Köpke im Video: Erfolgreich am Drücker

U 18-Torhüter antizipierten besser als jüngeren Kollegen

Florian Schultz machte sich also daran, empirisch zu erforschen, ob es wirklich stimmt, dass erfahrene Torwarte besser sind als weniger erfahrene. Hunderte Torschüsse ließ er aus der Perspektive des Keepers filmen – die Kamera mittig und auf 1,75 Meter Höhe positioniert. Diejenigen Schüsse, die in einer der vier Ecken einschlugen, sammelte er und zeigte sie seinen Probanden. Dabei kombinierte er verschiedene Situationen (zum Beispiel Eins-gegen-Eins oder Zwei-gegen-Zwei) mit der sogenannten "Eye-Tracking-Methode". Wohin der Proband exakt schaut, wurde während der Schusssequenz mit einer Spezialkamera festgehalten.

Bizarr und faszinierend zugleich sind seine ausgewerteten Videos, in denen zu verfolgen ist, wohin die Gruppe der Probanden blickte. Aufblitzende gelbe Punkte stehen für die Blicke, die zur richtigen "Schussantizipation" führten, rote Punkte für "falsche Blicke". Ein fantastisches Flimmern, das Schultz' Grundtheorie bestätigte: U 18-Torhüter antizipierten besser als ihre jüngeren Kollegen.

So weit, so erwartbar. Doch darüber hinaus gelang es ihm, bislang nur erahnte Unterschiede empirisch zu untermauern. "Die meisten Torwarte schauen zu Beginn der Schussbewegung auf den Kopf des Schützen. Der Torwart will wissen, wohin der Schütze schaut. Einheitlich gilt für alle Torhüter, dass je näher der Zeitpunkt der Schussabgabe kommt, der Blick desto mehr nach unten wandert und zwar zum Standbein, zum Schussbein und zum Ball. Ein Kennzeichen von Experten ist es nun, dass sie weniger Fixationen verwenden und dadurch auch weniger Blicksprünge ausführen müssen."

Erfahrene Torhüter schauen ruhiger

Unwissenschaftlicher ausgedrückt: Erfahrene Torhüter schauen ruhiger. Ultraschnelle Blicksprünge nennt der Wissenschaftler Sakkaden – es sind die schnellsten Bewegungen des menschlichen Körpers. Das Tempo entspricht einer Bewegung von 700 Grad pro Sekunde, eine Geschwindigkeit, bei der das Auge in einer Sekunde rund zweimal um den Kopf schwirren würde. Doch diese Blickbewegung ist zu schnell, als dass das Gehirn hierbei etwas wahrnehmen könnte. Sakkaden sind für die reine Wahrnehmung tatsächlich also vertane Zeit.

Schultz fasst zusammen: "Experten nutzen eine eingeschliffene Blickstrategie. Sie müssen nicht suchen und haben dadurch mehr Zeit zur Wahrnehmung. Und sie fixieren bestimmte Areale länger. Zusätzlich können sie über die Peripherie Informationen erkennen und zusammenfassen. Die erfahrenen Torhüter in meiner Untersuchung schauten ab 80 Millisekunden vor der Schussausführung verstärkt auf das Standbein und erzielten dadurch eine bessere Antizipationsleistung als unerfahrene Torhüter." Schultz mahnt zur Geduld, wenn man nach der Übertragbarkeit seiner Erkenntnisse fragt. "Das ist erst der übernächste Schritt." Zur Validierung der Ergebnisse läuft in Tübingen derzeit eine Replikationsstudie mit Handballtorhütern.

