Geschichte der EURO: Deutschland siegt durch Bierhoffs "Golden Goal"

Aber es gab immer neue Baustellen. Schon nach 13 Minuten musste sich Vogts wie bereits 1992, als Völler zur Pause des ersten EM-Spiels ausschied, einen neuen Kapitän suchen. Der Kaiserslauterer Pavel Kuka war unglücklich auf Jürge Kohlers Knie gefallen - Innenbandriss, Heimflug. Weil Klinsmann noch fehlte, bekam der Karlsruher Thomas Häßler für 75 Minuten die Binde.

Die Geste tat ihm gut, nach der Pokalfinalniederlage des KSC in Berlin war der sensible "Icke" in einem Stimmungstief. Den "besten Defensivspieler Europas" (Vogts über Kohler) konnte und sollte der kleine Dribbler natürlich nicht ersetzen und so erhielt Bayerns Markus Babbel seine Chance.

Der künftige Teamkollege Mario Basler saß da schon auf gepackten Koffern. Wegen einer Trainings-verletzung musste der Noch-Bremer ebenso wie Kohler, nur ganz ohne Einsatz, nach dem ersten Spiel abreisen. Das Bedauern hielt sich in Grenzen; in Interviews hatte Basler Stimmung gegen Häßler und Möller gemacht und den Mannschaftsrat im Team-Quartier zu Mottram Hall zu einer Sondersitzung veranlasst.

"Selten ist eine deutsche Mannschaft so gut in ein Turnier gestartet"

Trotz alledem hatte der Vize-Europameister in England keine Startprobleme. Schon nach 32 Minuten war die Partie gelaufen. Christian Ziege und Andy Möller hatten einen 2:0-Vorsprung herausgeschossen, der bis zum Abpfiff hielt. "Selten ist eine deutsche Mannschaft so gut in ein Turnier gestartet", jubilierte Vogts, während der stets mahnende Sammer den Finger hob: "Wir müssen mit dem Erfolg kritisch umgehen." Die meiste Kritik erntete der englische Schiedsrichter Mister Elleray, der gleich neun Gelbe Karten (im Verhältnis 5:4 für Deutschland) zückte. Weniger die UEFA-Vorschrift, dass ein Team ab vier Verwarnungen 10.000 DM Strafe zahlen müsse, als die Gefahr durch Sperren erregte Vogts: "Er hat ja schon beim Ausholen Gelb gezeigt. Der einzige, der keine Gelbe Karte hatte, war ich."

Im zweiten Spiel kam Italien in Liverpool zu einem 2:1-Erfolg über die Russen, die nun auch ganz offiziell Russland hießen. Pierluigi Casiraghi von Lazio Rom schoss beide Tore der Squadra Azzura und bekam blumige Schlagzeilen wie "Casiraghi erlegt den russischen Bären" (Corriere della Sera). Das las sich angenehmer als die Häme, die die Italiener für den Umbau der Kabinen ihres Trainingscamps ernteten, das mit neuen Spiegeln und Fönanlagen ausgestattet wurde und das Bild von den eitlen Schönlingen wunderbar nährte. Wehe, der Erfolg bliebe aus. Trainer Arrigo Sacchi wusste schon vor der Abreise: "Entweder ich werde auf mein kahles Haupt geküsst oder es werden Tomaten darauf landen."

Arrigo Sacchi verpokert sich

Nach dem zweiten Spiel lagen die Tomaten schon griffbereit in den Händen der Tifosi, denn Italien unterlag in Liverpool den Tschechen 1:2. Sacchi hatte sich offenbar verpokert. Fünf Änderungen gegen den vermeintlich leichtesten Gegner wurden bitter bestraft. Auch 1996 bereits war Fußball keine Mathematik, zumal wenn man unberechenbare Spieler hat. Nachrücker Luigi Appolloni sah nach zwei Grätschen noch vor der Pause die Ampelkarte. In Unterzahl war das schon nach 32 Minuten hergestellte 1:2 nicht mehr aufzuholen. "Sacchi stürzt uns in Schwierigkeiten - Italien zahlt für alle seine Wechsel", wütete die Gazetta dello Sport.



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Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Im Juni beginnt in Polen und der Ukraine die 14. Europameisterschaft. Immer freitags blickt DFB.de auf frühere EM-Endrunden zurück. Heute: England 1996 - als Deutschland dank eines Golden Goals zum dritten Mal in Europameister wurde.

Die Landkarte Europas veränderte sich in den Neunzigern in nie gesehener Geschwindigkeit. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Balkan ließen permanent neue Staaten aus dem Boden sprießen. Und alle wollten sie Fußball spielen. Fast alle. Von mittlerweile 50 Nationalverbänden meldeten sich 48 zur Qualifikation für die EM 1996 an - ein Rekord. Die Uefa trug dem Rechnung und beschloss am 30. November 1992 die Erweiterung der EM-Endrunde. Die Teilnehmerzahl wurde von acht auf 16 verdoppelt, was bis heute Bestand hat.

England richtet erste EM mit 16 Teilnehmern aus

Jedes dritte Land durfte also teilnehmen, rein quantitativ hatte die EM nun das Format der frühen WM-Turniere. So eine Herkules-Aufgabe konnte man nicht irgendeinem Gastgeber aufhalsen, hier musste und wollte das Mutterland des Fußballs auf den Plan treten. England war aufgrund zahlreicher blutiger Tragödien in seinen Stadien sowie letztlich beim Europacupfinale 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion, als Randale von Liverpool-Anhängern 39 Todesopfer gefordert hatten, für fünf Jahre vom Europapokal ausgeschlossen worden.

