Guus Hiddink: "Deutschland ist ein Vorbild"

Hiddink: Ja und nein. Ein Talent darf man nie in seiner Kreativität bremsen, das wäre ein großer Fehler. Aber es trägt dennoch auch Verantwortung für die Mannschaft. Doch das ist etwas, das den jungen Spielern heute schon in der Jugend beigebracht wird. Auch die großen Talente müssen heute sehr hart arbeiten, diese Einstellung hat sich ein Stück weit geändert. Auf seinen Fähigkeiten allein kann sich keiner mehr ausruhen.

DFB.de: Ist das vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben eines Trainers, die Verbindung des Individuellen mit dem Einsatz für das Kollektiv?

Hiddink: Ja. Als große Talente gelten oft vor allem die Kreativspieler. Und diese können sowohl die große Stärke als auch die große Schwäche sein. Sie können Spiele allein entscheiden, aber sie können auch, wenn sie den Einsatz für ihre Mannschaft vernachlässigen, der entscheidende Nachteil sein. Diese Balance muss man als Trainer hinbekommen.

DFB.de: An welche Fälle in Ihrer Karriere erinnern Sie sich in der Beziehung besonders?

Hiddink: In meiner Zeit als Trainer in Eindhoven in den 80er-Jahren kam Romario zu uns, ein Riesentalent. Er hat jedes Jahr 30, 35 Tore geschossen. Aber im defensiven Bereich hat er nicht viel gemacht. Das hat einigen nicht gefallen. Da habe ich Romario mal im Training in der Abwehr spielen lassen, das hat er mit seinen kräftigen Beinen auch ganz gut gemacht. (lacht) Aber alle haben gemerkt, wie sehr seine Kreativität und sein Torinstinkt uns vorne gefehlt haben. Manchmal muss man die Mannschaft ein bisschen umbauen, den Spielstil einem herausragenden Spieler anpassen, damit der den Unterschied machen kann, damit man Erfolg hat. Das heißt nicht, dass der nur vorne stehen bleibt und auf Bälle wartet. Doch zu sehr einschränken sollte man ihn auch nicht. Davon profitieren alle.

DFB.de: Wie klappt das mit Samuel Eto’o, den Sie jetzt bei Anschi Machatschkala trainieren?

Hiddink: Wir brauchten ein, zwei Monate, in denen wir uns beschnuppert haben. (lacht) Manchmal dauert das ein bisschen. Er ist absolute Weltklasse, ein Spieler, der alles gewonnen und natürlich auch seine eigenen Vorstellungen hat. Inzwischen verstehen wir uns gut, er ist ein sehr guter Kapitän.

DFB.de: Gibt es Spieler, mit denen Sie besonders gerne gearbeitet haben?



[bild1]

Guus Hiddink hat auf vier Kontinenten gearbeitet, hat Real Madrid trainiert, Fenerbahçe Istanbul und den FC Chelsea. Mit den Niederlanden, Südkorea und Australien hat er an einer WM teilgenommen. Weltweit gehört der 66-Jährige zu den profiliertesten Trainern. Im DFB.de-Gespräch der Woche mit Redakteur Gereon Tönnihsen spricht er über die Entwicklung des Fußballs, seine Begegnungen mit Deutschland und Romarios Versuche als Abwehrspieler.

DFB.de: Herr Hiddink, sind Sie ein mutiger Mensch?

Guus Hiddink: Wenn "mutig" heißt, dass ich mit einem Seil um die Füße von einem Felsen springe, dann bin ich nicht mutig, nein. (lacht)

DFB.de: Die Frage bezog sich eher auf Entscheidungen, die nicht Ihr Leben gefährden könnten. Auf den Fußball zum Beispiel.

Hiddink: Im Allgemeinen habe ich keine Angst davor, auch mal negative Erfahrungen zu machen. Als Zuschauer möchte ich mich für meine Mannschaft begeistern, und so versuche ich auch zu spielen. Das können Sie romantisch nennen, aber ich finde, dass man einen Fußball spielen lassen sollte, in dem man sich auch erkennt. Und dazu gehört auch Mut, ein gewisses Risiko, neben den taktischen Vorgaben. Wer Angst hat, Fehler zu machen, kann sich nicht verbessern.

DFB.de: Wie wichtig ist diese Eigenschaft für einen Trainer?