Köpke besteht mit Bravour

Der DFB hat durch Kongress und Preis Plattformen geschaffen, um Theorie und Praxis besser zu vernetzen. "Mit dem Bau des 'neuen DFB' in Frankfurt am Main verfolgen wir das Ziel, die Grundlagen für künftige Erfolge zu legen. Gerade der Kongress soll die Meisterlehre und somit die Erfahrung der Praxis mit der Evidenz, den wissenschaftlich nachgewiesenen Daten, in Diskussion bringen", sagt DFB-Vizepräsident Peter Frymuth. Und Prof. Dr. Martin Peter Büch, Leiter der AG Wissenschaft beim DFB, fügt hinzu: "Es geht immer um die Suche nach dem kleinen bisschen Mehr, nach dem kleinen bisschen Besser." Hansi Flick interessieren die Schnittstellen: "Ich war immer offen für neue Wege und Erkenntnisse, insbesondere aus dem Bereich der Leistungsdiagnostik." Während seiner drei Jahrzehnte im Profi und Elitefußball verfolgte Flick die wachsende Bedeutung von Technologie und Wissenschaft. "Das ist eine rasante Entwicklung", sagt der DFB-Sportdirektor.

"Vielen Dank" steht vorne auf der Leinwand. Andreas Köpke hat den Test mit Bravour bestanden. Bei 71 Prozent korrekter Antworten lag er deutlich über dem Ergebnis der Torhüter aus den Landesauswahlen. Besonders deutlich distanzierte er den Nachwuchs bei den Videos, die im Moment des Ballkontakts oder
40 Millisekunden nach Ballkontakt abbrachen. Köpke brachte es hier auf 100 Prozent richtige Antworten, die U 15 bis U 18-Torhüter im Schnitt auf 77 Prozent. Auch das ungewöhnliche Experiment bestätigte also: Erfahrung hilft beim Antizipieren der Schussrichtung. "Mit 70 halte ich sie alle", sagt Andreas Köpke lachend bei der Verabschiedung. "Jedenfalls theoretisch."

[th]


Im Dienste der Wissenschaft stellte sich Andreas Köpke auf den Prüfstand. Der Torwarttrainer der Nationalmannschaft traf den Gewinner des DFB-Wissenschaftspreises 2016. Dr. Florian Schultz hat in seiner preisgekrönten Arbeit untersucht, was erfahrene Torhüter tatsächlich besser machen. Und das hat viel mit Blicken zu tun. DFB.de hat zugeschaut.

Rechts oben, links unten, links unten. Richtig, richtig, richtig. Beeindruckend. Andreas Köpke verfolgt konzentriert das Schussvideo, dann haut er auf einen von vier roten Plastikknöpfen. Buzzer sagt man heute dazu. Der Torwarttrainer der Nationalmannschaft hat zugestimmt, sich einer besonderen Herausforderung zu stellen. In den sekundenkurzen Videosequenzen sieht Köpke aus der Torwartperspektive einen Spieler dribbeln. Der Stürmer beginnt die Schussbewegung. Das Video bricht ab. Die Leinwand wird schwarz. Andreas Köpke drückt einen der vier Buzzer. Unten rechts – richtig.

"Je erfahrener der Torwart ist, desto früher erkennt er etwa am Platzieren des Schussbeins oder an der Ausholbewegung, wohin der Schuss gehen wird. Das bringt entscheidende Millisekunden", sagt Köpke. Genau damit beschäftigte sich Dr. Florian Schultz. Der 36 Jahre alte Sportwissenschaftler der Tübinger Eberhard Karls Universität, dessen Doktorarbeit gerade mit dem DFB-Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde, testete im Laborsetting die Schussantizipation von Torwarten. Andreas Köpke weiß, wohin der Schuss gehen wird. Schultz weiß, warum Köpke das weiß. Der Theoretiker aus Tübingen hat, neben einer Reihe anderer Fragestellungen, eine Binse des Fußballs – "Erfahrung im Tor ist Gold wert" – hinterfragt und empirisch untersucht, was denn nun genau erfahrene Torhüter besser machen.

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Theorie trifft Praxis

44 junge Keeper aus den DFB-Landesauswahlen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren stellten sich dem Testverfahren. Heute hier in der Geschäftsstelle des Bayerischen Fußball-Verbandes nahe der Nürnberger Innenstadt also hat sich der Welttorhüter von 1996 bereit erklärt, Teile des Versuchsverfahrens zu durchlaufen. Theorie meets Praxis, der Wissenschaftler den Weltmeister. Man ist schnell beim Du. Aber als Köpke sich ans Pult stellt, um sich die 24 Schussvideos anzuschauen, liegt Wettkampfstimmung in der Luft. Ein Kamerateam und ein Fotograf sollen seine Performance an den Buzzern dokumentieren. "Alle raus jetzt", scherzt Köpke – aber so entspannt die Stimmung eben noch war: Jetzt wird's ernst.