Die Integration in die Fußball-Familie verlief schleichend, Liverpools Sperre etwa dauerte weitere zwei Jahre. Die EM war nun ein sichtbares Fanal für die Wiederaufnahme Englands, das dafür wiederum viel getan hatte. Als erstes Land der Welt gab es in englischen Stadien der ersten beiden Ligen nur noch Sitzplätze, was als Allheilmittel gegen Randale galt und vorläufig mit Erfolg ausprobiert worden war. Englische Stadien waren dank einer Milliardeninvestition nicht nur sicher, sondern auch modern. So behauptete sich England, dessen Funktionäre ihre Bewerbungsunterlagen mit dem Spruch "Football is coming home" betitelten, gegen vier Mitbewerber und hatte einen der 16 Teilnehmer-Plätze sicher. Um die 15 anderen kämpften in Sechser-Gruppen 47 Auswahlteams in unerreichten 231 Qualifikationsspielen.

Alle Titelträger dabei

Die Resultate versprachen ein attraktives Turnier: alle bisherigen Europameister hatten sich qualifiziert, auch wenn die Niederländer ein Entscheidungsspiel gegen Irland (2:0) brauchten. Dazu Portugal, Geheimtipp Rumänien, der WM-Vierte Bulgarien, Schottland und die EM-Debütanten Schweiz und Türkei. In Erinnerung bleibt ein Resultat aus Gruppe 5, in der Fußballzwerg Luxemburg die Tschechen 1:0 schlug. Der Sieg gewann exponential an Bedeutung, als sich die Tschechen bis ins EM-Finale vorkämpften.

Nicht zu erwarten war auch die Aktion der Schweizer Mannschaft, die vor dem Spiel gegen Schweden gegen die damals durchgeführten Atomtests der Franzosen im Pazifik protestierten. Das "Stop Chrirac"-Transparent löste das Verbot politischer Botschaften beim Fußball aus. Auch das brachte diese größte bisher dagewesene EM.

Neue Erfahrungen machte auch die deutsche Mannschaft, der gleich zwei Länder aus dem zerfallenen Sowjetreich zufielen: Erstmals spielte sie gegen Moldawien und Georgien. Außerdem bot sich die Gelegenheit zur Revanche am Bulgarien, das die Vogts-Elf 1994 in New York aus dem WM-Turnier geworfen hatte. Doch auch in Sofia setzte es im Juni 1995 eine Niederlage (2:3), die einzige in der Qualifikation. Und irgendwie fühlte sie sich gar nicht so an, Berti Vogts kam schier ins Schwelgen nach dem verschenkten Sieg (von 2:0 zu 2:3). Es sei "eine der schönsten Stunden als Nationaltrainer", fand Vogts, der von der spielerischen Leistung angetan war. Zitat: "Das könnte der Wendepunkt gewesen sein. Wir sind auf dem Weg, eine starke Mannschaft zu werden."

Klinsmann und Sammer führen DFB-Team an

Den Weg durften einige nicht zu Ende gehen. Die Weltmeister Lothar Matthäus und Thomas Berthold schieden verletzungsbedingt aus, atmosphärische Störungen mit Mitspielern kamen bei Matthäus hinzu und trieben den im Frühjahr 1996 zum Rücktritt. Vogts konnte es verkraften, seine neuen Leitwölfe waren die Anführer der damals wie heute führenden Klubs Borussia Dortmund (Meister 1996) und Bayern München (UEFA-Cup-Sieger 1996). Matthias Sammer war Wortführer der fünfköpfigen Dortmunder Fraktion, Jürgen Klinsmann der der sieben Bayern. Sie waren die Häuptlinge des Kaders, der gen England aufbrach. Erst recht, als sich der Dortmunder Jürgen Kohler, der vor dem ersten Spiel noch eine flammende Rede gehalten hatte, verletzte und nach nur 14 Turnierminuten ausschied.

Das Turnier: Nachdem der Augsburger Helmut Haller den Final-Ball von 1966, mit dem England in Wembley Weltmeister geworden war, auf Druck englischer Medien feierlich zurückbrachte, konnte das Turnier beginnen. "Football is coming home" war nicht nur das Motto, sondern auch ein Ohrwurm der englischen Gruppe "Three lions". Selten war ein Fußball-Song erfolgreicher und deutsche Fans brauchen nur die erste Strophe zu hören um ihn mit unvergesslichen Stunden und einem großen Triumph zu assoziieren.

Alan Shearer trifft nach 22 Monaten Ladehemmung

Gewinnen wollten den Pokal und die Prämie von umgerechnet 7,5 Millionen Euro, die die UEFA dem Europameister auszahlte, viele. Allen voran Gastgeber England, der das in 194 Länder übertragene Turnier am 8. Juni 1996 eröffnen durfte. Wie so oft wurde der Auftakt eine Enttäuschung, 76.567 Zuschauer sahen in Wembley nur ein 1:1 gegen Außenseiter Schweiz. Immerhin schoss Alan Shearer das erste Tor dieser EM und sein erstes nach 22monatiger Ladehemmung, aber ein Handelfmeter bescherte den Schweizern sieben Minuten vor Schluss einen verdienten Punkt.

