Immer Würde, manchmal Bürde: die deutschen Kapitäne

Mit dieser Information wird man jede Stammtischwette gewinnen: Wie viel Spielführer hatte die deutsche Nationalmannschaft bisher? Der Text von Historiker und Autor Udo Muras gibt die Antwort.

Ein kleiner Tipp: Michael Ballack, der nun bei der WM zusehen muss, war die Nummer 100. Der Streifzug durch die WM-Historie zeigt ferner, dass Deutschland mit starken Kapitänen besonders erfolgreich war.

Ballack: 55-mal Kapitän

Ohne ihren verletzten Kapitän Michael Ballack fährt die Nationalmannschaft zur WM nach Südafrika. Wie schwer der Verlust ist, wird sich zeigen. Eine Zahl aus der 102-jährigen Länderspielgeschichte dokumentiert jedenfalls seinen außerordentlichen Stellenwert. In seinen 98 Länderspielen trug er 55-mal die Spielführerbinde – nur Rekordnationalspieler Lothar Matthäus (75) hat ihm in dieser Hinsicht etwas voraus.

Die ersten Sieben dieser Wertung führten Deutschland alle in ein WM-Finale, das Ballack 2002 dann nur wegen einer Sperre verpasste. Und wenn der Krieg Fritz Walter nicht acht Jahre gestohlen hätte, stünde auch der Anführer der Berner Helden nicht nur auf Platz neun.

Der Schluss, dass eine erfolgreiche deutsche Mannschaft bei WM-Endrunden einen starken Kapitän braucht, liegt also nahe. Der Umkehrschluss würde jedoch verdienten Nationalspielern wie Hans Schäfer (Kapitän 1958 – 1962) oder Berti Vogts, der 1978 in Argentinien bei der legendären Schmach von Cordoba zum 20. und letzten Mal die Binde trug, nicht ganz gerecht werden.

Sportlich und menschlich eine Vorbildfunktion

Dennoch profitierte Deutschland bei WM-Turnieren stets von seinen großen Führungspersönlichkeiten – weil sie nicht nur Fußballer waren. Im Idealfall nimmt der Kapitän auch neben dem Platz Einfluss auf die Mannschaft, vertritt ihre Interessen und ist zugleich die rechte Hand des Trainers. Möglichst erfüllt er sowohl sportlich als auch menschlich eine Vorbildfunktion.

Schon sind wir bei Fritz Walter, dem ersten Ehrenspielführer des DFB. Diese Auszeichnung wurde ihm von Präsident Peco Bauwens ganz spontan am Abend nach dem Finale von Bern 1954 verliehen und hätte keinen Besseren finden können. Der bescheidene Kaiserslauterer war nicht nur der beste deutsche Spieler seiner Epoche, sondern auch stets guter Kamerad, der den Zusammenhalt propagierte und noch 1958 aus Schweden Postkarten an alle Weltmeister schrieb.

Da er aber stets von Selbstzweifeln geplagt war und vor wichtigen Spielen vor Nervosität schon mal einen Prosecco trank, taugte er nicht gerade zum Platzhirschen. Bundestrainer Sepp Herberger forderte ihn immer wieder vergeblich auf, auf dem Platz lauter zu sein.

Dennoch war er für ihn unverzichtbar. Der Chef und sein Kapitän – es war die wohl innigste Allianz zwischen einem Trainer und einem Spieler in der Geschichte des deutschen Sports. Wie sagte Reservist Alfred Pfaff gern? „Der Fritz war halt sein Sohn.“

"Weltmeister. Ehrenspielführer. Mensch."

Fritz Walter hatte so vieles, aber ohne Herberger wäre er nie geworden, was er bis heute, acht Jahre nach seinem Tode, ist. Noch 1991 schrieb die „Zeit“, er sei „neben Konrad Adenauer die bedeutendste Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte. Weltmeister. Ehrenspielführer. Mensch.“ Ratgeber auch. Als Walter Herberger in Spiez beim Spaziergang um dem Thuner See riet, vor dem Viertelfinale doch endlich seinen nervigen Zimmerpartner Helmut Rahn für den Schalker Berni Klodt in die Mannschaft zu nehmen, weil Rahn ihm damit dauernd in den Ohren liege, folgte ihm der Chef.

