Geschichte der EURO: Der Fast-Food-Europameister 1992

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Teil sieben thematisiert die EM 1992 in Schweden: Dänemark ist eigentlich gar nicht qualifiziert, rückt für Jugoslawien nach und besiegt Weltmeister Deutschland im Finale sensationell mit 2:0.

Keine Europameisterschaft wurde stärker von der großen Politik beeinflusst als die EM 1992. Keineswegs nur zum Nachteil, wie man gewöhnlich behaupten kann. Doch wer in Europa wollte sich nicht mit den Deutschen freuen, als sie in Folge des Mauerfalls im Herbst 1989 wieder vereint waren. Da war es nur eine Marginalie, dass das brisante Qualifikations-Duell zwischen Bundesrepublik und DDR oder "Wir gegen uns" (Kicker) ersatzlos gestrichen wurde.

So war die deutsche Gruppe die einzige mit vier Mannschaften und der Weg nach Schweden etwas kürzer. Leichter nicht, wie noch darzulegen sein wird. Die politische Wende in Osteuropa, unter dem Stichworten "Glasnost" und "Perestroika" bekannt geworden, führte zum Zerfall des Sowjetreichs. Was als Sowjetunion in die Qualifikation gestartet war, kam als GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten) wieder heraus. Der lockere Verband von elf größtenteils neuen Staaten mit Russland als Zentrum war eine Fußnote der Weltgeschichte.

"Wir können nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen"

Auch hier legte niemand Einspruch gegen den Kompromiss ein, schließlich hatte es ja noch keinen Staat Lettland oder Litauen gegeben, als die Qualifikation 1990 begonnen hatte. Nur in einem Fall gab es kein Erbarmen: Im gleichsam auseinanderdriftenden Jugoslawien tobte ein fürchterlicher Bürgerkrieg, Bilder von Tod und Vertreibung gingen um die Welt. Der UN-Sicherheitsrat verhängte wegen der Menschenrechtsverletzungen Sanktionen gegen Jugoslawien, darunter auch einen Sportboykott. Daraufhin schloss die UEFA Jugoslawien zehn Tage vor der Endrunde von der EM aus, obwohl die Mannschaft bereits in Schweden angekommen war.

"Wir können nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen. Immerhin repräsentiert diese Mannschaft Restjugoslawien, und wir müssen der politischen Wahrheit ins Auge sehen", sagte UEFA-Präsident Lennart Johansson. Dieser äußerst ernste Hintergrund bereitete einer der größten Sensationen im Sport überhaupt den Weg. Denn ganz ohne Vorbereitung rückte der Gruppenzweite für Jugoslawien nach – Dänemark. Der spätere Europameister kam durch die Hintertür, Buchmacher boten vor Turnierbeginn Quoten von 40:1 für die Wette auf den Europameister Dänemark.

Favoriten waren andere. Manch einer rechnete wieder mit dem Champion von 1984, Frankreich. 1988 und bei der WM waren die Franzosen noch Zuseher, dann übernahm ihr Garant des 84er-Titels das Zepter. Michael Platini wurde Trainer der Equipe Tricolore, die in ihrer Gruppe alle acht Spiele gewann. Auf der Strecke blieben die Geheimtipps CSSR – auch sie erhielt übrigens aus politischen Gründen einen neuen Namen (CSFR) – und Spanien, das erstmals seit 1964 eine Endrunde verpasste. Natürlich stand auch Titelverteidiger Niederlande hoch im Kurs. Er startete zwar mit einer Niederlage in Portugal (0:1). Doch dann brachte der zurückgeholte Trainer der Europameister von 1988, Rinus Michels, mittlerweile 64 Jahre alt, "Oranje" auf EM-Kurs.

Natürlich zählten auch die Engländer zu den Favoriten, doch mehr wegen der Tradition als der Gegenwart. Mit lächerlichen sieben Toren schaffte das Team von Coach Graham Taylor den Gruppensieg, knapp vor Irland, das sich wie 1988 nicht vom Nachbarn bezwingen ließ (zweimal 1:1). Die Engländer waren nicht der einzige britische Qualifikant, in Gruppe 2 setzte sich überraschend Schottland durch. Es war die EM-Premiere der "Bravehearts", die vor dem Fernseher das Ticket lösten, weil Rumänien im letzten Spiel in Bulgarien (1:1) patzte. Nur ein Zähler fehlte in dieser engen Gruppe den vom Deutschen Uli Stielike trainierten Schweizer.

Deutschland nicht ohne Probleme in der Qualifikation

Das große Italien wechselte während der Qualifikation seinen Trainer, für Azeglio Vicini kam Arrigo Sacchi, aber doch kein Erfolg. Mit drei Punkten hinter der GUS lief die Squadra Azzura ins Ziel ein und verpasste die Fähre nach Schweden. Dort fand übrigens auch ein Qualifikationsspiel statt, obwohl der Gastgeber diese Mühsal natürlich erspart blieb.

Doch die erstmals teilnehmenden Färöer, eine Insel-Gruppe im Nordatlantik, verfügten nur über Kunstrasenplätze. So mussten sie für ihr Heimspiel am 12. September 1990 gegen Österreich ins schwedische Landskrona ausweichen, wo sich die größte Sensation in einem EM-Qualifikationsspiel überhaupt ereignete. Die Färinger gewannen mit 1:0 und der Torwart mit der Pudelmütze, Jens Martin Knudsen, wurde zum Sinnbild des Zwergenaufstands, der Österreichs Trainer Josef Hickersberger den Job kostete. Danach holten die Männer von den Schafsinseln keine Punkte mehr, unsterblich waren sie ja schon. Was den Deutschen ihr Cordoba, ist seit diesem Tag den Österreichern ihr Landskrona.