"Die Engländer stolperten zum enttäuschenden Unentschieden", kritisierte die Sunday Post. Auch das zweite Spiel der Gruppe hatte keinen Sieger, die Niederlande und Schottland quälten sich zu einem 0:0, was zumindest bei den Briten Anklang fand: "Schottland hat stilvolle Akzente gesetzt" (Independent). Und das ohne eine Torchance. Zu den zählbaren Erfolgen der Bravehearts gehörte auch das für die EM aufgehobene Dudelsackverbot in englischen Stadien.

Traumtor von Paul Gascoigne

Mit dem zweiten Spieltag war auch auf dem Platz mehr Musik in der England-Gruppe. Zunächst schlugen die Holländer die Schweizer (2:0), der Sohn von Johan Cruyff, Jordi, schoss das erste Tor. Das zweite durch Dennis Bergkamp fiel nach einem Abschlag von Torwart Ed van der Sar gegen die weit aufgerückten Schweizer, die sehenden Auges in ihr Verderben rannten. "Die anderen Trainer erklären mich für verrückt, wenn ich mit drei Spitzen angreifen lasse", sagte Trainer Artur Jorge, ein Portugiese - und tat es doch.

Die Gastgeber zogen zwei Tage später nach und gewannen die prestigeträchtige "Battle of Britain" gegen Schottland ebenfalls 2:0. Dass es eine niveauarme Partie war, war den Engländern herzlich egal. Shearer und Paul Gascoigne mit einem sehenswerten Volleyschuss trafen für England. Trainer Terry Venable verlieh dem Tor seines "Enfant terrible" das Prädikat "Weltklasse". Die Schotten schlüpften dagegen wieder in die gewohnte tragische Rolle. Eine Minute vor dem 2:0 scheiterte McAllister mit seinem Elfmeter an David Seaman. So drohte das neunte Vorrundenaus im neunten Turnier.

Die Niederlande erreicht schmeichelhaft das Viertelfinale

Vor dem letzten Spiel gegen die Schweiz brauchten und bekamen sie englische Hilfe. Aber nicht genug. Ihr 1:0-Sieg reichte nicht, weil die an jenem 18. Juni desolaten Niederländer nach 0:4-Rückstand gegen die Gastgeber noch zu einem Ehrentor von Joker Patrick Kluivert kamen, das den Ausschlag pro "Oranje" gab. Punktgleich mit den unglücklichen Schotten zählten 3:4 Tore mehr als 1:2 - und wieder verstummten die Dudelsäcke nach der Vorrunde. Den Niederländern war das Weiterkommen beinahe peinlich. Trainer Guus Hiddink sprach von "einer wahren Lektion" und war "froh dass wir noch am Leben sind." Es war die höchste Niederlage der Holländer seit 21 Jahren.

Nach dieser auch von internen Streitigkeiten zwischen dunkelhäutigen und weißen Spielern geprägten Vorrunde war die Elftal zwar noch im Turnier, aber aus dem Favoritenkreis ausgeschieden. England dagegen glaubte an mehr. "Eine Kanonade von Treffern. Nun ist nichts mehr unmöglich", schrieb The Guardian.

In Gruppe B sah man den kommenden Europameister nicht spielen. Das Niveau der Spiele war gemessen an den Erwartungen - man sprach vom Zauberquartett - niedrig. "Ein trauriges Auftaktspiel ohne Saft und Kraft" attestierte Diario 16 der spanischen Seleccion beim 1:1 gegen Bulgarien. Jede Mannschaft beklagte einen Platzverweis, zudem gab es sieben Verwarnungen. Das Spiel zwischen Frankreich und Rumänien (1:0) wurde durch einem Torwartfehler entschieden. "Der Fehlgriff eines Fliegengängers hat Frankreich endgültig zum Favoriten gemacht", lästerte Englands Weltmeister on 1966, Jacky Charlton. Bogdan Stelea patzte beim Herauslaufen und Dugarry schoss das Tor des Tages. Die Elf von Aime Jacquet brachte den Vorsprung über die folgenden 65 Minuten, begeisterte niemanden, beeindruckte aber umso mehr.

Tor des Kölners Munteanu wird nicht gegeben

24 Spiele waren "Les Bleus" ungeschlagen und L'Equipe befand. "Wie die Häuptlinge - Die Euro perfekt begonnen." Für die Rumänen war sie nach dem zweiten Spiel schon zu Ende, im Balkan-Duell reichte ein frühes Stoitchkov-Tor zu 1:0 für die Bulgaren. Aber nur, weil ein glasklares Tor des damaligen Kölners Dorinel Munteanu übersehen wurde. Der Ball sprang einen guten Meter hinter die Linie, doch der dänische Schiedsrichter Peter Mikkelsen ließ weiterspielen. Das Nicht-Tor von Newcastle löste wieder Forderungen nach dem TV-Beweis aus - und Rumäniens Heimreise.

"Aus! Der Schiedsrichter hat das beste Tor der EM nicht gesehen", schrieb Romania Libera. Die UEFA schmetterte den rumänischen Protest mit dem Hinweis auf die Unantastbarkeit der Tatsachenentscheidung ab - aber wohl fühlte sich dabei niemand. In dieser Hinsicht erwies es sich von Vorteil, dass die Balkanländer nur von wenigen Fans begleitet wurden und diese Partie nur 19.107 Besucher (Minusrekord) verfolgten.Ausschreitungen blieben aus, wie überhaupt an nahezu allen Turniertagen.