Hiddink: Ich halte sie für wichtig. Wenn man eine Vorstellung vom Fußball hat, sollte man auch versuchen, sie durchzusetzen. Die grundsätzliche Frage ist doch: Warum spielen wir Fußball? Weil wir Tore schießen wollen, das ist das Entscheidende. Und die nächste Frage ist: Wie machen wir das? Das heißt nicht, dass ich naiv bin. Natürlich muss man auch die Defensive im Auge haben, da muss man eine Balance finden.

DFB.de: Wie schwierig ist es, neue Dinge zu probieren?

Hiddink: Nun, bequem ist das sicher nicht. Es ist wichtig, dass man im Verein oder Verband Rückhalt verspürt, dass man dort einen neuen Weg nicht scheut. Wir neigen dazu, dass wir das, was wir haben, festhalten wollen. Das ist auch nicht unbedingt schlecht. Aber man muss bereit sein, sich für Neues zu öffnen. Deutschland ist in dieser Hinsicht ein Vorbild, wenn man sieht, was sich hier in den vergangenen Jahren getan hat. Ich komme gerne dorthin und schaue mir Spiele an. Der Fußball in Deutschland war immer schon gut organisiert, aber die Attraktivität ist viel größer geworden. Fußball kann auch Abenteuer sein.

DFB.de: Sind Sie ein Abenteurer?

Hiddink: Ich denke auf jeden Fall nicht als erstes: Was passiert, wenn es nicht klappt? Ich bin neugierig, ich will dazulernen.

DFB.de: Haben Sie eine konkrete Vorstellung davon, wie per- fekter Fußball aussehen kann?

Hiddink: Fußball ist ein Spiel von Fehlern. Es gibt immer mal wieder Aktionen im Spiel, bei denen man sagt: Das war perfekt. Aber ständige Perfektion gibt es im Fußball nicht.

DFB.de: Gut, aber wie muss der Fußball aussehen, damit er Ihnen gefällt?

Hiddink: Ich kann mich dafür begeistern, wenn Spieler so mit dem Ball umgehen, dass es ganz einfach aussieht und dann auch noch in hohem Tempo. Das kann ich genießen. Und eine Mannschaft muss einen Plan haben, nicht nur, wenn sie in Ballbesitz ist, sondern auch, wenn sie ihn wieder zurückholen will. Man muss bei jedem Spieler sehen, dass er an diesem Plan beteiligt ist, im Spielaufbau, im Angriffsspiel. Keiner ist heute mehr nur Stürmer oder nur Abwehrspieler.

DFB.de: Hat sich der Fußball also verändert?

Hiddink: Nicht verändert, aber entwickelt. Fußball ist Evolution. Das Spiel ist athletischer geworden, schneller. Das verlangt natürlich auch von den Spielern mehr, gerade in der Koordination und in der Ballbehandlung. Umso wichtiger ist es, dass die Jungen und Mädchen schon so früh wie möglich auf hohem Niveau trainieren. Das hat man in vielen Ländern verstanden, auch in Deutschland.

DFB.de: Sie sind in der ganzen Welt herumgekommen. Ist die Spielauffassung überall gleich?

Hiddink: Früher konnte man sehr einfach Unterschiede erken- nen zwischen deutschem Fußball, britischem, spanischem, italienischem oder brasilianischem, in Bezug auf Tempo, Technik, Taktik. Das ist heute nicht mehr so. Der Weltfußball ist transparent geworden, er hat keine großen Geheimnisse mehr. Ich mache den Fernseher an, und sofort habe ich ein Live-Spiel von irgendwo auf der Welt. Das bedeutet natürlich auch, dass man viel sieht, dass man Vorbilder findet, an denen man sich orientiert. Das war früher vor allem die Premier League, später Spanien, inzwischen ist auch Deutschland dazugekommen.

DFB.de: Könnte man also mit alten Spielsystemen heute nichts mehr gewinnen?

Hiddink: Schwierig. Mit einem "Catenaccio" zum Beispiel würden Sie sicher das eine oder andere Spiel noch gewinnen, vielleicht in der WM-Qualifikation die Relegation erreichen. Aber ich glaube nicht, dass das auf Dauer noch erfolgreich wäre.

DFB.de: Gibt es demnach modernen und unmodernen Fußball?