Das Ergebnis ist bekannt: Deutschland wurde Weltmeister dank zweier Rahn-Tore im Finale gegen die Ungarn. Nach einem Doppelpass zwischen Bundestrainer und Kapitän.

In Uwe Seeler, dem zweiten deutschen Ehrenspielführer, hatte Walter seinen vielleicht würdigsten Nachfolger. Der Hamburger war der vielleicht populärste deutsche Nationalspieler. Selbst die überaus nüchternen TV-Reporter der Sechziger Jahre kommentierten Ballstafetten bei der WM in England schon mal so: „Haller – Beckenbauer – Uwe, schieß doch!“. Hamburgs „Uns Uwe“ wurde zu Deutschlands Uwe, jedenfalls wenn die Nationalmannschaft spielte.

Als die Vize-Weltmeister 1966 in Frankfurt empfangen wurden, riefen die Massen nicht etwa „Deutschland“ sondern „Uwe, Uwe“. Aus gutem Grund. Auch Seeler war ein untadeliger Sportsmann und ein Kämpfer. Herberger gab dem Mittelstürmer schon mit 25 die Binde. 40mal trug er sie, unter anderem in zwei der größten Dramen der DFB-Geschichte. 1966 im legendären Wembley-Finale und 1970 im Spiel des Jahrhunderts gegen Italien hatte Deutschland Grund zur Klage über den Schiedsrichter.

Es war unter anderem Seelers Verdienst, dass die Mannschaft die Fehlentscheidungen sportlich hinnahm und erst schimpfte, als die Kameras aus waren. Denn schimpfen konnte der Uwe, da war er ganz anders als Fritz Walter.

"Bringen Sie den Beckenbauer"

Auch Seeler genoss das Vertrauen der Bundestrainer und spielte Schicksal. Vor dem entschei-denden Qualifikationsspiel zur WM 1966 in Schweden fragte ihn Helmut Schön: „In München spielt ein junger Mann namens Franz Beckenbauer. Der ist zwar erst 20, aber am Ball kann er schon alles. Soll ich ihn in Stockholm bringen?“ Seeler erwiderte: „Sie, Herr Schön, sind der Boss. Wir packen das, ich bin dabei. Bringen Sie den Beckenbauer.“

Deutschland gewann mit 2:1 und an diesem Tag auch seinen vielleicht größten Nationalspieler, der ein glänzendes Debüt gab. Damit ebnete Seeler seinem Nachfolger Spielführer den Weg. Nach der WM 1970 trat er zurück und am 25. April 1971 trug der Bayern-Libero erstmals die begehrte Binde, die in der DFB-Historie bis dato über 111 Spieler anvertraut wurde. Michael Ballack war übrigens der 100. deutsche Kapitän und ein würdiger Jubilar.

Der ungeschriebene Grundsatz, dass sie stets derjenige mit den meisten Einsätzen bekommen soll, wurde meist geheiligt. Als Berti Vogts ihn 1995 einmal verletzte und Jürgen Klinsmann beförderte, überlegte Jürgen Kohler sogar zurückzutreten.

Auch Beckenbauer hatte einen Widersacher und rangelte anfangs mit Wolfgang Overath um das würdevolle Amt, aber von März 1972 bis Februar 1977 war dann Kaiser-Zeit. 47mal in Serie, das ist DFB-Rekord, war Beckenbauer Spielführer. Die Binde schien rund fünf Jahre festgewachsen am Oberarm des Weltklassespielers, in dessen Ära riesige Erfolge fielen: Europameister 1972 und Weltmeister 1974 im eigenen Land sowie ein zweiter Platz bei der EM 1976. Beckenbauers Führungsrolle war aufgrund seiner sportlichen Klasse unumstritten, auch wenn er nicht ganz so tugendhaft war wie die beiden Ehrenspielführer vor ihm. Schon mit 17 war er Vater geworden, das war nicht nur dem DFB suspekt. Noch mit 28 setzte er sich unbefugt ans Steuer des Mannschaftsbusses und rammte in Malente einen riesigen Findling, was den Türen schlecht bekam. Und als Kind einer Generation, deren Jugend mit Vergnügen rebellisch war, probte er nicht selten den Aufstand gegen die Obrigkeit. Es war die wilde Zeit der Studentenproteste, auch Männer trugen plötzlich lange Haare und selbst Fußballer stellten plötzlich Fragen.