Frankreich gelingt die Revanche und schickt Bulgarien nach Hause

Die Entscheidung über das Weiterkommen wurde im vierten Gruppenspiel in Leeds vertagt, nach dem 1:1 zwischen Frankreich und Spanien hatten beide Westeuropäer noch eine Chance - und Bulgarien, das Frankreich den Weg zur WM 1994 verbaut hatte durch ein Last-Minute-Tor in Paris. In Newcastle nutzten die Franzosen die Chance zur Revanche (3:1), hilfreich war dabei ein unfassbares Kopfball-Eigentor von Luboslav Penev. So endete die große Ära der Generation Letchkov und Stoitchkow auf banale Weise ruhmlos. "Bulgarien nahm Abschied, Frankreich nahm Rache", schrieb eine bulgarische Zeitung. Noch eher schied übrigens der Schiedsrichter aus, der Engländer Gallagher musste wegen einer Wadenverletzung in der 28. Minute ausgewechselt werden.

Im Parallelspiel machte es Spanien gegen die schon ausgeschiedenen Rumänen ein weiteres Mal spannend. Joker Guillermo Amor schoss erst in der 84. Minute das erlösende 2:1, das er fix zum "wichtigsten Tor meiner Karriere" erklärte. Trainer Javier Clemente erlaubte ihm zum Dank, sein am Vortag geborenes Baby zu sehen und gestattete ihm zwei freie Tage in Barcelona.

DFB-Team wird Favoritenrolle gerecht

In Gruppe C, gemeinhin als die schwerste tituliert, fielen die meisten Tore (17) und in Buchmacher-Favorit Deutschland hatte sie den erwarteten Sieger. Dass sich im ersten Spiel jedoch die beiden Finalisten gegenüberstanden, wagte niemand zu behaupten. Die Quote für einen tschechischen Turniersieg lag bei führenden englischen Buchhändlern bei 66:1, für Deutschlands Sieg lautete sie 4:1.

Die Favoritenrollen waren also eindeutig verteilt, als es am 9. Juni im Stadion Old Trafford zu Manchester endlich los ging. Bundestrainer Berti Vogts hatte seine Elf gefunden und nicht die mindeste Ahnung, dass er sie in allen Spielen würde ändern müssen. Klar war nur, dass der im letzten Qualifikationsspiel gesperrte Klinsmann, den Stefan Kuntz ersetzte, ins Team rücken würde. Den gleichsam gesperrten Steffen Freund vertrat der Bremer Dieter Eilts - so gut, dass er unverzichtbar wurde.

Aber es gab immer neue Baustellen. Schon nach 13 Minuten musste sich Vogts wie bereits 1992, als Völler zur Pause des ersten EM-Spiels ausschied, einen neuen Kapitän suchen. Der Kaiserslauterer Pavel Kuka war unglücklich auf Jürge Kohlers Knie gefallen - Innenbandriss, Heimflug. Weil Klinsmann noch fehlte, bekam der Karlsruher Thomas Häßler für 75 Minuten die Binde.

Die Geste tat ihm gut, nach der Pokalfinalniederlage des KSC in Berlin war der sensible "Icke" in einem Stimmungstief. Den "besten Defensivspieler Europas" (Vogts über Kohler) konnte und sollte der kleine Dribbler natürlich nicht ersetzen und so erhielt Bayerns Markus Babbel seine Chance.

Der künftige Teamkollege Mario Basler saß da schon auf gepackten Koffern. Wegen einer Trainings-verletzung musste der Noch-Bremer ebenso wie Kohler, nur ganz ohne Einsatz, nach dem ersten Spiel abreisen. Das Bedauern hielt sich in Grenzen; in Interviews hatte Basler Stimmung gegen Häßler und Möller gemacht und den Mannschaftsrat im Team-Quartier zu Mottram Hall zu einer Sondersitzung veranlasst.

"Selten ist eine deutsche Mannschaft so gut in ein Turnier gestartet"

Trotz alledem hatte der Vize-Europameister in England keine Startprobleme. Schon nach 32 Minuten war die Partie gelaufen. Christian Ziege und Andy Möller hatten einen 2:0-Vorsprung herausgeschossen, der bis zum Abpfiff hielt. "Selten ist eine deutsche Mannschaft so gut in ein Turnier gestartet", jubilierte Vogts, während der stets mahnende Sammer den Finger hob: "Wir müssen mit dem Erfolg kritisch umgehen." Die meiste Kritik erntete der englische Schiedsrichter Mister Elleray, der gleich neun Gelbe Karten (im Verhältnis 5:4 für Deutschland) zückte. Weniger die UEFA-Vorschrift, dass ein Team ab vier Verwarnungen 10.000 DM Strafe zahlen müsse, als die Gefahr durch Sperren erregte Vogts: "Er hat ja schon beim Ausholen Gelb gezeigt. Der einzige, der keine Gelbe Karte hatte, war ich."

Im zweiten Spiel kam Italien in Liverpool zu einem 2:1-Erfolg über die Russen, die nun auch ganz offiziell Russland hießen. Pierluigi Casiraghi von Lazio Rom schoss beide Tore der Squadra Azzura und bekam blumige Schlagzeilen wie "Casiraghi erlegt den russischen Bären" (Corriere della Sera). Das las sich angenehmer als die Häme, die die Italiener für den Umbau der Kabinen ihres Trainingscamps ernteten, das mit neuen Spiegeln und Fönanlagen ausgestattet wurde und das Bild von den eitlen Schönlingen wunderbar nährte. Wehe, der Erfolg bliebe aus. Trainer Arrigo Sacchi wusste schon vor der Abreise: "Entweder ich werde auf mein kahles Haupt geküsst oder es werden Tomaten darauf landen."