Die Weste von Weltmeister Deutschland blieb auch nicht weiß. Als die Elf von Berti Vogts am 18. Dezember 1991 zum letzten Spiel in Leverkusen gegen Luxemburg antrat, hieß der Tabellenführer noch Wales. Gegen die Briten hatte die DFB-Auswahl im Juni 1991 (0:1) Punkte und Nerven verloren – Thomas Berthold sah Rot – und obwohl alle anderen Spiele gewonnen wurde, wurde der Marsch nach Schweden kein Spaziergang. Gegen Belgien gab es zwei glanzlose 1:0-Siege und selbst zum Auftakt in Luxemburg (3:2 nach 3:0) musste der Weltmeister zittern. Im Rückspiel nicht: Lothar Matthäus, Guido Buchwald, Karl-Heinz Riedle und Thomas Häßler schossen den Pflichtsieg (4:0) heraus.

Obwohl das erhoffte Schützenfest gegen den Fußballzwerg ausblieb, lobte der Kicker: "Die deutsche Mannschaft verfügt über eine Vielzahl von Persönlichkeiten, denen selbst gegen einen nominellen Fußballzwerg die Bedeutung der Aufgabe bewusst ist." Der Kern der Weltmeister-Elf existierte noch, bis auf Abwehrchef Klaus Augenthaler und Dribbelkönig Pierre Littbarski waren anfangs alle noch für Deutschland am Ball. Der Neu-Münchner Berthold disqualifizierte sich durch seinen Platzverweis, der ihm eine lange Sperre einbrachte, selbst. Doch hatten die Helden eine weitere Anreise zu Heimspielen, denn der halbe Kader spielte in Italien.

Beckenbauer: "Auf Jahre hinaus unbesiegbar"

Gegen Luxemburg liefen sieben "Italiener" auf, mit Joker Häßler waren es dann acht. Fußballer "made in Germany" waren nach dem WM-Triumph äußerst angesagte Importschlager. Verstärkt wurde der Kader durch Spieler der zusammengebrochenen DDR, auch wenn es im ersten Jahr der gesamtdeutschen Elf keiner zu einer festen Größe schaffte. Nur der Ex-Dresdener Matthias Sammer von Meister Stuttgart und die früheren Berliner Dynamos Thomas Doll (Lazio Rom) und Andreas Thom (Leverkusen) ergatterten sich einen Platz im EM-Aufgebot, aber keinen Stammplatz auf dem Feld.

Franz Beckenbauers letztlich fatale Prophezeiung in der Euphorie nach der Krönung in Rom, diese Elf sei wegen der DDR-Spieler "auf Jahre hinaus nicht mehr zu besiegen", weckte Erwartungen, unter der diese Mannschaft litt. Und sie stimmten nicht, wie sich in Wrexham zeigte – und auch im ersten Testspiel des Kalenderjahres 1992 setzte es in Turin ein 0:1 gegen EM-Verpasser Italien. All das war noch kein Grund zur Panik, rief aber warnende Stimmen auf den Plan. "Die Abwehr stand nicht sicher, vom Sturm war so gut wie nichts zu sehen", schrieb der Kicker und titelte, was fast jedem Bundestrainer vor einem Turnier attestiert wurde: "Vogts bleibt noch viel Arbeit".

Noch immer war er auf der Suche nach einem Abwehrchef, Manfred Binz von Herbstmeister Eintracht Frankfurt hieß sein Favorit. Doch es mangelte ihm ebenso an Turniererfahrung wie Innenverteidiger Thomas Helmer von Borussia Dortmund, der als Alternative zum angeschlagenen Wahl-Turiner Jürgen Kohler aufgebaut wurde. An Karfreitag, den 17. April 1992, wurden die Sorgen des Berti Vogts dann ein erhebliches Stück größer. Sein Kapitän Lothar Matthäus, zunächst angeblich nur leicht verletzt, erhielt seine Diagnose: Kreuzbandriss. Das Aus für die EM. "Die endgültige Diagnose war natürlich niederschmetternd. Ich weiß, was das in meinem Alter bedeutet", sagte Matthäus. Der Weltmeister von 1974, Paul Breitner, erklärte es der Öffentlichkeit: "Wir müssen damit rechnen, dass dies das Ende der ganz großen Karriere von Lothar Matthäus bedeutet."

Berti Vogts beschwichtigte: "Lothars internationale Karriere ist auf keinen Fall beendet." Aber natürlich fehlte der Name des Weltfußballers 1991 auf der Kader-Liste, die der DFB am 20. Mai 1992 veröffentlichte. Auch Weltmeister Uwe Bein war nicht unter den 20 Schweden-Fahrern, der Frankfurter verzichtete wegen Verletzungsbeschwerden. In der Endphase der längsten Bundesligasaison aller Zeiten (38 Spieltage) hatte der Spielmacher nur noch mit Spritzen gespielt. Umso wichtiger war es, dass Stefan Effenberg fit wurde. Der 23-jährige Hitzkopf genoss zwar kaum Sympathien bei den Fans, die ihn im phantastischen Heimspiel gegen Wales (4:1) bei der Einwechslung ausgepfiffen hatten. Doch gemeinsam mit Sammer sollte er das Erbe von Matthäus antreten. Von Thomas Häßler sprach keiner. Dabei war der kleine Freistoßkünstler trotzdem, als einer von vier "Römern" im Kader, in dem insgesamt acht Legionäre (alles Italiener) standen – ein Novum in der Turnier-Historie des DFB.