Hiddink: Ja, das kann man sagen. Das fängt ja schon im Training an. Wenn ich mich an meine Zeit als Spieler erinnere: Da gab es Einheiten, in denen wir gar keinen Ball gesehen haben, Hügel rauf, Hügel runter, in den Wald hinein und wieder raus. Ich übertreibe ein bisschen, aber wenn man ein Billard- oder Tennisspieler ist, dann rennt man doch auch nicht nur um den Tisch oder den Platz herum, wenn man besser werden will. Natürlich ist Fußball auch ein Laufsport, aber er ist auch ein Denksport. Wenn ich laufe, dann ist das mit einer Idee verbunden.

DFB.de: Sie sind jetzt 66. Lassen Sie sich noch inspirieren?

Hiddink: Ich hoffe, jeden Tag. Ich schaue mir viele Spiele und Spieler an, analysiere Spielsysteme und schaue, was ich davon für meine Arbeit mitnehmen kann. Ich blicke gerne zurück, aber das kann man an Weihnachten machen. Dann hat man Zeit dazu, in Erinnerungen zu schwelgen. Die Realität ist heute. Man darf nicht stehen bleiben.

DFB.de: Heißt das, Sie sind auch ein Stück weit Fan geblieben?

Hiddink: Das bin ich ganz sicher. Wie gesagt, heute kann man fast jederzeit irgendein Spiel sehen. Und das mache ich auch ziemlich oft. Wir haben in Russland ja andere Zeitzonen, und meine Kollegen und ich schalten dann alle Kanäle durch, bis wir ein Spiel gefunden haben. Dann bleiben wir oft bis drei, vier Uhr in der Nacht wach, um ein Spiel aus England, Deutschland, Spanien oder einem anderen Land zu schauen.

DFB.de: Auch, wenn Sie nicht so gerne zurückschauen: Können Sie sagen, was Sie heute anders machen als früher?

Hiddink: Im Grunde genommen, nicht so viel. Natürlich habe ich mich als Mensch weiterentwickelt. Aber ich habe immer schon versucht, direkt zu sein, dann und wann hart, aber immer fair und menschlich – zu jedem in der Gruppe. Ich bin nicht nur Trainer, sondern auch Lehrer. Was die Trainingsinhalte angeht, war es mir immer wichtig, so viel wie möglich mit dem Ball zu machen, auch das Konditionstraining. Ich schreibe alles auf, und manchmal gucke ich noch in meine alten Unterlagen. So groß sind die Unterschiede nicht. Meine Mannschaften waren eigentlich immer offensiv ausgerichtet, ohne die Defensive zu vernachlässigen.

DFB.de: Bei uns gibt es die Fußball-Weisheit: Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive Meisterschaften. Sehen Sie das auch so?

Hiddink: Das ist ein bisschen schwarz-weiß. Wenn ich sehe, wie die Bayern spielen: Die sind in der Bundesliga uneinholbar vorne. Aber bestimmt nicht, weil sie defensiv betont spielen. Auch Dortmund, das ist eine Mannschaft, die im Angriffsspiel ohne Bremse agiert. Die Trainer sorgen dafür, dass sich die Spieler entfalten können, auch in der Nationalmannschaft ist das so. Ich glaube, dieser Spruch hat heute keine Gültigkeit mehr.

DFB.de: Steht im Fußball das Kollektiv über allem?

Hiddink: Ja und nein. Ein Talent darf man nie in seiner Kreativität bremsen, das wäre ein großer Fehler. Aber es trägt dennoch auch Verantwortung für die Mannschaft. Doch das ist etwas, das den jungen Spielern heute schon in der Jugend beigebracht wird. Auch die großen Talente müssen heute sehr hart arbeiten, diese Einstellung hat sich ein Stück weit geändert. Auf seinen Fähigkeiten allein kann sich keiner mehr ausruhen.

DFB.de: Ist das vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben eines Trainers, die Verbindung des Individuellen mit dem Einsatz für das Kollektiv?

Hiddink: Ja. Als große Talente gelten oft vor allem die Kreativspieler. Und diese können sowohl die große Stärke als auch die große Schwäche sein. Sie können Spiele allein entscheiden, aber sie können auch, wenn sie den Einsatz für ihre Mannschaft vernachlässigen, der entscheidende Nachteil sein. Diese Balance muss man als Trainer hinbekommen.

DFB.de: An welche Fälle in Ihrer Karriere erinnern Sie sich in der Beziehung besonders?