Kampfabstimmung in Malente

Wieso bekommen wir nur ein Viertel dessen, was die Italiener für den Titel bekommen sollen, fragten die Nationalspieler vor der WM 1974. In Malente entbrannte ein Prämienpoker und es war auch Beckenbauers Verdienst, dass der DFB nicht kurzfristig 22 andere Spieler nominierte, was Präsident Hermann Neuberger bereits bei der Fifa prophylaktisch beantragt hatte, wie Helmut Schön enthüllte. Als es bei der nächtlichen Kampfabstimmung 11:11 stand, gab Beckenbauers Stimme den Ausschlag dafür, das verbesserte Angebot anzunehmen. Schön hatte ihm zugeredet: „Franz! Du verdienst so viel Geld! Wollt ihr jetzt unsere Weltmeisterschaft kaputt machen?“

Da rettete er sie lieber. In der zweiten langen Malente-Nacht spielte Beckenbauer nach dem 0:1 gegen die DDR wieder eine Hauptrolle und putzte die Kollegen runter. Allerdings erneut auf Aufforderung Schöns, der in seiner wohl zu wenig beachteten Biographie von 1978 die Legende vom wilden Kaiser entzauberte: „Ich sagte nun auch mal dem Franz die Meinung: ‚Franz, du bist Kapitän. Und ich erwarte jetzt endlich von dir, dass du auch mal gegenüber deinen Kameraden das Wort ergreifst!’ Er versprach das zu tun. Die Fußball-Legende in Deutschland hat in dieser Nacht ein Wunder geschehen lassen: Franz Beckenbauer soll da zum Kapitän gereift sein. Als Schön nicht mehr weiter wusste, habe Kaiser Franz wirklich das Zepter ergriffen und regiert. Beckenbauer – der eigentliche Chef und Bundestrainer. Ganz so war es eben nicht.“

Die Aufstellung änderte sich jedenfalls und fand Beckenbauers absolute Billigung, wie er in Interviews betonte. Auch der daraus folgende Triumph von München 1974 war ganz wesentlich das Produkt einer funktionierenden Allianz von Bundestrainer und Kapitän.

Beim dritten WM-Triumph 1990 war Beckenbauer selbst Trainer, offiziell „Teamchef“, und vertraute auf Lothar Matthäus, der nach dem Rauswurf Toni Schumachers Anfang 1987 aufgerückt war. Matthäus war aufgrund seiner nicht immer diplomatischen Art für manchen Kollegen eine Reizfigur, aber in Italien ging er mit Leistung voran. Er sagte später: „1990 ist es optimal gelaufen, auf dem Platz und außerhalb. Probleme wie 1974 gab es nicht. Durch die Konstellation mit dieser Mannschaft und Franz Beckenbauer als Trainer war einfach Ruhe da.“

Wieder war der Erfolg ein Produkt beinahe ungetrübter Harmonie zwischen Trainer und Kapitän. Das gelang nicht immer in der DFB-Historie. So arbeitete Matthäus 1994 mit Vogts weit weniger vertrauensvoll zusammen als 1995 – 1998 Jürgen Klinsmann. Karl-Heinz Rummenigge, mit 51 Berufungen die Nummer drei in der Rekordliste, sorgte 1986 in Mexiko für einige Unruhe, als er seinen Reservistenstatus beklagte und sich deshalb öffentlich mit Toni Schumacher stritt.

Das Kapitänsamt – es ist immer Würde, für manchen aber auch Bürde.

Die Rangliste der deutschen Kapitäne nach Einsätzen:

1. Lothar Matthäus 75
2. Michael Ballack 55
3. Karl-Heinz Rummenigge 51
4. Oliver Kahn 50
Franz Beckenbauer 50
6. Uwe Seeler 40
7. Jürgen Klinsmann 36
8. Paul Janes 31
9. Fritz Walter 30
Fritz Szepan 30

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Mit dieser Information wird man jede Stammtischwette gewinnen: Wie viel Spielführer hatte die deutsche Nationalmannschaft bisher? Der Text von Historiker und Autor Udo Muras gibt die Antwort.