Schweden 1992: Ein Turnier der kurzen Wege

Neu war auch die Rolle, die der FC Bayern in der Nationalelf spielte. Der Rekordmeister wäre 1992 beinahe abgestiegen, entsprechend fand sich in Effenberg nur ein Münchner im Kader wieder. Auch das hatte es nach dem Krieg noch nie gegeben. Aber auch "Effe" hatte den Reisepass schon in der Tasche, sein Wechsel nach Florenz stand fest – während bei gleich drei Spielern (Brehme, Möller, Helmer) die Zukunft ungeklärt war. Sehr zum Verdruss von Vogts, der kein Vertragspoker im Trainingslager dulden wollte – nur bei Brehme, "der uns zum Weltmeister geschossen hat", wollte er deshalb ein Auge zudrücken. Nach unbefriedigenden Abschlusstests (1:0 gegen die Türkei, 1:1 vs. Nordirland) flog der Weltmeister bei Dauerregen mit gemischten Gefühlen von Frankfurt zur EM nach Schweden. Als die 51köpfige Delegation am Pfingstmontag 1992 in Norrköpping landete, lachte die Sonne. Ein gutes Omen?

Das Turnier: Schweden sollte eine EM der kurzen Wege werden. In nur vier Stadien, allesamt im Süden des Landes, sollten die Spiele ausgetragen werden. Der Zuschauerrekord von 1988 (863.000) war schon vor Anpfiff verpasst, die Kapazitäten der Arenen in Malmö (29.700), Göteborg (43.000), Norrköpping (22.000) und Stockholm (30.500) machten ihn unmöglich. Andererseits blieben den TV-Zuschauern Bildern von halbleeren Schüssel wie noch 1980 in Italien oder 1976 in Jugoslawien erspart. Die durchschnittliche Stadionauslastung betrug 1992 86,25 Prozent, pro Spiel kamen laut UEFA-Statistik 28.616 Zuschauer.

Doch was bekamen sie zu sehen? Über das Niveau wurde in Schweden viel geklagt. Der Toreschnitt ging auf 2,13 zurück, drei Partien endeten 0:0. Die Gruppe 1 mit Gastgeber Schweden, Frankreich, England und den Dänen startete mit drei Unentschieden, was man zumindest von Eröffnungspartien (Schweden – Frankreich 1:1) gewohnt war. Zwischen England und Nachrücker Dänemark sowie Frankreich und England fielen gar keine Tore, Stürmer-Star Jean-Pierre Papin kam nur auf acht Ballkontakte und Trainer Michel Platini entschuldigte sich nach dem zweiten Remis der Franzosen "für meine Spieler", ehe er sich selbst entlarvte: "Zuerst einmal zählt, keine Tore zu erzielen." Sein Kollege Graham Taylor stand ihm bei: "Die Zuschauer mögen enttäuscht sein, für mich aber hat sich gezeigt dass England auf hohem taktischen Niveau spielen kann."

Die Angst vor dem frühen Aus dominierte die Vorrundenspiele besonders in dieser Gruppe. Erst Gastgeber Schweden brach den Unentschieden-Bann und feierte dank eines Treffers von Italien-Legionär Tomas Brolin in Stockholm einen 1:0-Erfolg über die Dänen, die nach zwei Partien noch torlos waren. Man bewunderte sie für ihren Kampfgeist, aber den kommenden Europameister sah noch niemand in der Mannschaft von Richard Möller-Nielsen. Vor dem letzten Spieltag in dieser Gruppe hatten alle Teams noch eine Halbfinal-Chance. Schweden reichte ein Punkt gegen England, das besser gewinnen sollte. Dänemark musste Frankreich schlagen. Der Fakt, dass bloßes Taktieren nicht allen weiterhalf, öffnete plötzlich die Tore. Nach zuvor nur drei Treffern in vier Partien fielen nun sechs in zweien.

Schweden siegt überraschend gegen England

Und zweimal staunte die Fußballwelt: Schweden schickte England sieglos nach hause. David Platt schoss die Engländer zwar schon nach vier Minuten in Front, doch nach der Pause trieben 29.000 im Rasunda-Stadion "Sverige" zum 2:1-Sieg. Wieder schoss Brolin das Siegtor, die EM hatte ihren ersten Star. England aber fuhr wie schon 1988 nach der Vorrunde heim und der Daily Mirror ätzte in Richtung des Trainers: "Wen willst du als nächsten blamieren, Taylor?"

Blamabel auch das Verhalten der englischen Hooligans, die ihren Frust in gewohnter Manier am Mobiliar und Ordnungskräften ausließen. Polizeibilanz: Zehn Verletzte, 64 Haftungen. Die Abreise der englischen Fans wurde von daher kaum bedauert.

Dass auch die Franzosen die Koffer packen mussten, wurde mit ungläubigem Staunen registriert. Bedeutete es doch, dass die "Urlauber" aus Dänemark das Halbfinale erreichten. Die Dänen stellten eine sportwissenschaftlichen Theorien in Frage und brüskierten die Vertreter der herrschenden Trainingslehre. Am Tag vor dem Spiel gingen sie zum Minigolf und zuweilen sah man sie in Kompaniestärke bei McDonalds. Dennoch hatten sie genug Erfolgs- und Torhunger, um Frankreich 2:1 zu besiegen.

Henrik Larsen gelang nach sieben Minuten das frühe 1:0, das "Les Bleues" erst in der 61. Minute durch Papin ausglich. Doch dann zündete wieder "Danish Dynmite", Joker Lars Elstrup schoss das vom Gros der Zuschauer umjubelte 2:1. Dass er in Dänemarks 2. Liga spielte, passte zum anarchischen Spiel der "Wikinger". Platini trat nach der Schmach von Malmö zurück, reichte die Schuld aber weiter: "Wir Franzosen träumen immer von der ganz großen Show und vielen Toren. Doch das war mit der Mannschaft, die mir hier zur Verfügung stand, nicht realistisch." L’Equipe klagte: "Ab nach Hause! Die Blauen sind tief gefallen". Während die etablierten Mächte des Kontinents die Koffer packen mussten, blieben die beiden Skandinavier im Turner. Ein schlicht unglaublicher Ausgang der Gruppe 1.

