Kick it like Pistorius: Fußballer trotz Beinprothese

Der kleine Fußball ist in Deutschland riesengroß. In fast 26.000 Vereinen wird unter dem Dach des DFB Fußball gespielt, im Schnitt finden 4400 Spiele statt - pro Tag. Das Rampenlicht gehört normalerweise den Stars aus der Bundesliga, der Nationalmannschaft, den Klubs wie Bayern München, Borussia Dortmund oder Schalke 04. Die heimlichen Helden aber spielen woanders, in der Verbands-, Bezirks-, Kreisliga, auf kleinen Sportplätzen, mit hingebungsvollen Ehrenamtlichen an ihrer Seite. Sie alle haben eines gemeinsam: die Liebe zum Fußball.

Diesen heimlichen Helden widmet sich DFB.de in seiner neuen Serie. Auf der Reise durch die Republik stellt die Redaktion jeden Dienstag einen Amateurverein vor - ob aufstrebender Newcomer oder gestrauchelter Traditionsklub, ob kleiner Dorf- oder städtischer Großverein, ob Oberligist oder C-Ligist, ob Jugendspielgemeinschaft oder reine Hobbytruppe. Wir zeigen, wie besonders der deutsche Fußball-Alltag ist. Heute: Prothesen-Kicker Manuel Ortega.

"Hannovers tapferster Fußballer"

Der bekannteste Sportler der Welt mit Prothese heißt Oscar Pistorius. Kürzlich gehörten dem Leichtathleten aus Südafrika wieder die Schlagzeilen, als er nach langen Diskussion bei den Olympischen Spielen in London auf seinen Karbonschienen über die 400 Meter startete. Zu diesem Zeitpunkt lag Manuel Ortega in den Schlusszügen der Vorbereitung auf die neue Saison. Auch Ortega trägt Prothesen, auch er ist ein behinderter Sportler, ohne Behindertensportler zu sein. Der junge Mann aus Hannover spielt Fußball für die TSV Saxonia Hannover, 4. Kreisklasse, Staffel 2.

Die Bild-Zeitung hat ihn "Hannovers tapfersten Fußballer" genannt. Menschen mit Behinderung mögen solche Bezeichnungen nicht. Tapfer, das heißt auch, da ist einer, der es schwer hat, der ein Leid zu tragen hat. Ortega spricht lieber von Mut, wenn er seine ungewöhnliche Geschichte als Fußballer erzählt - davon, wie er wieder mit dem Kicken im Verein angefangen hat und in seinem Team zu einer festen Größe geworden ist. "Es schafft nicht jeder, diesen Mut aufzubringen, darauf bin ich schon ein bisschen stolz", sagt der 21-Jährige.

"Wäre er gesund, würde er nicht bei uns spielen"

Ortega ist keine Eintagsfliege, keine PR-Nummer, kein Maskottchen, das eine Mannschaft mal kurz als Zeichen für Integration und Gleichstellung vorzeigt. "Lolo" geht in seine vierte Saison bei der Turn- und Spielvereinigung. Lolo, so nennen ihn alle hier, es ist eine Abkürzung von Manolo. "Auf Manuel hört er gar nicht. Wenn man den Namen im Spiel ruft, ignoriert er es", sagt Frank Petersen.

Petersen ist seit vergangener Saison Trainer der zweiten Mannschaft. "Unter ihm bin ich aufgeblüht", sagt Ortega. Petersen weiß, dass sein Schützling beim Laufen Probleme hat, dass er nicht richtig sprinten kann, dass er bei Ausdauereinheiten Walkingstöcke zu Hilfe nimmt, um keinen Krampf zu bekommen - aber es stört den Coach nicht. "Wenn der Junge den Ball in den Fuß kriegt, ist er eine Bank", meint Petersen. "Er kann den tödlichen Pass spielen, ist technisch versiert und sehr ehrgeizig. Wäre er komplett gesund, würde er nicht bei uns spielen."

Amputation im Alter von neun Jahren

Gesund war Manuel Ortega bis zu seinem neunten Lebensjahr. Dann kam die Diagnose: Krebs. Ein Tumor im Kniegelenk. Die Familie entschied sich gegen eine Vollamputation. Stattdessen wurde ein kompliziertes Verfahren namens Umkehrplastik durchgeführt. Der größte Teil des Oberschenkels wurde entfernt, der Unterschenkel nach oben versetzt und um 180 Grad gedreht, so dass der Fuß bei Ortega nun den Ersatz für das Kniegelenk bildet. Darunter ist die Prothese nötig, sie führt hoch bis zum Becken, "wegen der Stabilität", wie Ortega erklärt.