Hiddink: In meiner Zeit als Trainer in Eindhoven in den 80er-Jahren kam Romario zu uns, ein Riesentalent. Er hat jedes Jahr 30, 35 Tore geschossen. Aber im defensiven Bereich hat er nicht viel gemacht. Das hat einigen nicht gefallen. Da habe ich Romario mal im Training in der Abwehr spielen lassen, das hat er mit seinen kräftigen Beinen auch ganz gut gemacht. (lacht) Aber alle haben gemerkt, wie sehr seine Kreativität und sein Torinstinkt uns vorne gefehlt haben. Manchmal muss man die Mannschaft ein bisschen umbauen, den Spielstil einem herausragenden Spieler anpassen, damit der den Unterschied machen kann, damit man Erfolg hat. Das heißt nicht, dass der nur vorne stehen bleibt und auf Bälle wartet. Doch zu sehr einschränken sollte man ihn auch nicht. Davon profitieren alle.

DFB.de: Wie klappt das mit Samuel Eto’o, den Sie jetzt bei Anschi Machatschkala trainieren?

Hiddink: Wir brauchten ein, zwei Monate, in denen wir uns beschnuppert haben. (lacht) Manchmal dauert das ein bisschen. Er ist absolute Weltklasse, ein Spieler, der alles gewonnen und natürlich auch seine eigenen Vorstellungen hat. Inzwischen verstehen wir uns gut, er ist ein sehr guter Kapitän.

DFB.de: Gibt es Spieler, mit denen Sie besonders gerne gearbeitet haben?

Hiddink: Da will ich keinen besonders hervorheben. Aber ich habe mir natürlich, wie jeder Trainer das macht, Spieler gesucht, die so etwas wie mein verlängerter Arm auf dem Spielfeld waren. Wir Trainer denken ja gerne, dass wir durch unser Benehmen an der Seitenlinie, durch unser Rufen und unsere Gesten in jeder Sekunde Einfluss auf das Spiel haben. Ich habe das am Anfang auch gedacht, aber das ist nicht so. Als Spieler habe ich doch auch nicht immer zu meinem Trainer geschaut und gedacht: Was will er jetzt? Wohin soll ich laufen? Deshalb suche ich immer Spielertrainer auf dem Platz, also Spieler, die wissen, was ich will, die das auch umsetzen können.

DFB.de: In den zurückliegenden Qualifikationsrunden sind Sie zunächst mit Russland und dann mit der Türkei an der deutschen Mannschaft gescheitert. Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?

[bild2]

Hiddink: Die Deutschen waren einfach weiter als wir, das muss man so sagen. Wir waren in beiden Ländern im Umbruch. Der DFB hat die Talentförderung damals schon auf einem hohen Niveau betrieben, in den Vereinen werden die Spieler sehr gut ausgebildet. Davon profitiert selbstverständlich die Nationalmannschaft. Sie war, obwohl einige Spieler, wie zum Beispiel Özil oder Müller, noch sehr jung waren, schon sehr weit in ihrer Entwicklung. Die Spielauffassung ist eine ganz andere geworden. Ich bekomme das ja mit: Deutschland hat weltweit ein enormes Ansehen. Nicht nur wegen der Ergebnisse.

DFB.de: Was trauen Sie ihr noch zu?

Hiddink: Natürlich wollen die Deutschen wieder einen Titel, und das Potenzial haben sie auch. Aber bei einer Weltmeisterschaft will fast die Hälfte der Teilnehmer den Titel. Da gibt es immer mehr Verlierer als Gewinner.

DFB.de: Warum haben Sie bei all Ihren Stationen eigentlich nie in Deutschland gearbeitet?

Hiddink: Man hat mich nie gefragt. Im Ernst, es gab Kontakte nach Deutschland, aber zu dem Zeitpunkt stand ich bei anderen Vereinen oder Verbänden unter Vertrag. Deshalb war das damals nicht möglich.

DFB.de: Aber gereizt hätte Sie das schon?

Hiddink: Ja, ich komme gerne nach Deutschland. Die WM 2006, bei der ich mit Australien dabei war, war eine sehr gute Erfahrung. Die Organisation war perfekt, aber beeindruckt hat mich vor allem die Gastfreundschaft, ganz egal, wo man hinkam.

DFB.de: Sie warten also schon auf den nächsten Flug Mos- kau – Frankfurt.

Hiddink: (lacht) Das ist übertrieben. Grundsätzlich gilt für mich: Ich habe hoffentlich genug Energie, um noch ein bisschen weiterzumachen.