"Icke" Hässler rettet das Unentschieden

Die deutsche Mannschaft stritt sich in der Parallelgruppe mit dem alten Rivalen Niederlande, der zum dritten Mal in Folge bei einem Turnier Gegner war, um die Favoritenrolle. Auf die GUS und Schottland setzten die Wenigsten. Hier sollten die Experten recht bekommen, aber nur wenn man schlicht auf das Endergebnis sieht. Die Schotten waren in der Tat schon nach dem zweiten Spiel ausgeschieden – zum achten Mal beim achten Turnier war die Vorrunde auch Endstation für die Bravehearts. Dabei wehrten sie sich gegen den Titelverteidiger Niederlande tapfer, erst ein spätes Tor von Dennis Bergkamp (73.) brachte die Entscheidung. Rinus Michels schnaufte durch: "Unsere harte Vorbereitung hat sich ausgezahlt."

Auch die Deutschen waren am Ende froh darüber, dass sie Luft für 90 Minuten hatten. Denn nach 89 lagen sie gegen die GUS in Norrköpping nach einem Dobrowolski-Elfmeter keineswegs unverdient zurück. Spielerisch lief wenig, hinzu kam der Schock in Rudi Völler nach Matthäus den zweiten Kapitän verloren zu haben – er brach sich nach 25 Minuten den linken Unterarm und reiste noch in der Nacht ab. Ein anderer Weltmeister wurde in diesen Momenten umso wertvoller. Dem deutschen Dauerdruck entsprang in besagter letzter Minute ein Freistoß, den der Spezialist für Kunstschüsse, Thomas Häßler, zum 1:1 verwandelte. Der Weltmeister kam mit einem blauen Auge davon und konnte sich nur mit dem Neid der Auslandspresse trösten. "Sie verlieren nie", seufzte Frankreichs L’Equipe und Dänemarks Politiken attestierte: "Typisch deutsch".

Doch es erforderte eine Steigerung und gegen die Schotten stellte sie sich ein. In Norrköpping siegte die DFB-Elf 2:0, Karl-Heinz Riedle (30.) und Stefan Effenberg (47.) mit einer abgefälschten Flanke schossen die Tore für die auf drei Positionen veränderte Elf. Für Stefan Reuter, Rudi Völler und Thomas Doll brachte Vogts Andreas Möller, Matthias Sammer und Jürgen Klinsmann. In Erinnerung bleibt vom besten deutschen Vorrundenspiel vor allem der Dauereinsatz der medizinischen Abteilung, die für Reuter und Buchwald Turbane wickeln musste. Riedle schied mit Nasenbeinbruch aus, sein Nachfolger Reuter sechs Minuten später mit blutender Platzwunde ebenfalls.

Es war ein wahrlich hart erkämpfter Sieg, die tapferen Schotten wehrten sich mit allen Mitteln gegen das vorzeitige EM-Aus. Eine Schlüsselrolle sollten sie dennoch spielen bei dieser Endrunde. Denn nachdem sich GUS und Niederländer 0:0 trennten, hatten noch drei Teams Chancen. Vor dem Gigantenduell zwischen Deutschen und Niederländern war die Ausgangslage so: Deutschland reichte als Tabellenführer ein Punkt, aber bei einer Niederlage durfte die Auswahl des zerfallenden Russenreichs nicht gewinnen, am besten sollte sie verlieren. Aber würden die chancenlosen Schotten sich noch mal reinhängen? Trainer Andy Roxburgh versprach zwar, man wolle "erhobenen Hauptes" abreißen, doch wer wollte sich darauf verlassen. Nun, an diesem 18. Juni 1992 gewannen die Schotten dem Fairplay-Gedanken eine Schlacht.

"Ich musste leider so laut wie noch nie bei der Nationalmannschaft werden"

Während Deutschland nach einer desolaten Defensivleistung, der Kicker sprach von einer "Abwehr wie ein Hühnerhaufen", den Niederländern 1:3 (Tor: Klinsmann) unterlag, überrannten die Bravehearts zeitgleich die Russen mit 3:0. Schon nach 17 Minuten hieß es 2:0, 2000 Fans feierten ihre Helden, die nicht mit leeren Händen auf ihre Insel zurückflogen: sie erhielten von der UEFA den Fairplay-Preis.

Im Halbfinale aber standen Europameister Niederlande und Weltmeister Deutschland – ganz wie es die Experten voraussagten. Aber diesen Verlauf sah dann doch niemand vorher. Vogts brach mit Teilen der Mannschaft, opferte die Frankfurter Binz (schon zur Halbzeit) und Möller und erzählte der Presse: "Ich musste leider so laut wie noch nie bei der Nationalmannschaft werden und habe harte Worte gebraucht, die ich Nationalspielern gegenüber nicht gerne benutze." Die Niederländer aber spielten wie der neue Europameister und waren nach den 90 Minuten von Göteborg der große Favorit. Zumal im Halbfinale "nur" die Dänen warteten. Doch zunächst spielten die Deutschen gegen den im Rasunda-Stadion noch ungeschlagenen Gastgeber.

Die Mittsommersonne erhellte auch bei dieser Partie die Szenerie, Flutlicht wurde trotz der Anstoßzeit von 20.15 Uhr (wie bei den meisten Partien) nicht gebraucht. Das gab dieser EM ihren eigenen Charakter, über Schweden lachte die Sonne.