Arrigo Sacchi verpokert sich

Nach dem zweiten Spiel lagen die Tomaten schon griffbereit in den Händen der Tifosi, denn Italien unterlag in Liverpool den Tschechen 1:2. Sacchi hatte sich offenbar verpokert. Fünf Änderungen gegen den vermeintlich leichtesten Gegner wurden bitter bestraft. Auch 1996 bereits war Fußball keine Mathematik, zumal wenn man unberechenbare Spieler hat. Nachrücker Luigi Appolloni sah nach zwei Grätschen noch vor der Pause die Ampelkarte. In Unterzahl war das schon nach 32 Minuten hergestellte 1:2 nicht mehr aufzuholen. "Sacchi stürzt uns in Schwierigkeiten - Italien zahlt für alle seine Wechsel", wütete die Gazetta dello Sport.

Tschechien aber witterte Morgenluft. Für den ehemals großen Bruder war dagegen schon alles vorbei, als die zweite Partie abgepfiffen wurde. Auch mit ihnen hatten die Deutschen in Old Trafford kein Erbarmen. Das 3:0 fiel zwar sicher um ein Tor zu hoch aus, vor der Pause musste Andy Köpke einige Heldentaten vollbringen. Einmal rettete auch der Pfosten. Erst als sich Matthias Sammer, der die Libero-Position neu interpretierte - als Libero vor der Abwehr - in den Angriff einschaltete, kippte das Spiel. Seinem Tor (56.) ließ Rückkehrer Klinsmann ein Zaubertor folgen, wie es ihm nur wenige zutrauten. Mit dem Außenrist schlenzte er den Ball von der Strafraumgrenze aus vollem Lauf in den Winkel (77.). Vogts war verzückt: "In dieser Art und Weise treffen nur große Spieler." Sein zweites Tor, nach Vorlage von Stefan Kuntz, war gewöhnlicher (90.), aber auch hochwillkommen. Andy Möller lobte seinen Kapitän: "Er ist der Mittelstürmer schlechthin." "Klinsmanns Tore die halbe Miete zum Gruppensieg", titelte der Kicker. Dabei war noch nicht mal das Weiterkommen sicher. Bei einer Niederlage gegen Italien und einem hohen Tschechen-Sieg gegen schon ausgeschiedene Russen wären selbst sechs Punkte nicht genug.

Deutschland holt 0:0 in Unterzahl

So lag drei Tage später noch knisternde Spannung in der Luft, als der alte Rivale Italien in Manchester antrat. Es wurde das erwartet schwere Spiel. erstmals waren die Deutschen bei dieser EM nicht überlegen. Und Italien fühlte sich schwach. "Verdammt, meine Spieler haben Angst. Das wird unser großes Problem", unkte Sacchi. Und das Toreschießen. Am Ende hieß es 0:0. Dank der Torhüter. Andy Köpke verhinderte einen frühen Rückstand und hielt nach neun Minuten einen Elfmeter von Gianfranco Zola. Nach dem Platzverweis des Babbel-Vertreters Thomas Strunz (59.) verteidigte die DFB-Elf in Unterzahl den ein einen Punkt, den sie letztlich gar nicht brauchte. Für Italien wäre er Gold wert gewesen. Es reiste heim, weil die Tschechen gegen Russland 3:3 spielten. Erst eine Minute vor Schluss traf Smicer in diesem verrückten Spiel (von 0:2 über 3:2 zu 3:3).

Die Mannschaft von Dusan Uhrin hatte zwar eine schlechtere Tordifferenz, doch erstmals bei einer EM gab der direkte Vergleich den Ausschlag. So wog die durch Sacchis Personalroulette verschuldete Pleite gegen die Tschechen doppelt schwer. Italien also weinte, auch auf Papier. Die Gazetta dello Sport schrieb: "Italien, perfekter Mord. Zu viele Fehler - wir kehren heim. Auf der Anklagebank sitzt Sacchi. Und Sacchi endet an der Klagemauer." Natürlich wurde er entlassen.

Titelverteidiger Dänemark chancenlos in Gruppe D

Weniger Theater mache in Gruppe D Titelverteidiger Dänemark um sein Los. Sie waren "heilfroh, dass wir uns überhaupt wieder qualifiziert haben", sagte der spätere Kaiserslauterer Michael Schjönberg. "Wir sind spielerisch schwächer als unsere Gruppengegner", konzedierte auch Brian Laudrup. Sie begriffen sich immer noch als kleines Fußball-Land und durften in einer Gruppe mit Portugal und Kroatien ausscheiden. Was sie auch taten, Den Portugiesen trotzten sie immerhin noch ein 1:1 ab, wurden aber laut eigener Presse "schwindlig gespielt". "Die Dänen als Europameister nicht wiederzuerkennen", stellte die englische Times indigniert fest.

Das galt erst recht nach ihrem zweiten Spiel, als sie gegen die Kroaten unter die Räder gerieten (0:3). Der Stern von Davor Suker ging auf am Tag des dänischen Untergangs, der Filigran-Techniker im Sturm der Kroaten war kaum zu bändigen und schoss zwei Tore. Sein Trainer Miroslav Blazevic sprach von "einer Lehrstunde, an der sich die ganze Welt erfreut hat." Außer den Dänen, die von 20.000 Fans angefeuert wurden. Im letzten Spiel gegen die bereits ausgeschiedenen Türken versprühten sie noch etwas Glanz , Brian Laudrup schoss zwei Tore beim 3:0.