Elf Jahre lang, unterteilt in zwei Etappen, hütete er beim seinerzeit chronisch abstiegsgefährdeten 1. FC Nürnberg den Kasten: von 1986 bis 1994, dann von 1998 bis zu seinem Karriereende 2001. Allzu oft stellte sich der Weltklassetorwart in eine Schießbude. Köpke selbst spielte auf höherem Niveau: Wie kein anderer prägte er das Torwartspiel der 90er-Jahre. Köpke war beides, nüchtern und spektakulär. Seiner Abwehr vermittelte er Ruhe und Zuversicht, und dazu parierte er die Unhaltbaren. Noch heute sagt er: "Manchmal hält man einen, da weiß man selbst nicht, weshalb man noch drankam." 1996 wurde er mit Deutschland Europameister, bester Torhüter des Turniers, der ganzen Welt. Als er schließlich das deutsche Tor verließ, war er in 28 von 59 Länderspielen ohne Gegentreffer geblieben.

Schultz: "Der Torhüter muss antizipieren"

Heute also ein neues Spiel. Beim Abbruch 120 Millisekunden vor Ballkontakt ist nichts mehr vorauszuahnen. Der Schuss könnte in jede der vier Ecken fliegen. Oder auf den Mond. Breitbeinig steht Köpke vor dem Pult. Ganz selten murmelt er ärgerlich: "Das ist doch derselbe Schuss" oder "Poah, schwer", ansonsten schweigt er.

Florian Schultz ist begeistert. "Dass Andreas Köpke hier mitmacht, adelt meine Untersuchung", sagt er. Schultz zählt zur wachsenden Zahl junger Forscher, die praxisnah an der Weiterentwicklung des Fußballs mitwirken, die "nicht mehr nur im Elfenbeinturm arbeiten" wollen. Auch wenn der Titel seiner Doktorarbeit ziemlich "elfenbeinturmmäßig" klingt: "Antizipation von Fußballtorhütern – Untersuchung zur Konzeption einer kognitiven Leistungsdiagnostik im Kontext der sportwissenschaftlichen Talentforschung". Das Ur-Dilemma des Torwarts: Was tun, wenn die reine Reaktionszeit nicht mehr ausreicht, um noch an den Ball zu kommen? Schultz sagt: "Um in solchen Situationen eine Chance zu haben, den Ball noch abzuwehren, muss eine Bedingung erfüllt sein: Der Torhüter muss antizipieren."

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U 18-Torhüter antizipierten besser als jüngeren Kollegen

Florian Schultz machte sich also daran, empirisch zu erforschen, ob es wirklich stimmt, dass erfahrene Torwarte besser sind als weniger erfahrene. Hunderte Torschüsse ließ er aus der Perspektive des Keepers filmen – die Kamera mittig und auf 1,75 Meter Höhe positioniert. Diejenigen Schüsse, die in einer der vier Ecken einschlugen, sammelte er und zeigte sie seinen Probanden. Dabei kombinierte er verschiedene Situationen (zum Beispiel Eins-gegen-Eins oder Zwei-gegen-Zwei) mit der sogenannten "Eye-Tracking-Methode". Wohin der Proband exakt schaut, wurde während der Schusssequenz mit einer Spezialkamera festgehalten.

Bizarr und faszinierend zugleich sind seine ausgewerteten Videos, in denen zu verfolgen ist, wohin die Gruppe der Probanden blickte. Aufblitzende gelbe Punkte stehen für die Blicke, die zur richtigen "Schussantizipation" führten, rote Punkte für "falsche Blicke". Ein fantastisches Flimmern, das Schultz' Grundtheorie bestätigte: U 18-Torhüter antizipierten besser als ihre jüngeren Kollegen.