Über der Mannschaft an diesem Tag nicht mehr. Vogts baute eine neue Elf, um das Finale zu erreichen, was das Minimalziel des Weltmeisters war. Für Binz rückte Thomas Helmer, zuvor im Mittelfeld, auf den Libero-Posten. Matthias Sammer. Matthias Sammer, gegen die Niederländer noch Joker, bekam den Dirigentenstab in die Hand gedrückt und die genesenen Haudegen Guido Buchwald und Stefan Reuter kehrten in die Abwehr zurück. Für Eintagsfliege Michael Frontzeck und Andy Möller sowie den bedauernswerten Manfred Binz war die EM beendet.

DFB-Team eliminiert Gastgeber im Halbfinale

Der Erfolg gab Vogts Recht. In Stockholm überzeugte der Weltmeister endlich auch spielerisch, auch wenn wieder ein Standard zum 1:0 führte: Thomas Häßler, der in Schweden in der Form seines Lebens war, zirkelte einen Freistoß an Ravelli vorbei ins Netz (11.). Zur Pause hätte der Weltmeister weit höher führen können, doch Sammer, Klinsmann und Brehme, der die Latte traf, hatten Pech im Abschluss. Die erste Chance der konsternierten Schweden wurde in der 51. Minute registriert, als auch Bodo Illgner einmal gebraucht wurde. Ehe die Schweden daraus allzu viel Mut ziehen konnten, schlug Karl-Heinz Riedle, damals bei Lazio Rom, zu (60.).

Wie so oft bei EM-Endrunden gab es dann einen unberechtigten Elfmeter gegen die Deutschen, Helmers Attacke gegen Klas Ingeson galt dem Ball. Brolin vollstreckte, es war wieder spannend (65.). Erst in vorletzter Minute erlöste der starke Riedle mit seinem zweiten Treffer die Heimat. Ein Leichtsinnsfehler Illgners brachte den Schweden durch Kennet Andersson noch das 2:3, aber das Finale im eigenen Land verpassten sie dennoch. Stockholm sah die Auferstehung des Weltmeisters und der Kleinste war der Größte: Thomas Häßler erhielt allenthalben Lob, Italiens Gazetta dello Sport verglich ihn mit Maradona und Vogts fand: "Für mich ist er neben van Basten der beste Spieler des Turniers."

Da ahnte er noch nicht, welche Rolle Marco van Basten, Star der EM 1988, am nächsten Tag spielen würde. Vor der Partie sagte der Stürmer des AC Milan noch: "Ein K.o. gegen die Dänen wäre für uns die schlimmste Blamage. Dagegen wäre der Rausschmiss gegen die Vogts-Truppe ein Klacks gewesen." Van Basten selbst sorgte dann nach dem einzigen Spiel, das in die Verlängerung musste (2:2 nach 90 und 120 Minuten) für die Blamage. Beim Elfmeterschießen trafen neun von zehn Schützen, nur er scheiterte an Torwart-Hüne Peter Schmeichel, der "vom Fernsehen wusste, wohin Marco schießt".

Die Sensation war perfekt, Dänemarks "Big Mac-Truppe", wie sie in einer Mischung aus Respekt und Spott genannt wurde, stand im Finale. Nach nur einem Sieg in vier Spielen, sofern das Elfmeterschießen nicht zählt. Dennoch waren sich die Beobachter einig: die Besseren hatten sich durchgesetzt. Tribünengast Berti Vogts: "Sie haben mit Herz gekämpft und sich den Finaleinzug verdient." Zumal sie zur fehlenden Vorbereitung weitere Nachteile kompensierten. Henrik Andersen vom 1. FC Köln schied mit Kniescheibenbruch aus und zwei Kameraden (Sivebaek und Olsen) humpelten dem Abpfiff förmlich entgegen.

Dänemark bringt die Fußballwelt durcheinander

Der Torwart der enttäuschten Niederländer, Hans van Breukelen, räumte ihnen keine Chancen fürs Finale ein: "Die Dänen sind total kaputt. Die Deutschen sind bereits Weltmeister, jetzt werden sie auch noch diesen Titel holen. Dies wird für mich schlaflose Nächte bedeuten." So hört sich Frust an. Man konnte ihn auch sehen, etwa als nach der Partie Fans der Niederländer ihre bereits gekauften Final-Karten verbrannten. Dänemark brachte die ganze Fußballwelt durcheinander. Und die Heimat auch. Extrabladet titelte euphorisch: "Komm nur, Deutschland, wir nehmen das Gold. Die Favoritenkiller haben die Weltstars aus Holland bezwungen."

Fehlten also nur noch die Deutschen. Der Fußball hatte schon damals kaum noch Geheimnisse, auch wenn es die letzte EM vor dem Internet war. Aber dass in John Jensen (zuvor HSV), Brian Laudrup (Bayern), Fleming Povlsen (Dortmund) und Bent Christensen (Schalke) nebst dem verletzten Kölner Andersen fünf bundesligaerfahrene Spieler im Kader standen, konnte nichts schaden. Überraschen konnte die deutsche Elf diese Dänen nicht, zumal Vogts sie nicht mehr änderte.

Vor 37.800 Zuschauer trafen die Nachbarländer im Ullevi-Stadion von Göteborg, das wegen der Halbfinal-Pleite 1958 gegen Schweden kein gutes Omen zu sein schien, am 26. Juni 1992 aufeinander. Die Dänen hatten ein gefühltes Heimspiel, Rot-Weiß dominierte auf den Rängen. Und schon bald auch auf dem Platz. Vor der Pause ließen die Dänen nur drei Chancen zu, Reuter und Effenberg scheiterten an Schmeichel, Klinsmann verzog knapp.