Doch es war zu wenig, da die Kroaten die B-Elf (sieben Änderungen) einsetzten und Portugal einen 3:0-Sieg gestatteten. Luis Figo schoss an diesem Tag sein erstes EM-Tor. Er stand erst am Anfang seiner Welt-Karriere. Die Türkei kehrte ohne Tor und Punkt von ihrem ersten EM-Ausflug zurück, aber nicht mit ganz leeren Händen. Verteidiger Alpay Özalan erntete zwar für sein unterbliebenes Foul vor dem 0:1 gegen die Kroaten böse Kritik seines Trainers Fatih Terim ("Ich hätte ihm eine Prämie gegeben, wenn er Vlaovic zu Fall gebracht hätte und vom Platz geflogen wäre"), aber auch den Fairplay-Preis der UEFA.

Erstmals wurde bei einer EM-Endrunde ein Viertelfinale ausgetragen. Und eine neue Regel trat in Kraft. In der Verlängerung sollte das erste Tor, das „Golden Goal“, die Entscheidung bringen. Das gab es z. B. im deutschen Fußball schon in den Zwanzigern vorübergehend, auf der Bühne internationaler Turniere war es ein Novum. Wider Erwarten sollte es so schnell nicht eintreffen. Die Angst vor dem im Eishockey als „Sudden death“ bekannten finalen Gegentor führte zu einer Flut von Elfmeterschießen. Zwei der vier Viertelfinals und beide Halbfinals endeten mit dem Showdown vom ominösen Punkt. Die Verlängerung war im Vergleich zu früher dagegen oft unansehnlich, womit sich die Uefa-Idee für mehr Spannung als Eigentor entpuppte. Protobeispiel dafür war die Partie zwischen Frankreich und den Niederländern, in der in 120 Minuten Tore ausblieben. Dennoch attestierten Kritiker, die „unter taktischen Gesichtspunkten beste EM-Partie“ erlebt zu haben. Zuschauer aber wollen Tore. Sie fielen in Liverpool erst im Epilog vom Kreidepunkt, Frankreich gewann mit 5:4 – weil Clarence Seedorf die Nerven versagten. Bernard Lama hielt seinen Elfmeter – es war der einzige Fehlschuss in einem Spiel fast ohne Torchancen. Der Europameister von 1988 packte seine Koffer, der von 1984 war noch im Rennen. Trainer Jacquet aber fragte sich ehrlich: „Ich weiß gar nicht, ob wir das Halbfinale verdient haben.“ Die Engländer hatten damit weniger Probleme. Auch sie mussten nach dem 0:0 gegen Spanien ins Elfmeterschießen, was gewöhnlich ihr Aus bedeutet hat. Diesmal aber war ihnen in Wembley das Glück hold, Seaman hielt gegen Miguel Nadal und da zuvor Hierro in Uli Hoeneß-Manier über das Tor geschossen hatte, war England weiter. Die bessere Mannschaft fuhr heim, aber die Engländer hatten wenig Mitleid. „Du bist erledigt, Don Juan“, schrieb der Daily Mirror, die Kollegen des Observer erinnerten noch mal an die Zeit als sich die beiden Länder noch Seeschlachten lieferten. „Seaman versenkt die Armada.“ Ein naheliegender Vergleich bei dem Namen…

Es gab auch noch Spiele, die in 90 Minuten entschieden wurden. Am 23. Juni 1996 lernte die Welt Pavel Poborsky kennen, dessen frecher Heber nach brillantem Solo Portugal aus dem Turnier bugsierte und den 66:1-Außenseiter unter die letzten Vier. Denn es blieb in Birmingham bei diesem einem Tor und Manchester United verpflichtete den Schützen noch vor der Rückreise in die Heimat. Wermutstropfen für den Champion von 1976: Schiedsrichter Hellmut Krug sprach gleich vier Verwarnungen aus, die Sperren nach sich zogen.

Das Duell der Deutschen gegen Kroatien war das torreichste Viertelfinale, wobei die meisten Treffer nicht auf der Anzeigetafel zu lesen waren. Es wurde getreten wie selten zuvor. Kein Wunder, für einige war es mehr als ein Fußballspiel. Kroaten-Coach Blazevic heizte es so an: „Fußball ist wie Krieg und manchmal stirbt auch einer. Uns steht ein Krieg auf Leben und Tod bevor. Gegen die deutschen Stukas und Messer-schmidts werden wir mit Kamikaze-Fliegern angetreten.“ Übergewunden geglaubte Ressentiments, die dem Fairplay-Gedanken des Sports Hohn sprachen.