Ein kleiner Tipp: Michael Ballack, der nun bei der WM zusehen muss, war die Nummer 100. Der Streifzug durch die WM-Historie zeigt ferner, dass Deutschland mit starken Kapitänen besonders erfolgreich war.

Ballack: 55-mal Kapitän

Ohne ihren verletzten Kapitän Michael Ballack fährt die Nationalmannschaft zur WM nach Südafrika. Wie schwer der Verlust ist, wird sich zeigen. Eine Zahl aus der 102-jährigen Länderspielgeschichte dokumentiert jedenfalls seinen außerordentlichen Stellenwert. In seinen 98 Länderspielen trug er 55-mal die Spielführerbinde – nur Rekordnationalspieler Lothar Matthäus (75) hat ihm in dieser Hinsicht etwas voraus.

Die ersten Sieben dieser Wertung führten Deutschland alle in ein WM-Finale, das Ballack 2002 dann nur wegen einer Sperre verpasste. Und wenn der Krieg Fritz Walter nicht acht Jahre gestohlen hätte, stünde auch der Anführer der Berner Helden nicht nur auf Platz neun.

Der Schluss, dass eine erfolgreiche deutsche Mannschaft bei WM-Endrunden einen starken Kapitän braucht, liegt also nahe. Der Umkehrschluss würde jedoch verdienten Nationalspielern wie Hans Schäfer (Kapitän 1958 – 1962) oder Berti Vogts, der 1978 in Argentinien bei der legendären Schmach von Cordoba zum 20. und letzten Mal die Binde trug, nicht ganz gerecht werden.

Sportlich und menschlich eine Vorbildfunktion

Dennoch profitierte Deutschland bei WM-Turnieren stets von seinen großen Führungspersönlichkeiten – weil sie nicht nur Fußballer waren. Im Idealfall nimmt der Kapitän auch neben dem Platz Einfluss auf die Mannschaft, vertritt ihre Interessen und ist zugleich die rechte Hand des Trainers. Möglichst erfüllt er sowohl sportlich als auch menschlich eine Vorbildfunktion.

Schon sind wir bei Fritz Walter, dem ersten Ehrenspielführer des DFB. Diese Auszeichnung wurde ihm von Präsident Peco Bauwens ganz spontan am Abend nach dem Finale von Bern 1954 verliehen und hätte keinen Besseren finden können. Der bescheidene Kaiserslauterer war nicht nur der beste deutsche Spieler seiner Epoche, sondern auch stets guter Kamerad, der den Zusammenhalt propagierte und noch 1958 aus Schweden Postkarten an alle Weltmeister schrieb.

Da er aber stets von Selbstzweifeln geplagt war und vor wichtigen Spielen vor Nervosität schon mal einen Prosecco trank, taugte er nicht gerade zum Platzhirschen. Bundestrainer Sepp Herberger forderte ihn immer wieder vergeblich auf, auf dem Platz lauter zu sein.

Dennoch war er für ihn unverzichtbar. Der Chef und sein Kapitän – es war die wohl innigste Allianz zwischen einem Trainer und einem Spieler in der Geschichte des deutschen Sports. Wie sagte Reservist Alfred Pfaff gern? „Der Fritz war halt sein Sohn.“

"Weltmeister. Ehrenspielführer. Mensch."

Fritz Walter hatte so vieles, aber ohne Herberger wäre er nie geworden, was er bis heute, acht Jahre nach seinem Tode, ist. Noch 1991 schrieb die „Zeit“, er sei „neben Konrad Adenauer die bedeutendste Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte. Weltmeister. Ehrenspielführer. Mensch.“ Ratgeber auch. Als Walter Herberger in Spiez beim Spaziergang um dem Thuner See riet, vor dem Viertelfinale doch endlich seinen nervigen Zimmerpartner Helmut Rahn für den Schalker Berni Klodt in die Mannschaft zu nehmen, weil Rahn ihm damit dauernd in den Ohren liege, folgte ihm der Chef.