Der erste dänische Schuss freilich war drin: Kim Vilfort, zwischenzeitlich wegen seiner an Leukämie erkrankten Tochter abgereist, erkämpfte nicht ganz fern den Ball von Brehme und bediente John Jensen. "Schieß, schieß, wenn der Keeper hält, ist es egal", will er sich vor dem Hammer aus 17 Metern gedacht haben. Effenberg warf sich ihm noch auf groteske Weise wie ein Skispringer entgegen. Doch der Ball schlug unhaltbar neben Illgner ein. "Nicht auszudenken, wenn die Dänen Europameister werden", sprach ARD-Kommentator Heribert Fassbender ins Mikrofon. Er meinte das gar nicht so sehr aus deutscher Sicht, sondern ganz allgemein. Eben weil es doch undenkbar war, dass eine Mannschaft ohne Vorbereitung Europameister wird. Aber sie wurden es.

Dänen feiern ihren "Triumph der Intelligenz"

"Vor diesem Tor waren wir alle müde und nervös, anschließend waren wir wach", erzählte Jensen. Die Deutschen waren vor allem wütend, noch auf dem Gang in die Kabine beschwerte sich Brehme bei Bruno Galler wegen des nichtgeahndeten Fouls an ihm.

Berti Vogts reagierte und wechselte Thomas Doll für Sammer ein. Doch es besserte sich nichts, erst in der 72. Minute bot sich die Ausgleichschance, aber Klinsmann scheiterte an Schmeichel. In der 78. Minute wurde das Finale entschieden. Vilfort überwand Illgner aus rund 20 Metern, keineswegs unhaltbar und leider erneut irregulär. Vimfort nahm zuvor die Hand zur Hilfe. Vogts verhalf noch Andreas Thom zu seinem EM-Debüt, aber der Leverkusener konnte in neun Minuten auch nichts mehr retten. Die Deutschen fanden einfach kein Mittel gegen die Dänen, denen Extrabladet einen "Triumph der Intelligenz" attestierte.

Auch Vogts huldigte dem Sieger: "Wer gegen England nicht verliert, wer Frankreich, Holland und Deutschland besiegt, ist ein würdiger Europameister." In Kopenhagen feierten am nächsten Tag rund eine Million Menschen die größte Sensation bei einem großen Fußballturnier, die erst von den Griechen 2004 in den Schatten gestellt werden sollte.

"Wir haben Geschichte geschrieben. Das wird es nie mehr geben, dass eine Mannschaft mit acht Tagen Vorbereitung Europameister wird", sagte Brian Laudrup. In der Tat. Und das machte den verdienten und noch immer einmaligen Triumph der Dänen vom ersten Moment an so besonders. Die Deutschen, die nunmehr EM-Rekordfinalist waren (vier Teilnahmen), leckten ihre Wunden. Berti Vogts sah es gelassener als ein Teil der Öffentlichkeit: "Wir sind Vize-Europameister, deshalb bin ich nicht enttäuscht. Wir müssen zufrieden sein mit dem was wir hier erreicht haben." 1996 durfte es dann noch ein bisschen mehr sein.

Kaum Steigerungsbedarf propagierte dagegen die UEFA, die einen Rekordgewinn 55,08 Millionen Schweizer Franken einfuhr. Die EM-Idee erklomm immer höhere Gipfel.

[um]

[bild1]

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Teil sieben thematisiert die EM 1992 in Schweden: Dänemark ist eigentlich gar nicht qualifiziert, rückt für Jugoslawien nach und besiegt Weltmeister Deutschland im Finale sensationell mit 2:0.

Keine Europameisterschaft wurde stärker von der großen Politik beeinflusst als die EM 1992. Keineswegs nur zum Nachteil, wie man gewöhnlich behaupten kann. Doch wer in Europa wollte sich nicht mit den Deutschen freuen, als sie in Folge des Mauerfalls im Herbst 1989 wieder vereint waren. Da war es nur eine Marginalie, dass das brisante Qualifikations-Duell zwischen Bundesrepublik und DDR oder "Wir gegen uns" (Kicker) ersatzlos gestrichen wurde.

So war die deutsche Gruppe die einzige mit vier Mannschaften und der Weg nach Schweden etwas kürzer. Leichter nicht, wie noch darzulegen sein wird. Die politische Wende in Osteuropa, unter dem Stichworten "Glasnost" und "Perestroika" bekannt geworden, führte zum Zerfall des Sowjetreichs. Was als Sowjetunion in die Qualifikation gestartet war, kam als GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten) wieder heraus. Der lockere Verband von elf größtenteils neuen Staaten mit Russland als Zentrum war eine Fußnote der Weltgeschichte.

"Wir können nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen"

Auch hier legte niemand Einspruch gegen den Kompromiss ein, schließlich hatte es ja noch keinen Staat Lettland oder Litauen gegeben, als die Qualifikation 1990 begonnen hatte. Nur in einem Fall gab es kein Erbarmen: Im gleichsam auseinanderdriftenden Jugoslawien tobte ein fürchterlicher Bürgerkrieg, Bilder von Tod und Vertreibung gingen um die Welt. Der UN-Sicherheitsrat verhängte wegen der Menschenrechtsverletzungen Sanktionen gegen Jugoslawien, darunter auch einen Sportboykott. Daraufhin schloss die UEFA Jugoslawien zehn Tage vor der Endrunde von der EM aus, obwohl die Mannschaft bereits in Schweden angekommen war.

"Wir können nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen. Immerhin repräsentiert diese Mannschaft Restjugoslawien, und wir müssen der politischen Wahrheit ins Auge sehen", sagte UEFA-Präsident Lennart Johansson. Dieser äußerst ernste Hintergrund bereitete einer der größten Sensationen im Sport überhaupt den Weg. Denn ganz ohne Vorbereitung rückte der Gruppenzweite für Jugoslawien nach – Dänemark. Der spätere Europameister kam durch die Hintertür, Buchmacher boten vor Turnierbeginn Quoten von 40:1 für die Wette auf den Europameister Dänemark.