Wer so etwas ungestraft sagen darf, muss sich nicht wundern, wenn es auf dem Platz zu Exzessen kommt. Der 2:1-Sieg der Deutschen wurde von vielen unschönen Szenen getrübt. Jürgen Klinsmann und Fredi Bobic mussten verletzt ausgetauscht werden, auch für Bobic (Schulter ausgekugelt) war die EM zuende. „Jürgen Klinsmann wird nicht mehr spielen“, sagte Vogts unmittelbar nach dem Spiel im ZDF-Studio weitere Personal-sorgen voraus. Doch hier sollte er sich irren, die DFB-Ärzte vollbrachten ein Wunder. Klinsmann hatte per Handelfmeter noch das 1:0 (21.) erzielt, ehe er nach 39 Minuten mit Muskelfaserriss vom Feld musste. Sein Vertreter Steffen Freund, wenngleich in anderer Position, verursachte nach 51 Minuten den Ausgleich, Suker nutzte seinen Fehler. Dann flog der Kroate Stimac vom Platz und zwei Minuten später erlöste der stürmende Libero Sammer ganz Deutschland (59.). Sein zweites Tor bei dieser EM brachte die Nationalelf ins Halbfinale gegen England. Die Kroaten fühlten sich betrogen, weil dem 2:1 ein Foul von Babbel vorausgegangen sei. „Weine nicht Kroatien, einen derartigen Betrug haben wir noch nicht erlebt“, schrieb Sportske Novosti. Matthias Sammer gestand taktische Fehler ein und sagte in die Kameras: „Unglaublich, wie wir gespielt haben.“ Berti Vogts dagegen empfahl der Heimat: „Ich glaube, dass sich ganz Deutschland freuen sollte.“ Nach „dem schmutzigsten Spiel meiner Karriere“ (Ziege) war der Optimismus verflogen, aber sicher war eines: gegen England würde es ein faireres Spiel geben.

Auch wenn die englische Presse scheinbar anderes im Sinne hatte. Auch für den Daily Mirror war der Krieg noch nicht so ganz vorbei. Sie montierten Gascoigne und Stuart Paerce Stahlhelme auf und ließen ihn „Surrender!“ (Ergebt euch) rufen. Im Text wurde die Bundesregierung aufgerufen, die Mannschaft bis elf Uhr vom Turnier abzuziehen, sonst begänne der Fußballkrieg. Wer wollte, konnte darüber lachen. In England war die Empörung dennoch groß, Nationaltrainer Terry Venables war regelrecht angewidert und die Redaktion stellte sich am nächsten Tag selbst an den Pranger.

Britischer Humor – ein Kapitel für sich. Das Spiel entschädigte für so manches, das Ergebnis erst recht.

Während am Vortag selbst laut Uefa-Bericht „eines der schlechtesten Spiele überhaupt in der Fußballgeschichte Europas“ stattfand, wonach die Tschechen über Frankreich nach 120 torlosen Minuten und 6:5-Elfmetern sensationell ins Finale eingezogen waren, sahen 75.860 Menschen in Wembley das beste Spiel der EM 1996. Der Klassiker wurde seinem Ruf gerecht.

England ging schon in der 2. Minute nach einer Ecke durch einen Kopfball von David Platt in Führung. Doch nach Vorarbeit von Verteidiger Thomas Helmer glich Klinsmann-Vertreter Stefan Kuntz, damals bei Galatasaray Istanbul, aus. Kuntz hatte alle Kollegen auf einem türkischen Basar mit seinem Talisman – Das Auge Gottes – versorgt. Nun hatte er selbst Glück und traf mit seinem schwachen rechten Fuß. Als er in der Verlängerung ein eigentlich reguläres Tor köpfte, ließ ihn der Talisman im Stich. Schiedsrichter Sandor Puhl gab das Tor, das das erste Golden Goal der EM gewesen wäre, nicht. Ganz England atmete hörbar auf und Deutschland ging es nicht anders, als Gascoigne mit langem Bein an einer Flanke vorbeirutschte, die Köpke schon hatte passieren lassen. So ging auch dieses Halbfinale ins Elfmeterschießen. Erinnerungen an Italien 1990, das Halbfinale in Turin, wurden wach.

Auch an das Elfmeterschießen von Wembley haben alle Zeitzeugen noch lebendige Erinnerungen, die verdeutlichen, dass auch hoch- bezahlte Millionäre nur Menschen sind. Dieter Eilts bettelte kurz vor Abpfiff um seine Auswechslung, denn „ich schieße garantiert nicht“. Vogts erhörte ihn nicht, suchte aber zunächst andere Schützen. Er kam nur auf vier, da fragte er Thomas Helmer, ob Bayern-Kollege Thomas Strunz sicher sei. „Kein Risiko“, versicherte Helmer, doch Sammer intervenierte: „Der ist doch erst zwei Minuten im Spiel und hatte noch gar keinen Ballkontakt.“ Strunz holte sich deshalb den Ball vom Schiedsrichter und jonglierte sich ein wenig in Stimmung. Der Bremer Marco Bode wurde von Markus Babbel informiert, er sei die Nummer sieben. Da fiel Bode ein, dass er 1992 mit Werder im Pokalhalbfinale als Nummer sieben entscheidend versagt hatte: „Meine Beine wurden immer weicher, ich immer aufgeregter, aber ich kam davon.“ Weil Andreas Möller nach dem ersten und einzigen englischen Fehlschuss von Gerry Southgate – Köpke parierte – zur Freude aller, die noch auf der Liste standen, verwandelte. Sammer etwa sagte auf die Frage, ob er oder Eilts als Neunter geschossen hätte: „Da hätte es wohl eine Schlägerei gegeben.“ So aber gab es nur Jubel und Freudentränen. Zum fünften Mal hatte Deutschland das EM-Finale erreicht und der letzte Gegner war der erste – Tschechien.

Bloß mit welcher Formation?