Das Ergebnis ist bekannt: Deutschland wurde Weltmeister dank zweier Rahn-Tore im Finale gegen die Ungarn. Nach einem Doppelpass zwischen Bundestrainer und Kapitän.

In Uwe Seeler, dem zweiten deutschen Ehrenspielführer, hatte Walter seinen vielleicht würdigsten Nachfolger. Der Hamburger war der vielleicht populärste deutsche Nationalspieler. Selbst die überaus nüchternen TV-Reporter der Sechziger Jahre kommentierten Ballstafetten bei der WM in England schon mal so: „Haller – Beckenbauer – Uwe, schieß doch!“. Hamburgs „Uns Uwe“ wurde zu Deutschlands Uwe, jedenfalls wenn die Nationalmannschaft spielte.

Als die Vize-Weltmeister 1966 in Frankfurt empfangen wurden, riefen die Massen nicht etwa „Deutschland“ sondern „Uwe, Uwe“. Aus gutem Grund. Auch Seeler war ein untadeliger Sportsmann und ein Kämpfer. Herberger gab dem Mittelstürmer schon mit 25 die Binde. 40mal trug er sie, unter anderem in zwei der größten Dramen der DFB-Geschichte. 1966 im legendären Wembley-Finale und 1970 im Spiel des Jahrhunderts gegen Italien hatte Deutschland Grund zur Klage über den Schiedsrichter.

Es war unter anderem Seelers Verdienst, dass die Mannschaft die Fehlentscheidungen sportlich hinnahm und erst schimpfte, als die Kameras aus waren. Denn schimpfen konnte der Uwe, da war er ganz anders als Fritz Walter.

"Bringen Sie den Beckenbauer"

Auch Seeler genoss das Vertrauen der Bundestrainer und spielte Schicksal. Vor dem entschei-denden Qualifikationsspiel zur WM 1966 in Schweden fragte ihn Helmut Schön: „In München spielt ein junger Mann namens Franz Beckenbauer. Der ist zwar erst 20, aber am Ball kann er schon alles. Soll ich ihn in Stockholm bringen?“ Seeler erwiderte: „Sie, Herr Schön, sind der Boss. Wir packen das, ich bin dabei. Bringen Sie den Beckenbauer.“

Deutschland gewann mit 2:1 und an diesem Tag auch seinen vielleicht größten Nationalspieler, der ein glänzendes Debüt gab. Damit ebnete Seeler seinem Nachfolger Spielführer den Weg. Nach der WM 1970 trat er zurück und am 25. April 1971 trug der Bayern-Libero erstmals die begehrte Binde, die in der DFB-Historie bis dato über 111 Spieler anvertraut wurde. Michael Ballack war übrigens der 100. deutsche Kapitän und ein würdiger Jubilar.

Der ungeschriebene Grundsatz, dass sie stets derjenige mit den meisten Einsätzen bekommen soll, wurde meist geheiligt. Als Berti Vogts ihn 1995 einmal verletzte und Jürgen Klinsmann beförderte, überlegte Jürgen Kohler sogar zurückzutreten.

Auch Beckenbauer hatte einen Widersacher und rangelte anfangs mit Wolfgang Overath um das würdevolle Amt, aber von März 1972 bis Februar 1977 war dann Kaiser-Zeit. 47mal in Serie, das ist DFB-Rekord, war Beckenbauer Spielführer. Die Binde schien rund fünf Jahre festgewachsen am Oberarm des Weltklassespielers, in dessen Ära riesige Erfolge fielen: Europameister 1972 und Weltmeister 1974 im eigenen Land sowie ein zweiter Platz bei der EM 1976. Beckenbauers Führungsrolle war aufgrund seiner sportlichen Klasse unumstritten, auch wenn er nicht ganz so tugendhaft war wie die beiden Ehrenspielführer vor ihm. Schon mit 17 war er Vater geworden, das war nicht nur dem DFB suspekt. Noch mit 28 setzte er sich unbefugt ans Steuer des Mannschaftsbusses und rammte in Malente einen riesigen Findling, was den Türen schlecht bekam. Und als Kind einer Generation, deren Jugend mit Vergnügen rebellisch war, probte er nicht selten den Aufstand gegen die Obrigkeit. Es war die wilde Zeit der Studentenproteste, auch Männer trugen plötzlich lange Haare und selbst Fußballer stellten plötzlich Fragen.

