Klaus Augenthalers Doppelrolle im Abstiegskampf

50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. Heute: Klaus Augenthaler, der als Trainer im Abstiegskampf der Saison 2002/2003 eine merkwürdige Doppelrolle mit Happy-End spielen durfte.

Die Mannschaft hatte 0:3 verloren und das im eigenen Stadion - und die Fans wollten den Trainer sehen. Für Klaus Augenthaler sollte es eigentlich vorbei sein in Nürnberg nach dieser Pleite gegen Hertha BSC, Präsident Michael A. Roth hatte ihm zuvor schon öffentlich den Rücktritt nahegelegt und nun ultimativ einen Sieg gefordert, was der Trainer so kommentierte: "Ich fühle mich wie Dr. Kimble auf der Flucht, wie ein Freigänger, der bis Sonntag auf Bewährung draußen ist."

Club-Fans fordern Verbleib von Augenthaler

Das mit der Bewährung misslang, aber der Trainer schien daran die wenigste Schuld zu haben - glaubten die Fans und riefen minutenlang nach ihm: "Außer Auge könnt ihr alle gehen!" Und so rannte Manager Edgar Geenen an jenem Sonntagabend des 16. März 2003 aufgeregt in die Kabine und beschwor Klaus Augenthaler: "Klaus, du musst raus zu den Fans. Die reißen sonst das ganze Stadion ab!" Und der Weltmeister von 1990, der sich schon damit abgefunden hatte, das Nürnberger Stadion so schnell nicht mehr von innen zu sehen, erfüllte den Wunsch der Massen.

Er ließ sich ein Mikrofon geben und hielt, wie es noch öfter in seiner Karriere vorkommen sollte, eine äußerst knappe Ansprache: "Zwei Dinge nur - erstens: So etwas wie heute habe ich noch nie erlebt, so etwas gibt es in keinem Verein. Und zweitens: Ich weiß nicht, ob ich hier als Trainer weiterarbeiten darf. Aber für euch werde ich es sehr gerne tun."

Großer Jubel brach aus, und Präsident Roth drängte es plötzlich nicht danach, der böse Bube im fränkischen Rührstück zu sein. Die hartnäckig nach Augenthalers Entlassung fragenden Reporter belehrte er so: "Ich könnte mir vorstellen, dass es mit einem anderen Trainer sogar noch schlechter werden könnte. Da bleiben wir lieber bei unserem beliebten Klaus Augenthaler."

"Ich mache jetzt einen Tanzkurs"

40 Jahre musste die Bundesliga werden, ehe zum ersten Mal Fans einem Trainer den Job retteten. Für vier Wochen, immerhin. Nach weiteren Niederlagen packte Roth doch die Abstiegsangst, und als sich der Spielerrat nach dem 0:4 in Hamburg über "Auge" beschwerte, wurde er doch entlassen.

Sarkast Augenthaler nahm es gelassen und sagte der Welt am Sonntag in Bezug auf seine Zukunft: "Ich mache jetzt einen Tanzkurs." Doch da dürfte er kaum über die ersten Schritte hinausgekommen sein, denn exakt drei Wochen nach seinem Rauswurf in Nürnberg war sein Typ schon wieder gefragt. Nun in Leverkusen, wieder im Abstiegskampf. Die glücklose und doch mitreißende "Vizekusen"-Mannschaft des Vorjahres war in eine tiefe Krise gestürzt und hatte den Trainer bereits gewechselt, nun musste auch Klaus Toppmöllers Nachfolger Thomas Hörster weichen.

Zwei Spiele vor Saisonende übernahm Augenthaler eine Mannschaft, die er nicht kannte, auf einem Abstiegsplatz. Immerhin hatte er einen Weltmeister-Kameraden an seiner Seite: Sportdirektor Jürgen Kohler. Wie im Finale von Rom, als er Libero spielte und Kohler Vorstopper. In der Kabine fand er dagegen zitternde Spieler vor. "Ich werde nie den Anblick von Spielern wie Berbatov oder Lucio vergessen", so Augenthaler. "Die zitterten, es herrschte Totenstille."

Augenthaler rettet Leverkusen - ausgerechnet in Nürnberg

Er fand vor dem Heimspiel gegen 1860 München zum Glück die richtigen Worte: "Ich habe die Spieler an der Ehre gepackt und gefragt, ob sie weiter als Söldnertruppe und wohlhabende Absteiger bezeichnet werden wollen oder nicht." Die Antwort gaben sie auf dem Platz - 3:0! Mit einem Punkt Vorsprung auf Bielefeld reiste Bayer zum letzten Spiel. Ausgerechnet nach Nürnberg.

Der Club war inzwischen abgestiegen, nun konnte er Bayer mit runterreißen und Augenthaler quasi zweimal zum Absteigertrainer machen. Augenthaler ging, wie es seine Art ist, gelassen in den brisanten Schlussakt seiner verrücktesten Saison als Trainer. "Im Fußball kann man es sich nicht aussuchen", sagte er. "Es wäre sicher fataler, wenn auch der Club noch die Chance hätte, drinzubleiben."

Hatte er nicht. Bayer gewann 1:0, Augenthaler wurde als Retter gefeiert und hatte am Abend "meine schönste Fahrt von Nürnberg nach München". Im Jahr darauf führte er Bayer in die Champions League.

Klaus Augenthalers Bundesligabilanz: 404 Spiele, 52 Tore und sieben Deutsche Meisterschaften als Spieler; 190 Spiele als Trainer.

