Integrationspreis: Jérome Boateng, der "große Bruder"

Jérôme Boateng sagte zu. Wichtiger noch, er stand zu seinem Wort. Mehrmals schon schaute er in der Sporthalle der Bertolt-Brecht-Oberschule in Spandau vorbei, je nachdem, wie es der Spielplan zulässt. In Spandau sagen sie nicht "kicken", sondern "zocken". Boateng erzählt über seine Besuche: "Ich interessiere mich für die Jungs. Ich will wissen, was für Probleme sie haben, ich will mit ihnen zocken und bekomme selbst mit, wie sie Freude daran haben." Dann tat er den nächsten Schritt. Er hatte die Jungs in ihrer Halle besucht, nun flogen die Kids aus Wilhelmstadt nach Liverpool. Anfield Road, ManCity und Boateng traten dort an. Die Reise, das Hotel, die Tickets – alles bezahlte der "große Bruder". 2012 lud er eine zweite Gruppe nach München ein.

Boateng war der erste prominente Unterstützer. Manuel Schmiedebach, Änis Ben-Hatira, Marcel Ndjeng, Patrick Ebert, Marvin Knoll und Ashkan Dejagah folgten. "MitternachtsSport" war plötzlich eine große Nummer. Öner diskutierte auf einem Hangout von Google+ über Integration mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Johannes B. Kerner hielt die Laudatio, als "MitternachtsSport" den Bambi verliehen bekam. Ihr Rapsong "One Touch" lief in den Charts. Sponsoren, Medienauftritte, Merchandising.

"Ich nutze die Kraft des Fußballs"

Heute spielen sie in drei Hallen die Nacht durch. Immer hält Ismail Öner vor dem ersten Ball eine Rede: über Respekt, Fair Play, Toleranz. Um 20 Uhr geht's los, Abpfiff ist um 3 Uhr nachts. Die Anerkennung ist riesig, in der Halle aber ist alles geblieben wie zu Beginn. Öner sagt: "Ich nutze die Kraft des Fußballs, um die Jugendlichen in die Halle zu locken. Dort biete ich eine Alternative zum Rumhängen. Zur Perspektivlosigkeit." Den kostenlosen Kick bis zur Morgendämmerung begleiten pädagogische Fachkräfte. Für Jungs, die Probleme haben – in der Schule, bei der Jobsuche, mit Drogen –, werden Lösungen entwickelt. Längst ist ein funktionierendes Netzwerk rund um den "MitternachtsSport" entstanden, bestehend aus Schulen, Fußballvereinen, dem Jugendamt, der Polizei, dem Jobcenter.

Die Welt ist im Wandel, auch Wilhelmstadt. Fast 17 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Jeder dritte lebt hier seit der Geburt. Eindeutige Urteile sind schnell nur Vorurteile. Deutschland befindet sich mit Blick auf seine Zuwanderer in einem Schwebezustand. "Wenn man also behauptet, Deutschland sei kein weltoffenes Land oder die Einwanderer wollten sich generell nicht anpassen, steckt man schnell in einem ideologischen Lager", sagt etwa Professor Sebastian Braun von der Berliner Humboldt-Universität. Die Wirklichkeit ist so viel komplexer.

1. FSV Mainz 05 ebenfalls mit dem Integrationspreis ausgezeichnet

Auch der 1. FSV Mainz 05 wird mit dem Integrationspreis ausgezeichnet. Als bester Amateurverein Türkgücü Kassel. In der Kategorie "Schule" die Grundschule Bergstraße/Hermann-Röchling-Höhe in Völklingen. Teilhabe, eine Willkommenskultur, Werte und Regeln, Gemeinsamkeit – darum geht es immer. Mainzer Profispieler wie Maxim Choupo-Moting, Malik Fathi oder Yunus Malli besuchen Schulen und berichten über ihre Heimatländer. Türkgücü Kassel lädt die Bewohner der Kasseler Nordstadt einmal im Jahr zum internationalen "Kultur und Sport"-Fest ein. An der Modellschule für Inklusion von körperlich und geistig behinderten Kindern in Völklingen haben 73 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Fußball bringt die Schüler näher.

Pep Guardiola saß im Publikum und applaudierte, als Ismail Öner den Bambi entgegennahm. Nach der Gala war der Bayern-Trainer der erste Gratulant, was man durchaus als Zeichen für die wachsende Bedeutung sozialer Anliegen bei den Bundesligaklubs interpretieren darf. "Wir sind eins", sagte Öner als letzten Satz seiner Ansprache, bevor er mit dem Bambi die große Bühne verließ. Ein Fußball, eine Leidenschaft, eine Verpflichtung.