Vor dem Finale war die Lage beinahe grotesk. Möller und Reuter gesperrt, Freund (Kreuzbandriss) fiel aus, Kohler, Basler, Bobic längst abgereist, Klinsmann, Kuntz und Helmer verletzt. Am Freitag trainierte Vogts nur mit acht Feldspielern. Der DFB druckte bereits Feldspieler-Trikots für Oliver Kahn und Oliver Reck und beantragte wegen „höherer Gewalt“ die Nachnominierung von zwei Spielern. Die UEFA zeigte überraschend Mitgefühl und so erhielt der Freiburger Jens Todt am Freitagabend in einem Restaurant einen Anruf von Vogts. In einer Zeit, in der Status bedachte Menschen schon Handys besaßen. Todt packte seine Tasche und reiste doch vergeblich an, da die Mediziner Wunder vollbrachten. Klinsmann und Helmer konnten spielen und da somit mindestens zwölf gesunde Feldspieler zur Verfügung standen, durfte Todt nicht mehr in den Kader. Nur aufs Siegerfoto. Die Arbeit der DFB-Ärzte um Wilhelm Müller-Wohlfahrt, die Klinsmann in nur sieben Tagen wieder hin bekamen und rund um die Uhr arbeiteten, wurde teamintern hoch geschätzt. Vogts sprach von „fast unmenschlichen Leistungen“. Helmer erinnerte sich gar an nächtliche Behandlungen: „Man lag im Bett, wurde mit der Trage aus dem Zimmer gebracht und kam auf die Massagebank. Da habe ich dann weitergeschlafen.“

Der Verteidiger, der gegen England mit zwei bandagierten Knien vom Platz trottete und zum Symbolbild deutscher Unbeugsamkeit wurde, brachte die Tage im Londoner Landmark Hotel „in meinem persönlichen Bermuda-Dreieck“ zu: „Hotelzimmer, Speisesaal, Massageraum“.

Um die Favoritenrolle kamen die Deutschen dennoch nicht herum, als sie am Sonntag, den 30. Juni 1996, in Wembley einliefen. Am Tag, als sie zum dritten und bis dato letzten Mal Europameister wurden. Nicht nur, aber auch wegen Monika Vogts. Ein kurioser Prolog leitete das letzte Erfolgskapitel ein. In einer Gondel zu Venedig wurde eine für den deutschen Fußball epochale Entscheidung getroffen. Dort saß das Ehepaar Vogts im Frühjahr 1996 und der Gatte dachte wieder mal nur an Fußball: „Soll ich den Kirsten mitnehmen, den Herrlich, den Riedle oder doch den Bierhoff?“, fragte sich der Mann, den sie Bundes-Berti nannten. Und seine Frau, unter dem frischen Eindruck eines Spiels des blonden Oliver Bierhoff, empfahl den Essener Kaufmannssohn: „Er wird es dir eines Tages denken.“ Eigentlich zu kitschig, um wahr zu sein, aber so war es eben. Vogts vertraute der weiblichen Intuition. Zum Glück.

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Im Finale lief seine Elf ab der 59. Minute einem unberechtigten Elfmeter-Tor hinterher und Verursacher Sammer stand wieder am Rande der Resignation, weshalb ihn Kuntz zusammenfaltete („Jammern kannst Du hinterher“), als Vogts seinen Joker zog: Oliver Bierhoff. Es war erst dessen dritter EM-Einsatz und er ging hoch motiviert ins Spiel: „Der Bundestrainer hat mir die richtige Wut gegeben, um im Endspiel reinzuhauen“, sagte er später offen. Und wie er rein haute: Flanke Ziege, Kopfball Bierhoff – 1:1 vier Minuten nach seiner Einwechslung. Dann die Verlängerung. Die ganze Welt wartete auf das erste Golden Goal, das noch immer nicht gefallen ist. Und hätte Marco Bode, wie er nicht ohne Stolz anmerkte, nicht in der 94. Minute „andersrum“ oder hierum (Bierhoff: „Ich hab’s gar nicht richtig verstanden“) gerufen, wer weiß, wer weiß? So aber drehte sich Bierhoff an der Strafraumgrenze links um seinen Widersacher und schoss nicht sonderlich fest in die Tormitte – aber Peter Kouba, der arme Tropf im Tschechen-Tor, ließ den Ball durch die Hände rutschen. „Er hat den Ball so gut abgedeckt, dass ich ihn schlecht sehen konnte“, sagte Kouba. Stefan Kuntz schaute noch kurz zu, wohin er rollte und ersparte sich einzugreifen „denn ich stand abseits“, dann war es vollbracht. Deutschland war Europameister und hatte einen neuen Helden, um den sich die Sponsoren und Fernsehshows gleich nach der Landung rissen: Oliver Bierhoff. Kurz war die Pokalübergabe „gefährdet“, weil Kuntz und Spaßvogel Mehmet Scholl darüber diskutierten, ob sie denn die Queen küssen dürften. Eigentlich wollten sie, aber dann dachten sie doch wieder an die Mannschaft. Denn 1996 zumindest galt, was Berti Vogts gebetmühlenartig wiederholte: „Der Star ist die Mannschaft.“ Erst recht, wenn sie mit einem Pokal nach Hause kommt.

Auch die UEFA war zufrieden: Sie verdiente nie erreichte 250 Millionen DM, fünfmal so viel wie noch 1992. Nie kamen mehr Zuschauer (1.276.171), was angesichts von weit mehr Spielen logisch war. Relativ (41.167 im Schnitt) blieb der Besuch nur hinter Deutschland 1988 zurück. Randale gab es nur nach dem englischer Aus im Halbfinale, sie hielten sich in Grenzen. Alle waren sich am Ende einig; es war schön, dass der Fußball mal wieder nach Hause gekommen war.