[um]

[bild1]

50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. Heute: Klaus Augenthaler, der als Trainer im Abstiegskampf der Saison 2002/2003 eine merkwürdige Doppelrolle mit Happy-End spielen durfte.

Die Mannschaft hatte 0:3 verloren und das im eigenen Stadion - und die Fans wollten den Trainer sehen. Für Klaus Augenthaler sollte es eigentlich vorbei sein in Nürnberg nach dieser Pleite gegen Hertha BSC, Präsident Michael A. Roth hatte ihm zuvor schon öffentlich den Rücktritt nahegelegt und nun ultimativ einen Sieg gefordert, was der Trainer so kommentierte: "Ich fühle mich wie Dr. Kimble auf der Flucht, wie ein Freigänger, der bis Sonntag auf Bewährung draußen ist."

Club-Fans fordern Verbleib von Augenthaler

Das mit der Bewährung misslang, aber der Trainer schien daran die wenigste Schuld zu haben - glaubten die Fans und riefen minutenlang nach ihm: "Außer Auge könnt ihr alle gehen!" Und so rannte Manager Edgar Geenen an jenem Sonntagabend des 16. März 2003 aufgeregt in die Kabine und beschwor Klaus Augenthaler: "Klaus, du musst raus zu den Fans. Die reißen sonst das ganze Stadion ab!" Und der Weltmeister von 1990, der sich schon damit abgefunden hatte, das Nürnberger Stadion so schnell nicht mehr von innen zu sehen, erfüllte den Wunsch der Massen.

Er ließ sich ein Mikrofon geben und hielt, wie es noch öfter in seiner Karriere vorkommen sollte, eine äußerst knappe Ansprache: "Zwei Dinge nur - erstens: So etwas wie heute habe ich noch nie erlebt, so etwas gibt es in keinem Verein. Und zweitens: Ich weiß nicht, ob ich hier als Trainer weiterarbeiten darf. Aber für euch werde ich es sehr gerne tun."

Großer Jubel brach aus, und Präsident Roth drängte es plötzlich nicht danach, der böse Bube im fränkischen Rührstück zu sein. Die hartnäckig nach Augenthalers Entlassung fragenden Reporter belehrte er so: "Ich könnte mir vorstellen, dass es mit einem anderen Trainer sogar noch schlechter werden könnte. Da bleiben wir lieber bei unserem beliebten Klaus Augenthaler."

"Ich mache jetzt einen Tanzkurs"

40 Jahre musste die Bundesliga werden, ehe zum ersten Mal Fans einem Trainer den Job retteten. Für vier Wochen, immerhin. Nach weiteren Niederlagen packte Roth doch die Abstiegsangst, und als sich der Spielerrat nach dem 0:4 in Hamburg über "Auge" beschwerte, wurde er doch entlassen.

Sarkast Augenthaler nahm es gelassen und sagte der Welt am Sonntag in Bezug auf seine Zukunft: "Ich mache jetzt einen Tanzkurs." Doch da dürfte er kaum über die ersten Schritte hinausgekommen sein, denn exakt drei Wochen nach seinem Rauswurf in Nürnberg war sein Typ schon wieder gefragt. Nun in Leverkusen, wieder im Abstiegskampf. Die glücklose und doch mitreißende "Vizekusen"-Mannschaft des Vorjahres war in eine tiefe Krise gestürzt und hatte den Trainer bereits gewechselt, nun musste auch Klaus Toppmöllers Nachfolger Thomas Hörster weichen.

Zwei Spiele vor Saisonende übernahm Augenthaler eine Mannschaft, die er nicht kannte, auf einem Abstiegsplatz. Immerhin hatte er einen Weltmeister-Kameraden an seiner Seite: Sportdirektor Jürgen Kohler. Wie im Finale von Rom, als er Libero spielte und Kohler Vorstopper. In der Kabine fand er dagegen zitternde Spieler vor. "Ich werde nie den Anblick von Spielern wie Berbatov oder Lucio vergessen", so Augenthaler. "Die zitterten, es herrschte Totenstille."

[bild2]

Augenthaler rettet Leverkusen - ausgerechnet in Nürnberg

Er fand vor dem Heimspiel gegen 1860 München zum Glück die richtigen Worte: "Ich habe die Spieler an der Ehre gepackt und gefragt, ob sie weiter als Söldnertruppe und wohlhabende Absteiger bezeichnet werden wollen oder nicht." Die Antwort gaben sie auf dem Platz - 3:0! Mit einem Punkt Vorsprung auf Bielefeld reiste Bayer zum letzten Spiel. Ausgerechnet nach Nürnberg.

Der Club war inzwischen abgestiegen, nun konnte er Bayer mit runterreißen und Augenthaler quasi zweimal zum Absteigertrainer machen. Augenthaler ging, wie es seine Art ist, gelassen in den brisanten Schlussakt seiner verrücktesten Saison als Trainer. "Im Fußball kann man es sich nicht aussuchen", sagte er. "Es wäre sicher fataler, wenn auch der Club noch die Chance hätte, drinzubleiben."

Hatte er nicht. Bayer gewann 1:0, Augenthaler wurde als Retter gefeiert und hatte am Abend "meine schönste Fahrt von Nürnberg nach München". Im Jahr darauf führte er Bayer in die Champions League.

Klaus Augenthalers Bundesligabilanz: 404 Spiele, 52 Tore und sieben Deutsche Meisterschaften als Spieler; 190 Spiele als Trainer.