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Vor drei Jahren gründete Jérôme Boateng gemeinsam mit einem Berliner Sozialpädagogen den Verein "MitternachtsSport". 300 Kids aus einem sozialen Brennpunkt spielen seitdem nachts Fußball. Ihnen wird geholfen: bei Schulproblemen, bei der Jobsuche, wenn sie straffällig oder drogenabhängig werden. Boatengs Projekt läuft ausgezeichnet. Dafür gab es den Bambi. Und jetzt den DFB- und Mercedes-Benz-Integrationspreis.

Tuu-uut. Tuu-uut. Tuu-uut. Abwarten, ruhig Blut. Nur diesen Anruf, mehr braucht es nicht. Zum Durchstarten. "Ich wusste, meine Idee funktioniert. Aber irgendwie fehlte noch etwas: ein Vorbild." Ein Pate, ein "großer Bruder". So dachte Ismail Öner, als er im Frühjahr 2010 die Mobilnummer von Jérôme Boateng wählte. Der Sozialpädagoge rief bei einem kommenden Weltklasse-Spieler an. Auf dem Sprung vom HSV zu Manchester City, da stand Boateng damals in seiner Karriere. Vom Berliner Hochtalentierten bis zum WM-Teilnehmer und Triple-Sieger. Wie seine beiden Brüder war er in Berlin aufgewachsen, aber während George und Kevin im Brennpunkt Wedding groß wurden, verbrachte Jérôme seine Kindheit in Charlottenburg. Fußball spielten sie gemeinsam, in einem Käfig am Flüsschen Panke in Wedding.

Jérôme Boateng hat den Ort seiner fußballerischen Sozialisation später mal so beschrieben: "Der Asphalt, das stundenlange Spiel, sogar Lampen haben wir aufgestellt. Die Jungs haben ihren Frust rausgehauen, ich musste voll dagegenhalten. Wichtig war dann für meine fußballerische Entwicklung, dass ich mich auf meine spielerischen Mittel konzentriert habe." Härte und Finesse, Wille und Talent und Brüder, die auf einem Asphaltplatz bis in die Nacht gemeinsam Fußball spielen. Das war die Vorgeschichte für Boatengs Zusage.

"Die Reduzierung der Kosten ist das Ziel"

Der Sozialpädagoge Öner ist heute 35 Jahre alt. "Im Endeffekt", sagt er, "ist immer die Reduzierung der Kosten das Ziel. Wenn die Eltern erst mal gesetzliche Hilfen etwa für den Drogenentzug oder andere Therapien beantragen müssen, wird's schnell kostenintensiv." Seit inzwischen zwölf Jahren arbeitet er als Sozialpädagoge. Als die Berliner Polizei die Heerstraße in Spandau als kriminalitätsbelasteten Ort einstufte, hatte Öner plötzlich auch seine Aufgabe.

Wilhelmstadt, ein Bezirk in Spandau, der 1897 den kaiserlichen Namen verliehen bekommen hatte, befand sich im freien Fall. Wettbüros und Bordelle zogen dort ein, wo früher Tante-Emma-Läden Lebensmittel und nachbarschaftlichen Zusammenhalt angeboten hatten. Besserverdienende flohen. Wohnungen standen leer. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 20 Prozent. Nachts kam es zu Schlägereien, immer häufiger zu Schießereien. Öner sagt: "Eine Gruppe von etwa 30 Jugendlichen, die meisten mit einem Migrationshintergrund, legte den Stadtteil lahm. Für mich stand fest: Jetzt muss etwas passieren."

Boateng: "Ich interessiere mich für die Jungs"

Tuu-uut. Tuu-uut. Tuu-uut. Öner erinnert sich wie heute: "Ich kannte seine damalige Lebensgefährtin, die hatte ihm von unserem Projekt erzählt. Wie jeder weiß, ist Jérôme ein unglaublich freundlicher und höflicher Mensch. Er hat sich dann noch bedankt, dass ich ihn gefragt hatte. Ich legte auf und dachte: 'Wow, Boateng macht mit.'"