Vier Jahre nach der Operation trat er zum ersten Mal wieder gegen den Ball. Vier Jahre voller Krankengymnastik und Muskelaufbau. Endlich konnte er wieder Atmosphäre, Geruch, Geräusche und Spaß des Bolzplatzes genießen. "Ohne Fußball", sagt Ortega, "könnte ich gar nicht leben."

Mit 18 tat er sich mit einigen Freunden zusammen und schloss sich der TSV Saxonia an. Eine zweite Mannschaft wurde aufgemacht, ein Sammelsurium verschiedenster Charaktere, Schichten und Kulturen. Elf Nationalitäten sind bei Saxonia II zusammengefasst, hier spielen Serben, Mazedonier, Türken, Libanesen und Spanier. "Dieses Team", unterstreicht Trainer Petersen, "ist etwas ganz Besonderes." Nicht nur wegen Manuel Ortega. Aber auch wegen ihm.

"Dann kommt auch mal die Grätsche"

Bei besonderen Spielern geht es kaum ohne besondere Behandlung. Doch während es bei manchem Star ein Ausdruck von Attitüde und Divenhaftigkeit ist, wenn er den Ball ausschließlich in den Fuß gespielt haben möchte, ist es bei Ortega die pure Notwendigkeit. Ihn per Steilpass auf die Reise zu schicken, ist sinnlos. "Um richtig rennen zu können, bräuchte ich eine Sportprothese", erklärt er. Doch die ist erstens teuer (rund 20.000 Euro), und zweitens dürfte er damit wohl ohnehin nicht spielen, weil sie im Zweikampf zu gefährlich für die Gegenspieler wäre. Immerhin ist Ortega jetzt eine zweite Prothese genehmigt worden, an die ein spezieller Fuß angebracht ist.

Zwei Prothesen sind "Lolo" bisher beim Fußball zu Bruch gegangen, beide Male im Training. Auch im Spiel legt sich die Zurückhaltung der Gegner, die erstmals auf den Mann mit der Prothese treffen, nach Ortegas Erfahrung schnell. "Viele schauen erst einmal komisch, die meisten unterschätzen mich und sind anfangs etwas zimperlich", berichtet der 21-Jährige, "aber das ist nach ein paar Minuten vorbei, wenn sie sehen, dass ich etwas kann. Dann kommt auch mal die Grätsche." Oscar Pistorius kann das nicht von sich behaupten.

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Der kleine Fußball ist in Deutschland riesengroß. In fast 26.000 Vereinen wird unter dem Dach des DFB Fußball gespielt, im Schnitt finden 4400 Spiele statt - pro Tag. Das Rampenlicht gehört normalerweise den Stars aus der Bundesliga, der Nationalmannschaft, den Klubs wie Bayern München, Borussia Dortmund oder Schalke 04. Die heimlichen Helden aber spielen woanders, in der Verbands-, Bezirks-, Kreisliga, auf kleinen Sportplätzen, mit hingebungsvollen Ehrenamtlichen an ihrer Seite. Sie alle haben eines gemeinsam: die Liebe zum Fußball.

Diesen heimlichen Helden widmet sich DFB.de in seiner neuen Serie. Auf der Reise durch die Republik stellt die Redaktion jeden Dienstag einen Amateurverein vor - ob aufstrebender Newcomer oder gestrauchelter Traditionsklub, ob kleiner Dorf- oder städtischer Großverein, ob Oberligist oder C-Ligist, ob Jugendspielgemeinschaft oder reine Hobbytruppe. Wir zeigen, wie besonders der deutsche Fußball-Alltag ist. Heute: Prothesen-Kicker Manuel Ortega.

"Hannovers tapferster Fußballer"

Der bekannteste Sportler der Welt mit Prothese heißt Oscar Pistorius. Kürzlich gehörten dem Leichtathleten aus Südafrika wieder die Schlagzeilen, als er nach langen Diskussion bei den Olympischen Spielen in London auf seinen Karbonschienen über die 400 Meter startete. Zu diesem Zeitpunkt lag Manuel Ortega in den Schlusszügen der Vorbereitung auf die neue Saison. Auch Ortega trägt Prothesen, auch er ist ein behinderter Sportler, ohne Behindertensportler zu sein. Der junge Mann aus Hannover spielt Fußball für die TSV Saxonia Hannover, 4. Kreisklasse, Staffel 2.

Die Bild-Zeitung hat ihn "Hannovers tapfersten Fußballer" genannt. Menschen mit Behinderung mögen solche Bezeichnungen nicht. Tapfer, das heißt auch, da ist einer, der es schwer hat, der ein Leid zu tragen hat. Ortega spricht lieber von Mut, wenn er seine ungewöhnliche Geschichte als Fußballer erzählt - davon, wie er wieder mit dem Kicken im Verein angefangen hat und in seinem Team zu einer festen Größe geworden ist. "Es schafft nicht jeder, diesen Mut aufzubringen, darauf bin ich schon ein bisschen stolz", sagt der 21-Jährige.