Kampfabstimmung in Malente

Wieso bekommen wir nur ein Viertel dessen, was die Italiener für den Titel bekommen sollen, fragten die Nationalspieler vor der WM 1974. In Malente entbrannte ein Prämienpoker und es war auch Beckenbauers Verdienst, dass der DFB nicht kurzfristig 22 andere Spieler nominierte, was Präsident Hermann Neuberger bereits bei der Fifa prophylaktisch beantragt hatte, wie Helmut Schön enthüllte. Als es bei der nächtlichen Kampfabstimmung 11:11 stand, gab Beckenbauers Stimme den Ausschlag dafür, das verbesserte Angebot anzunehmen. Schön hatte ihm zugeredet: „Franz! Du verdienst so viel Geld! Wollt ihr jetzt unsere Weltmeisterschaft kaputt machen?“

Da rettete er sie lieber. In der zweiten langen Malente-Nacht spielte Beckenbauer nach dem 0:1 gegen die DDR wieder eine Hauptrolle und putzte die Kollegen runter. Allerdings erneut auf Aufforderung Schöns, der in seiner wohl zu wenig beachteten Biographie von 1978 die Legende vom wilden Kaiser entzauberte: „Ich sagte nun auch mal dem Franz die Meinung: ‚Franz, du bist Kapitän. Und ich erwarte jetzt endlich von dir, dass du auch mal gegenüber deinen Kameraden das Wort ergreifst!’ Er versprach das zu tun. Die Fußball-Legende in Deutschland hat in dieser Nacht ein Wunder geschehen lassen: Franz Beckenbauer soll da zum Kapitän gereift sein. Als Schön nicht mehr weiter wusste, habe Kaiser Franz wirklich das Zepter ergriffen und regiert. Beckenbauer – der eigentliche Chef und Bundestrainer. Ganz so war es eben nicht.“

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Die Aufstellung änderte sich jedenfalls und fand Beckenbauers absolute Billigung, wie er in Interviews betonte. Auch der daraus folgende Triumph von München 1974 war ganz wesentlich das Produkt einer funktionierenden Allianz von Bundestrainer und Kapitän.

Beim dritten WM-Triumph 1990 war Beckenbauer selbst Trainer, offiziell „Teamchef“, und vertraute auf Lothar Matthäus, der nach dem Rauswurf Toni Schumachers Anfang 1987 aufgerückt war. Matthäus war aufgrund seiner nicht immer diplomatischen Art für manchen Kollegen eine Reizfigur, aber in Italien ging er mit Leistung voran. Er sagte später: „1990 ist es optimal gelaufen, auf dem Platz und außerhalb. Probleme wie 1974 gab es nicht. Durch die Konstellation mit dieser Mannschaft und Franz Beckenbauer als Trainer war einfach Ruhe da.“

Wieder war der Erfolg ein Produkt beinahe ungetrübter Harmonie zwischen Trainer und Kapitän. Das gelang nicht immer in der DFB-Historie. So arbeitete Matthäus 1994 mit Vogts weit weniger vertrauensvoll zusammen als 1995 – 1998 Jürgen Klinsmann. Karl-Heinz Rummenigge, mit 51 Berufungen die Nummer drei in der Rekordliste, sorgte 1986 in Mexiko für einige Unruhe, als er seinen Reservistenstatus beklagte und sich deshalb öffentlich mit Toni Schumacher stritt.

Das Kapitänsamt – es ist immer Würde, für manchen aber auch Bürde.

Die Rangliste der deutschen Kapitäne nach Einsätzen:

1. Lothar Matthäus 75
2. Michael Ballack 55
3. Karl-Heinz Rummenigge 51
4. Oliver Kahn 50
Franz Beckenbauer 50
6. Uwe Seeler 40
7. Jürgen Klinsmann 36
8. Paul Janes 31
9. Fritz Walter 30
Fritz Szepan 30