Favoriten waren andere. Manch einer rechnete wieder mit dem Champion von 1984, Frankreich. 1988 und bei der WM waren die Franzosen noch Zuseher, dann übernahm ihr Garant des 84er-Titels das Zepter. Michael Platini wurde Trainer der Equipe Tricolore, die in ihrer Gruppe alle acht Spiele gewann. Auf der Strecke blieben die Geheimtipps CSSR – auch sie erhielt übrigens aus politischen Gründen einen neuen Namen (CSFR) – und Spanien, das erstmals seit 1964 eine Endrunde verpasste. Natürlich stand auch Titelverteidiger Niederlande hoch im Kurs. Er startete zwar mit einer Niederlage in Portugal (0:1). Doch dann brachte der zurückgeholte Trainer der Europameister von 1988, Rinus Michels, mittlerweile 64 Jahre alt, "Oranje" auf EM-Kurs.

Natürlich zählten auch die Engländer zu den Favoriten, doch mehr wegen der Tradition als der Gegenwart. Mit lächerlichen sieben Toren schaffte das Team von Coach Graham Taylor den Gruppensieg, knapp vor Irland, das sich wie 1988 nicht vom Nachbarn bezwingen ließ (zweimal 1:1). Die Engländer waren nicht der einzige britische Qualifikant, in Gruppe 2 setzte sich überraschend Schottland durch. Es war die EM-Premiere der "Bravehearts", die vor dem Fernseher das Ticket lösten, weil Rumänien im letzten Spiel in Bulgarien (1:1) patzte. Nur ein Zähler fehlte in dieser engen Gruppe den vom Deutschen Uli Stielike trainierten Schweizer.

Deutschland nicht ohne Probleme in der Qualifikation

Das große Italien wechselte während der Qualifikation seinen Trainer, für Azeglio Vicini kam Arrigo Sacchi, aber doch kein Erfolg. Mit drei Punkten hinter der GUS lief die Squadra Azzura ins Ziel ein und verpasste die Fähre nach Schweden. Dort fand übrigens auch ein Qualifikationsspiel statt, obwohl der Gastgeber diese Mühsal natürlich erspart blieb.

Doch die erstmals teilnehmenden Färöer, eine Insel-Gruppe im Nordatlantik, verfügten nur über Kunstrasenplätze. So mussten sie für ihr Heimspiel am 12. September 1990 gegen Österreich ins schwedische Landskrona ausweichen, wo sich die größte Sensation in einem EM-Qualifikationsspiel überhaupt ereignete. Die Färinger gewannen mit 1:0 und der Torwart mit der Pudelmütze, Jens Martin Knudsen, wurde zum Sinnbild des Zwergenaufstands, der Österreichs Trainer Josef Hickersberger den Job kostete. Danach holten die Männer von den Schafsinseln keine Punkte mehr, unsterblich waren sie ja schon. Was den Deutschen ihr Cordoba, ist seit diesem Tag den Österreichern ihr Landskrona.

Die Weste von Weltmeister Deutschland blieb auch nicht weiß. Als die Elf von Berti Vogts am 18. Dezember 1991 zum letzten Spiel in Leverkusen gegen Luxemburg antrat, hieß der Tabellenführer noch Wales. Gegen die Briten hatte die DFB-Auswahl im Juni 1991 (0:1) Punkte und Nerven verloren – Thomas Berthold sah Rot – und obwohl alle anderen Spiele gewonnen wurde, wurde der Marsch nach Schweden kein Spaziergang. Gegen Belgien gab es zwei glanzlose 1:0-Siege und selbst zum Auftakt in Luxemburg (3:2 nach 3:0) musste der Weltmeister zittern. Im Rückspiel nicht: Lothar Matthäus, Guido Buchwald, Karl-Heinz Riedle und Thomas Häßler schossen den Pflichtsieg (4:0) heraus.

Obwohl das erhoffte Schützenfest gegen den Fußballzwerg ausblieb, lobte der Kicker: "Die deutsche Mannschaft verfügt über eine Vielzahl von Persönlichkeiten, denen selbst gegen einen nominellen Fußballzwerg die Bedeutung der Aufgabe bewusst ist." Der Kern der Weltmeister-Elf existierte noch, bis auf Abwehrchef Klaus Augenthaler und Dribbelkönig Pierre Littbarski waren anfangs alle noch für Deutschland am Ball. Der Neu-Münchner Berthold disqualifizierte sich durch seinen Platzverweis, der ihm eine lange Sperre einbrachte, selbst. Doch hatten die Helden eine weitere Anreise zu Heimspielen, denn der halbe Kader spielte in Italien.

Beckenbauer: "Auf Jahre hinaus unbesiegbar"

Gegen Luxemburg liefen sieben "Italiener" auf, mit Joker Häßler waren es dann acht. Fußballer "made in Germany" waren nach dem WM-Triumph äußerst angesagte Importschlager. Verstärkt wurde der Kader durch Spieler der zusammengebrochenen DDR, auch wenn es im ersten Jahr der gesamtdeutschen Elf keiner zu einer festen Größe schaffte. Nur der Ex-Dresdener Matthias Sammer von Meister Stuttgart und die früheren Berliner Dynamos Thomas Doll (Lazio Rom) und Andreas Thom (Leverkusen) ergatterten sich einen Platz im EM-Aufgebot, aber keinen Stammplatz auf dem Feld.