So weit, so erwartbar. Doch darüber hinaus gelang es ihm, bislang nur erahnte Unterschiede empirisch zu untermauern. "Die meisten Torwarte schauen zu Beginn der Schussbewegung auf den Kopf des Schützen. Der Torwart will wissen, wohin der Schütze schaut. Einheitlich gilt für alle Torhüter, dass je näher der Zeitpunkt der Schussabgabe kommt, der Blick desto mehr nach unten wandert und zwar zum Standbein, zum Schussbein und zum Ball. Ein Kennzeichen von Experten ist es nun, dass sie weniger Fixationen verwenden und dadurch auch weniger Blicksprünge ausführen müssen."

Erfahrene Torhüter schauen ruhiger

Unwissenschaftlicher ausgedrückt: Erfahrene Torhüter schauen ruhiger. Ultraschnelle Blicksprünge nennt der Wissenschaftler Sakkaden – es sind die schnellsten Bewegungen des menschlichen Körpers. Das Tempo entspricht einer Bewegung von 700 Grad pro Sekunde, eine Geschwindigkeit, bei der das Auge in einer Sekunde rund zweimal um den Kopf schwirren würde. Doch diese Blickbewegung ist zu schnell, als dass das Gehirn hierbei etwas wahrnehmen könnte. Sakkaden sind für die reine Wahrnehmung tatsächlich also vertane Zeit.

Schultz fasst zusammen: "Experten nutzen eine eingeschliffene Blickstrategie. Sie müssen nicht suchen und haben dadurch mehr Zeit zur Wahrnehmung. Und sie fixieren bestimmte Areale länger. Zusätzlich können sie über die Peripherie Informationen erkennen und zusammenfassen. Die erfahrenen Torhüter in meiner Untersuchung schauten ab 80 Millisekunden vor der Schussausführung verstärkt auf das Standbein und erzielten dadurch eine bessere Antizipationsleistung als unerfahrene Torhüter." Schultz mahnt zur Geduld, wenn man nach der Übertragbarkeit seiner Erkenntnisse fragt. "Das ist erst der übernächste Schritt." Zur Validierung der Ergebnisse läuft in Tübingen derzeit eine Replikationsstudie mit Handballtorhütern.

Köpke besteht mit Bravour

Der DFB hat durch Kongress und Preis Plattformen geschaffen, um Theorie und Praxis besser zu vernetzen. "Mit dem Bau des 'neuen DFB' in Frankfurt am Main verfolgen wir das Ziel, die Grundlagen für künftige Erfolge zu legen. Gerade der Kongress soll die Meisterlehre und somit die Erfahrung der Praxis mit der Evidenz, den wissenschaftlich nachgewiesenen Daten, in Diskussion bringen", sagt DFB-Vizepräsident Peter Frymuth. Und Prof. Dr. Martin Peter Büch, Leiter der AG Wissenschaft beim DFB, fügt hinzu: "Es geht immer um die Suche nach dem kleinen bisschen Mehr, nach dem kleinen bisschen Besser." Hansi Flick interessieren die Schnittstellen: "Ich war immer offen für neue Wege und Erkenntnisse, insbesondere aus dem Bereich der Leistungsdiagnostik." Während seiner drei Jahrzehnte im Profi und Elitefußball verfolgte Flick die wachsende Bedeutung von Technologie und Wissenschaft. "Das ist eine rasante Entwicklung", sagt der DFB-Sportdirektor.

"Vielen Dank" steht vorne auf der Leinwand. Andreas Köpke hat den Test mit Bravour bestanden. Bei 71 Prozent korrekter Antworten lag er deutlich über dem Ergebnis der Torhüter aus den Landesauswahlen. Besonders deutlich distanzierte er den Nachwuchs bei den Videos, die im Moment des Ballkontakts oder
40 Millisekunden nach Ballkontakt abbrachen. Köpke brachte es hier auf 100 Prozent richtige Antworten, die U 15 bis U 18-Torhüter im Schnitt auf 77 Prozent. Auch das ungewöhnliche Experiment bestätigte also: Erfahrung hilft beim Antizipieren der Schussrichtung. "Mit 70 halte ich sie alle", sagt Andreas Köpke lachend bei der Verabschiedung. "Jedenfalls theoretisch."

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