Integrationsforscher Gebken: "Fußball kann ein Hebel sein"

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Mädchen aus Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte spielten lange Zeit keinen Fußball. Im Sport überhaupt sind Töchter aus muslimischen Familien bis heute unterrepräsentiert. Dr. Ulf Gebken wollte daran etwas ändern - wegen der positiven Effekte für die Gesundheit und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das war Ende der 90er-Jahre.

Heute ist Gebkens Projekt "Soziale Integration von Mädchen durch Fußball", das der DFB von 2006 bis 2009 gefördert hatte, ein bundesweites Erfolgsmodell. Anlässlich des DFB-und Mercedes-Benz-Integrationspreises 2011, der heute in Berlin im Beisein von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel verliehen wird, hat Redakteur Thomas Hackbarth im DFB.de-Interview mit Gebken, dem Leiter des Instituts "Integration durch Sport und Bildung" der Universität Oldenburg, gesprochen.

DFB.de: Herr Dr. Gebken, die Projekte haben unterschiedliche Namen: "Kicking Girls", "Mädchen Mittendrin" oder "Golden Goal". Dahinter steckt immer Ihre Idee. Wie fing denn alles an?

Dr. Ulf Gebken: 1998 suchte ein Mann im Oldenburger Stadtteil-Ohmstede einen Fußballverein für seine Tochter - vergeblich. Gemeinsam mit seiner Tochter startete der Vater an der Grundschule eine Mädchenfußball-AG, und die Klassenkameradinnen, zumeist Mädchen mit Migrationshintergrund, spielten begeistert mit.

DFB.de: Klingt alltäglich. Was hat Sie daran interessiert?

Gebken: Mädchen mit Migrationshintergrund in Stadtteilen, die durch besondere soziale Probleme geprägt sind, leiden oft darunter, gesellschaftlich an den Rand gedrängt zu werden. Bis heute sind sie im Sport unterrepräsentiert. Die Quote der Vereinszugehörigkeit liegt deutschlandweit bei unter fünf Prozent, für deutsche Jugendliche bei rund 35 Prozent. Es besteht also Bedarf. Fußball kann ein Hebel der Emanzipation sein. Der ältere Bruder oder der Vater sehen die Schwester oder Tochter in einem ganz anderen Umfeld. Das Rollenverhalten verändert sich.

DFB.de: Viele würden sagen: "Wir spielen doch nur Fußball." Aber Sie reden von Emanzipation und Integration. Wie soll das zusammenhängen?

Gebken: Wie viele Stunden in der Woche schauen wir Spiele, Berichte und studieren Tabellen? Wie viele Menschen pilgern jedes Wochenende in die Stadien? Dieser symbolisch verdichtete Raum gesellschaftlicher Interaktion ist keineswegs in sich geschlossen. Hier werden Rollenbilder reflektiert und konstruiert. Sportpraktiken thematisieren Körperverständnis, Geschlecht und Zugehörigkeit. Für Mädchen aus Zuwandererfamilien war darin bis vor kurzem kein Platz, ihre Rolle wurde durch ihre Nicht-Teilnahme definiert.

DFB.de: Wie ging es nach dem Start in Oldenburg weiter?

Gebken: Zwischen 2006 und 2009 wurde im Auftrag des DFB ein Modellprojekt durchgeführt, das wir schön akademisch und etwas schwerfällig "Soziale Integration von Mädchen durch Fußball" nannten. Da ist "Kicking Girls" schon besser. (lacht) Jedenfalls brachten wir an zehn Standorten in Deutschland Schulen und Fußballvereine zusammen. Mädchenfußball-AGs wurden gegründet, Turniere ausgetragen, etwas ältere Mädchen als Übungsleiterinnen ausgebildet. Gekickt wurde während der Schulzeit und unter Leitung von ehrenamtlichen Vereinstrainern. Mittlerweile wird unsere Idee in Projekten an 150 Standorten umgesetzt.

DFB.de: Ein bundesweites Erfolgsmodell also. Gab es Auszeichnungen?

Gebken: Seit 2010 fördert die Laureus-Stiftung unser Projekt. Im Nationalen Integrationsplan 2009 hat die Bundesregierung unser Projekt als vorbildlich gewürdigt.

DFB.de: Sind schon große Talente entdeckt worden?

Gebken: Mal abwarten, so lange gibt es uns noch nicht. Das Projekt trägt jedenfalls dazu bei, dass wir uns besser verstehen. Gerade der Fußball ist doch eine perfekte Begegnungsstätte von Deutschen, Migranten und Ausländern. Es geht dabei um eine Willkommenskultur, um das Anerkennen von Regeln und um Toleranz. Einige unserer Mädchen fassen den Entschluss, ohne Kopftuch Fußball zu spielen. Dass sie diese Entscheidung fällen und durchsetzen, finde ich bewundernswert.

DFB.de: Fußball-Weltmeisterin Nia Künzer spricht davon, dass "durch 'Kicking Girls' viele Schülerinnen Hürden überwinden, die ihnen von Haus aus gesetzt werden".

