neuen Mittelstürmer-Typ"

Er ist gerade 22, da ruft erstmals das Vaterland. Länderspiel in Köln gegen die Holländer. "Ich bin morgens um acht mit dem Zug auf einer Holzbank angereist. Am Nachmittag war das Spiel. Das war alles", erzählte Kuzorra gern, noch viele Jahre. Auch am Stammtisch bei Bosch.

1930 schuf er in der Nationalmannschaft "einen ganz neuen Mittelstürmer-Typ", schrieb 1942 der Kicker. Zwei Tore schoss er beim 5:0 gegen die Schweiz in Zürich. Auf Schalke spielte er zwar auf halblinks im angesagten WM-System, war mehr Vorbereiter als Vollstrecker. Aber auch auf dem Platz zeichnete ihn dank seiner Technik Vielseitigkeit aus. "Er konnte dribbeln und schießen, dass einem die Augen übergingen. Er bestimmte ganz allein die Strategie des Spiels und lag fast immer richtig damit", würdigte ihn Kamerad Otto Tibulski, auch einer aus der großen Zeit der Schalker, noch 1985.

Schalke wäre aber nicht Schalke, hätte es kein Skandälchen gegeben – auch unter Kuzorra, den alle Clemens riefen, weil sie drei Ernsts im Kader hatten. Gerade war das nationale Mittelstürmer-Problem gelöst, wurde Kuzorra gesperrt. Wie alle Schalker, die im August 1930 des Berufsspielertums überführt worden und aus dem Spielbetrieb ausgeschlossen worden waren. Noch Jahrzehnte lang grollte er: "Wegen 20 Mark Spesen haben sie uns zu Berufsspielern erklärt, wo wir nur zehn hätten erhalten dürfen." Kuzorra und Szepan erhielten Angebote aus Wien, wo damals Europas Fußballherz schlug, aber sie blieben Schalke treu. Kickten auf dem Land, zum Gaudium der Massen, aber nicht um Punkte. Schalke war 1930/31 ein Phantom-Klub. "Wenn ich nur Kuzorra wieder hätte", seufzte Reichstrainer Otto Nerz, als die Nationalelf ihre schwärzeste Stunde vor dem Krieg erlebte. 0:6 in Berlin gegen Österreich, im Mai 1931.

Nun, er bekam ihn wieder. Schalkes Begnadigung nach einem Jahr war auch für den deutschen Fußball ein Segen. Fritz Szepan führte die Nationalelf bei der ersten WM-Teilnahme 1934 gleich auf Platz 3. Schwager Ernst war nicht mehr dabei. Seine Länderspiel-Karriere erstreckt sich zwar über neun Jahre (1927 - 1936), doch sie hat große Lücken. Mit Nerz war nicht gut Kirschen essen, mit Kuzorra und Schwager Fritz auch nicht. Führungsfiguren prallten hier aufeinander, die selbstbewussten Kicker waren für den "Befehl-und-Gehorsam-Stil" von Nerz nicht geeignet. Bei Landefeld heißt es: "Zwölfmal hat er für Deutschland gespielt. Es wären sicherlich mehr Spiele geworden, wäre der Ernst nicht so kantig und bestimmt gewesen."

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Schmerzen und Ohnmacht - aber Meister

Ernst Kuzorra fand sein Glück dafür im blauen Dress der Schalker "Knappen". Die standen zwischen 1933 und 1942 acht Mal im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft – sechs Mal gewannen sie es. 1937 wurden die Schalker auch erster Double-Sieger im deutschen Fußball, in dem erst seit 1935 auch ein Pokal ausgespielt wird. Kuzorra war immer dabei, wobei schon ein Spiel genügt hätte für seinen Nachruhm. Am 24. Juni 1934 gewinnt Schalke im Berliner Olympiastadion erstmals die Meisterschaft, durch ein 2:1 gegen den ruhmreichen Nürnberger Club. Kuzorra geht angeschlagen ins Spiel, für seinen Leistenbruch gibt es bereits einen Operations-Termin, Training machte er kaum noch. Er quälte sich für seinen Verein wie kein Zweiter und dann, es lief schon die letzte Minute, erbarmt sich sogar der Fußballgott. Kuzorra schießt das erlösende 2:1 und bricht sogleich zusammen. Ohnmächtig, vor Schmerz, Erschöpfung, Erleichterung. Sie müssen ihn vom Platz tragen, was man mit Helden ja auch sonst schon mal macht.

Er erlebt noch einige denkwürdige Endspiele wie das 9:0 gegen Admira Wien, aber auch das 3:4 nach 3:0-Führung gegen Rapid. "Dass wir hier verloren haben, war Politik – kein Sport", wagte Kuzorra offene Worte gegen die braunen Machthaber. So mancher hegte damals den Verdacht, dass dem politischen Anschluss Österreichs auch der sportliche folgen sollte und der Meister nicht jedes Jahr aus dem "Alt-Reich" kommen dürfe. Bewiesen wurde das nie.

Sprücheklopfer nach der Karriere

Nach der Karriere, die Kuzorra erst mit 43 beendete, klopfte er lieber Sprüche, über die man lachen konnte. Gegenüber seinen Kunden im Tabaksladen am Schalker Markt, bei Bosch am Stammtisch und – mit ernster Miene – auch gegenüber manchem Journalisten. An seinem 80. Geburtstag etwa sagte er einem Vertreter der schreibenden Zunft: "Ich habe nur Angst, dass es mir so geht wie meinem Opa. Der hat mit 93 noch mal geheiratet." Kunstpause. "Weil er musste." Einen solchen Spruch aus dem Mund von Max Meyer oder Leon Goretzka – wir können es uns nicht vorstellen. Und wollen es auch gar nicht. Alles hat seine Zeit. Ernst Kuzorra prägte eine große.

Das letzte Wort soll er selbst bekommen: "65 Jahre gehöre ich jetzt meinem Klub an. Davon habe ich 34 Jahre lang Fußball gespielt. Es waren Jahre, in denen ich nur Freude erlebt habe."