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Jérôme Boateng sagte zu. Wichtiger noch, er stand zu seinem Wort. Mehrmals schon schaute er in der Sporthalle der Bertolt-Brecht-Oberschule in Spandau vorbei, je nachdem, wie es der Spielplan zulässt. In Spandau sagen sie nicht "kicken", sondern "zocken". Boateng erzählt über seine Besuche: "Ich interessiere mich für die Jungs. Ich will wissen, was für Probleme sie haben, ich will mit ihnen zocken und bekomme selbst mit, wie sie Freude daran haben." Dann tat er den nächsten Schritt. Er hatte die Jungs in ihrer Halle besucht, nun flogen die Kids aus Wilhelmstadt nach Liverpool. Anfield Road, ManCity und Boateng traten dort an. Die Reise, das Hotel, die Tickets – alles bezahlte der "große Bruder". 2012 lud er eine zweite Gruppe nach München ein.

Boateng war der erste prominente Unterstützer. Manuel Schmiedebach, Änis Ben-Hatira, Marcel Ndjeng, Patrick Ebert, Marvin Knoll und Ashkan Dejagah folgten. "MitternachtsSport" war plötzlich eine große Nummer. Öner diskutierte auf einem Hangout von Google+ über Integration mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Johannes B. Kerner hielt die Laudatio, als "MitternachtsSport" den Bambi verliehen bekam. Ihr Rapsong "One Touch" lief in den Charts. Sponsoren, Medienauftritte, Merchandising.

"Ich nutze die Kraft des Fußballs"

Heute spielen sie in drei Hallen die Nacht durch. Immer hält Ismail Öner vor dem ersten Ball eine Rede: über Respekt, Fair Play, Toleranz. Um 20 Uhr geht's los, Abpfiff ist um 3 Uhr nachts. Die Anerkennung ist riesig, in der Halle aber ist alles geblieben wie zu Beginn. Öner sagt: "Ich nutze die Kraft des Fußballs, um die Jugendlichen in die Halle zu locken. Dort biete ich eine Alternative zum Rumhängen. Zur Perspektivlosigkeit." Den kostenlosen Kick bis zur Morgendämmerung begleiten pädagogische Fachkräfte. Für Jungs, die Probleme haben – in der Schule, bei der Jobsuche, mit Drogen –, werden Lösungen entwickelt. Längst ist ein funktionierendes Netzwerk rund um den "MitternachtsSport" entstanden, bestehend aus Schulen, Fußballvereinen, dem Jugendamt, der Polizei, dem Jobcenter.

Die Welt ist im Wandel, auch Wilhelmstadt. Fast 17 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Jeder dritte lebt hier seit der Geburt. Eindeutige Urteile sind schnell nur Vorurteile. Deutschland befindet sich mit Blick auf seine Zuwanderer in einem Schwebezustand. "Wenn man also behauptet, Deutschland sei kein weltoffenes Land oder die Einwanderer wollten sich generell nicht anpassen, steckt man schnell in einem ideologischen Lager", sagt etwa Professor Sebastian Braun von der Berliner Humboldt-Universität. Die Wirklichkeit ist so viel komplexer.

1. FSV Mainz 05 ebenfalls mit dem Integrationspreis ausgezeichnet

Auch der 1. FSV Mainz 05 wird mit dem Integrationspreis ausgezeichnet. Als bester Amateurverein Türkgücü Kassel. In der Kategorie "Schule" die Grundschule Bergstraße/Hermann-Röchling-Höhe in Völklingen. Teilhabe, eine Willkommenskultur, Werte und Regeln, Gemeinsamkeit – darum geht es immer. Mainzer Profispieler wie Maxim Choupo-Moting, Malik Fathi oder Yunus Malli besuchen Schulen und berichten über ihre Heimatländer. Türkgücü Kassel lädt die Bewohner der Kasseler Nordstadt einmal im Jahr zum internationalen "Kultur und Sport"-Fest ein. An der Modellschule für Inklusion von körperlich und geistig behinderten Kindern in Völklingen haben 73 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Fußball bringt die Schüler näher.

Pep Guardiola saß im Publikum und applaudierte, als Ismail Öner den Bambi entgegennahm. Nach der Gala war der Bayern-Trainer der erste Gratulant, was man durchaus als Zeichen für die wachsende Bedeutung sozialer Anliegen bei den Bundesligaklubs interpretieren darf. "Wir sind eins", sagte Öner als letzten Satz seiner Ansprache, bevor er mit dem Bambi die große Bühne verließ. Ein Fußball, eine Leidenschaft, eine Verpflichtung.