Gebken: Ja, dass Mädchen selbstbestimmt Sport treiben, dabei eben auch gesundheitlich profitieren und selbstbewusster werden, ist doch eine positive Entwicklung. Aber wir wollen sicher keine einseitige Anpassung forcieren. Auch der Fußball in Deutschland ist gefordert, eine noch stärkere Willkommenskultur zu entwickeln. Ich denke dabei etwa an die höheren Positionen im Ehrenamt oder an die Besetzung der Sportgerichte - bis heute sind Menschen mit Migrationshintergrund hier zu wenig vertreten.

DFB.de: Mit "SPIN" durch das Land NRW und dem DOSB-Projekt "Integration durch Sport" verfolgen weitere Träger den gleichen Ansatz. Freut Sie das?

Gebken: Natürlich. Ich meine aber auch, dass unser Ansatz der stärkste ist. 73,9 Prozent der Teilnehmerinnen unserer Projekte entstammen Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte. Dieser hohe Anteil liegt weit vor "SPIN" und "Integration durch Sport", bei denen nur 19 und 17 Prozent der Teilnehmerinnen tatsächlich Mädchen mit Migrationshintergrund sind. Wir haben in Zusammenarbeit mit den Schulen neue Wege und Methoden der Ansprache gefunden. Zudem sind inzwischen 80 Prozent unserer AG-Leiter weiblich. Ein ganz wichtiger Schritt, um das Vertrauen muslimischer Eltern zu gewinnen.

DFB.de: Gab es nicht auch Ablehnung bei den Familien?

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Gebken: Der Schule wird ein großer Vertrauensvorschuss gegeben. Bei den Vereinen hat es sich im Einzelfall als erfolgreich erwiesen, auch mal einen Migrantenverein als Partner einzubinden. Irgendwann steht der Papa am Spielfeldrand und erlebt, mit welcher Begeisterung seine Tochter Fußball spielt. Das sind tolle Momente.

DFB.de: Leistet nicht Mesut Özil viel mehr für die Integration als alle gutgemeinte Basisarbeit?

Gebken: Ich halte wenig davon, diese Entwicklungen gegeneinander auszuspielen. Mesut Özil ist ein doppelter Glücksfall: auf dem Platz für den deutschen Fußball und außerhalb für die gesellschaftspolitische Aufgabe der Integration. Mesut Özil setzt sich über seine Leistung durch. Bei uns geht es um ein freiwilliges soziales Engagement. Beide Botschaften sind wichtig.

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Mädchen aus Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte spielten lange Zeit keinen Fußball. Im Sport überhaupt sind Töchter aus muslimischen Familien bis heute unterrepräsentiert. Dr. Ulf Gebken wollte daran etwas ändern - wegen der positiven Effekte für die Gesundheit und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das war Ende der 90er-Jahre.

Heute ist Gebkens Projekt "Soziale Integration von Mädchen durch Fußball", das der DFB von 2006 bis 2009 gefördert hatte, ein bundesweites Erfolgsmodell. Anlässlich des DFB-und Mercedes-Benz-Integrationspreises 2011, der heute in Berlin im Beisein von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel verliehen wird, hat Redakteur Thomas Hackbarth im DFB.de-Interview mit Gebken, dem Leiter des Instituts "Integration durch Sport und Bildung" der Universität Oldenburg, gesprochen.

DFB.de: Herr Dr. Gebken, die Projekte haben unterschiedliche Namen: "Kicking Girls", "Mädchen Mittendrin" oder "Golden Goal". Dahinter steckt immer Ihre Idee. Wie fing denn alles an?

Dr. Ulf Gebken: 1998 suchte ein Mann im Oldenburger Stadtteil-Ohmstede einen Fußballverein für seine Tochter - vergeblich. Gemeinsam mit seiner Tochter startete der Vater an der Grundschule eine Mädchenfußball-AG, und die Klassenkameradinnen, zumeist Mädchen mit Migrationshintergrund, spielten begeistert mit.

DFB.de: Klingt alltäglich. Was hat Sie daran interessiert?

Gebken: Mädchen mit Migrationshintergrund in Stadtteilen, die durch besondere soziale Probleme geprägt sind, leiden oft darunter, gesellschaftlich an den Rand gedrängt zu werden. Bis heute sind sie im Sport unterrepräsentiert. Die Quote der Vereinszugehörigkeit liegt deutschlandweit bei unter fünf Prozent, für deutsche Jugendliche bei rund 35 Prozent. Es besteht also Bedarf. Fußball kann ein Hebel der Emanzipation sein. Der ältere Bruder oder der Vater sehen die Schwester oder Tochter in einem ganz anderen Umfeld. Das Rollenverhalten verändert sich.

DFB.de: Viele würden sagen: "Wir spielen doch nur Fußball." Aber Sie reden von Emanzipation und Integration. Wie soll das zusammenhängen?