"Wäre er gesund, würde er nicht bei uns spielen"

Ortega ist keine Eintagsfliege, keine PR-Nummer, kein Maskottchen, das eine Mannschaft mal kurz als Zeichen für Integration und Gleichstellung vorzeigt. "Lolo" geht in seine vierte Saison bei der Turn- und Spielvereinigung. Lolo, so nennen ihn alle hier, es ist eine Abkürzung von Manolo. "Auf Manuel hört er gar nicht. Wenn man den Namen im Spiel ruft, ignoriert er es", sagt Frank Petersen.

Petersen ist seit vergangener Saison Trainer der zweiten Mannschaft. "Unter ihm bin ich aufgeblüht", sagt Ortega. Petersen weiß, dass sein Schützling beim Laufen Probleme hat, dass er nicht richtig sprinten kann, dass er bei Ausdauereinheiten Walkingstöcke zu Hilfe nimmt, um keinen Krampf zu bekommen - aber es stört den Coach nicht. "Wenn der Junge den Ball in den Fuß kriegt, ist er eine Bank", meint Petersen. "Er kann den tödlichen Pass spielen, ist technisch versiert und sehr ehrgeizig. Wäre er komplett gesund, würde er nicht bei uns spielen."

Amputation im Alter von neun Jahren

Gesund war Manuel Ortega bis zu seinem neunten Lebensjahr. Dann kam die Diagnose: Krebs. Ein Tumor im Kniegelenk. Die Familie entschied sich gegen eine Vollamputation. Stattdessen wurde ein kompliziertes Verfahren namens Umkehrplastik durchgeführt. Der größte Teil des Oberschenkels wurde entfernt, der Unterschenkel nach oben versetzt und um 180 Grad gedreht, so dass der Fuß bei Ortega nun den Ersatz für das Kniegelenk bildet. Darunter ist die Prothese nötig, sie führt hoch bis zum Becken, "wegen der Stabilität", wie Ortega erklärt.

Vier Jahre nach der Operation trat er zum ersten Mal wieder gegen den Ball. Vier Jahre voller Krankengymnastik und Muskelaufbau. Endlich konnte er wieder Atmosphäre, Geruch, Geräusche und Spaß des Bolzplatzes genießen. "Ohne Fußball", sagt Ortega, "könnte ich gar nicht leben."

Mit 18 tat er sich mit einigen Freunden zusammen und schloss sich der TSV Saxonia an. Eine zweite Mannschaft wurde aufgemacht, ein Sammelsurium verschiedenster Charaktere, Schichten und Kulturen. Elf Nationalitäten sind bei Saxonia II zusammengefasst, hier spielen Serben, Mazedonier, Türken, Libanesen und Spanier. "Dieses Team", unterstreicht Trainer Petersen, "ist etwas ganz Besonderes." Nicht nur wegen Manuel Ortega. Aber auch wegen ihm.

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"Dann kommt auch mal die Grätsche"

Bei besonderen Spielern geht es kaum ohne besondere Behandlung. Doch während es bei manchem Star ein Ausdruck von Attitüde und Divenhaftigkeit ist, wenn er den Ball ausschließlich in den Fuß gespielt haben möchte, ist es bei Ortega die pure Notwendigkeit. Ihn per Steilpass auf die Reise zu schicken, ist sinnlos. "Um richtig rennen zu können, bräuchte ich eine Sportprothese", erklärt er. Doch die ist erstens teuer (rund 20.000 Euro), und zweitens dürfte er damit wohl ohnehin nicht spielen, weil sie im Zweikampf zu gefährlich für die Gegenspieler wäre. Immerhin ist Ortega jetzt eine zweite Prothese genehmigt worden, an die ein spezieller Fuß angebracht ist.

Zwei Prothesen sind "Lolo" bisher beim Fußball zu Bruch gegangen, beide Male im Training. Auch im Spiel legt sich die Zurückhaltung der Gegner, die erstmals auf den Mann mit der Prothese treffen, nach Ortegas Erfahrung schnell. "Viele schauen erst einmal komisch, die meisten unterschätzen mich und sind anfangs etwas zimperlich", berichtet der 21-Jährige, "aber das ist nach ein paar Minuten vorbei, wenn sie sehen, dass ich etwas kann. Dann kommt auch mal die Grätsche." Oscar Pistorius kann das nicht von sich behaupten.