Gebken: Wie viele Stunden in der Woche schauen wir Spiele, Berichte und studieren Tabellen? Wie viele Menschen pilgern jedes Wochenende in die Stadien? Dieser symbolisch verdichtete Raum gesellschaftlicher Interaktion ist keineswegs in sich geschlossen. Hier werden Rollenbilder reflektiert und konstruiert. Sportpraktiken thematisieren Körperverständnis, Geschlecht und Zugehörigkeit. Für Mädchen aus Zuwandererfamilien war darin bis vor kurzem kein Platz, ihre Rolle wurde durch ihre Nicht-Teilnahme definiert.

DFB.de: Wie ging es nach dem Start in Oldenburg weiter?

Gebken: Zwischen 2006 und 2009 wurde im Auftrag des DFB ein Modellprojekt durchgeführt, das wir schön akademisch und etwas schwerfällig "Soziale Integration von Mädchen durch Fußball" nannten. Da ist "Kicking Girls" schon besser. (lacht) Jedenfalls brachten wir an zehn Standorten in Deutschland Schulen und Fußballvereine zusammen. Mädchenfußball-AGs wurden gegründet, Turniere ausgetragen, etwas ältere Mädchen als Übungsleiterinnen ausgebildet. Gekickt wurde während der Schulzeit und unter Leitung von ehrenamtlichen Vereinstrainern. Mittlerweile wird unsere Idee in Projekten an 150 Standorten umgesetzt.

DFB.de: Ein bundesweites Erfolgsmodell also. Gab es Auszeichnungen?

Gebken: Seit 2010 fördert die Laureus-Stiftung unser Projekt. Im Nationalen Integrationsplan 2009 hat die Bundesregierung unser Projekt als vorbildlich gewürdigt.

DFB.de: Sind schon große Talente entdeckt worden?

Gebken: Mal abwarten, so lange gibt es uns noch nicht. Das Projekt trägt jedenfalls dazu bei, dass wir uns besser verstehen. Gerade der Fußball ist doch eine perfekte Begegnungsstätte von Deutschen, Migranten und Ausländern. Es geht dabei um eine Willkommenskultur, um das Anerkennen von Regeln und um Toleranz. Einige unserer Mädchen fassen den Entschluss, ohne Kopftuch Fußball zu spielen. Dass sie diese Entscheidung fällen und durchsetzen, finde ich bewundernswert.

DFB.de: Fußball-Weltmeisterin Nia Künzer spricht davon, dass "durch 'Kicking Girls' viele Schülerinnen Hürden überwinden, die ihnen von Haus aus gesetzt werden".

Gebken: Ja, dass Mädchen selbstbestimmt Sport treiben, dabei eben auch gesundheitlich profitieren und selbstbewusster werden, ist doch eine positive Entwicklung. Aber wir wollen sicher keine einseitige Anpassung forcieren. Auch der Fußball in Deutschland ist gefordert, eine noch stärkere Willkommenskultur zu entwickeln. Ich denke dabei etwa an die höheren Positionen im Ehrenamt oder an die Besetzung der Sportgerichte - bis heute sind Menschen mit Migrationshintergrund hier zu wenig vertreten.

DFB.de: Mit "SPIN" durch das Land NRW und dem DOSB-Projekt "Integration durch Sport" verfolgen weitere Träger den gleichen Ansatz. Freut Sie das?

Gebken: Natürlich. Ich meine aber auch, dass unser Ansatz der stärkste ist. 73,9 Prozent der Teilnehmerinnen unserer Projekte entstammen Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte. Dieser hohe Anteil liegt weit vor "SPIN" und "Integration durch Sport", bei denen nur 19 und 17 Prozent der Teilnehmerinnen tatsächlich Mädchen mit Migrationshintergrund sind. Wir haben in Zusammenarbeit mit den Schulen neue Wege und Methoden der Ansprache gefunden. Zudem sind inzwischen 80 Prozent unserer AG-Leiter weiblich. Ein ganz wichtiger Schritt, um das Vertrauen muslimischer Eltern zu gewinnen.

DFB.de: Gab es nicht auch Ablehnung bei den Familien?

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Gebken: Der Schule wird ein großer Vertrauensvorschuss gegeben. Bei den Vereinen hat es sich im Einzelfall als erfolgreich erwiesen, auch mal einen Migrantenverein als Partner einzubinden. Irgendwann steht der Papa am Spielfeldrand und erlebt, mit welcher Begeisterung seine Tochter Fußball spielt. Das sind tolle Momente.

DFB.de: Leistet nicht Mesut Özil viel mehr für die Integration als alle gutgemeinte Basisarbeit?

Gebken: Ich halte wenig davon, diese Entwicklungen gegeneinander auszuspielen. Mesut Özil ist ein doppelter Glücksfall: auf dem Platz für den deutschen Fußball und außerhalb für die gesellschaftspolitische Aufgabe der Integration. Mesut Özil setzt sich über seine Leistung durch. Bei uns geht es um ein freiwilliges soziales Engagement. Beide Botschaften sind wichtig.