Franz Beckenbauers letztlich fatale Prophezeiung in der Euphorie nach der Krönung in Rom, diese Elf sei wegen der DDR-Spieler "auf Jahre hinaus nicht mehr zu besiegen", weckte Erwartungen, unter der diese Mannschaft litt. Und sie stimmten nicht, wie sich in Wrexham zeigte – und auch im ersten Testspiel des Kalenderjahres 1992 setzte es in Turin ein 0:1 gegen EM-Verpasser Italien. All das war noch kein Grund zur Panik, rief aber warnende Stimmen auf den Plan. "Die Abwehr stand nicht sicher, vom Sturm war so gut wie nichts zu sehen", schrieb der Kicker und titelte, was fast jedem Bundestrainer vor einem Turnier attestiert wurde: "Vogts bleibt noch viel Arbeit".

Noch immer war er auf der Suche nach einem Abwehrchef, Manfred Binz von Herbstmeister Eintracht Frankfurt hieß sein Favorit. Doch es mangelte ihm ebenso an Turniererfahrung wie Innenverteidiger Thomas Helmer von Borussia Dortmund, der als Alternative zum angeschlagenen Wahl-Turiner Jürgen Kohler aufgebaut wurde. An Karfreitag, den 17. April 1992, wurden die Sorgen des Berti Vogts dann ein erhebliches Stück größer. Sein Kapitän Lothar Matthäus, zunächst angeblich nur leicht verletzt, erhielt seine Diagnose: Kreuzbandriss. Das Aus für die EM. "Die endgültige Diagnose war natürlich niederschmetternd. Ich weiß, was das in meinem Alter bedeutet", sagte Matthäus. Der Weltmeister von 1974, Paul Breitner, erklärte es der Öffentlichkeit: "Wir müssen damit rechnen, dass dies das Ende der ganz großen Karriere von Lothar Matthäus bedeutet."

Berti Vogts beschwichtigte: "Lothars internationale Karriere ist auf keinen Fall beendet." Aber natürlich fehlte der Name des Weltfußballers 1991 auf der Kader-Liste, die der DFB am 20. Mai 1992 veröffentlichte. Auch Weltmeister Uwe Bein war nicht unter den 20 Schweden-Fahrern, der Frankfurter verzichtete wegen Verletzungsbeschwerden. In der Endphase der längsten Bundesligasaison aller Zeiten (38 Spieltage) hatte der Spielmacher nur noch mit Spritzen gespielt. Umso wichtiger war es, dass Stefan Effenberg fit wurde. Der 23-jährige Hitzkopf genoss zwar kaum Sympathien bei den Fans, die ihn im phantastischen Heimspiel gegen Wales (4:1) bei der Einwechslung ausgepfiffen hatten. Doch gemeinsam mit Sammer sollte er das Erbe von Matthäus antreten. Von Thomas Häßler sprach keiner. Dabei war der kleine Freistoßkünstler trotzdem, als einer von vier "Römern" im Kader, in dem insgesamt acht Legionäre (alles Italiener) standen – ein Novum in der Turnier-Historie des DFB.

Schweden 1992: Ein Turnier der kurzen Wege

Neu war auch die Rolle, die der FC Bayern in der Nationalelf spielte. Der Rekordmeister wäre 1992 beinahe abgestiegen, entsprechend fand sich in Effenberg nur ein Münchner im Kader wieder. Auch das hatte es nach dem Krieg noch nie gegeben. Aber auch "Effe" hatte den Reisepass schon in der Tasche, sein Wechsel nach Florenz stand fest – während bei gleich drei Spielern (Brehme, Möller, Helmer) die Zukunft ungeklärt war. Sehr zum Verdruss von Vogts, der kein Vertragspoker im Trainingslager dulden wollte – nur bei Brehme, "der uns zum Weltmeister geschossen hat", wollte er deshalb ein Auge zudrücken. Nach unbefriedigenden Abschlusstests (1:0 gegen die Türkei, 1:1 vs. Nordirland) flog der Weltmeister bei Dauerregen mit gemischten Gefühlen von Frankfurt zur EM nach Schweden. Als die 51köpfige Delegation am Pfingstmontag 1992 in Norrköpping landete, lachte die Sonne. Ein gutes Omen?

Das Turnier: Schweden sollte eine EM der kurzen Wege werden. In nur vier Stadien, allesamt im Süden des Landes, sollten die Spiele ausgetragen werden. Der Zuschauerrekord von 1988 (863.000) war schon vor Anpfiff verpasst, die Kapazitäten der Arenen in Malmö (29.700), Göteborg (43.000), Norrköpping (22.000) und Stockholm (30.500) machten ihn unmöglich. Andererseits blieben den TV-Zuschauern Bildern von halbleeren Schüssel wie noch 1980 in Italien oder 1976 in Jugoslawien erspart. Die durchschnittliche Stadionauslastung betrug 1992 86,25 Prozent, pro Spiel kamen laut UEFA-Statistik 28.616 Zuschauer.

Doch was bekamen sie zu sehen? Über das Niveau wurde in Schweden viel geklagt. Der Toreschnitt ging auf 2,13 zurück, drei Partien endeten 0:0. Die Gruppe 1 mit Gastgeber Schweden, Frankreich, England und den Dänen startete mit drei Unentschieden, was man zumindest von Eröffnungspartien (Schweden – Frankreich 1:1) gewohnt war. Zwischen England und Nachrücker Dänemark sowie Frankreich und England fielen gar keine Tore, Stürmer-Star Jean-Pierre Papin kam nur auf acht Ballkontakte und Trainer Michel Platini entschuldigte sich nach dem zweiten Remis der Franzosen "für meine Spieler", ehe er sich selbst entlarvte: "Zuerst einmal zählt, keine Tore zu erzielen." Sein Kollege Graham Taylor stand ihm bei: "Die Zuschauer mögen enttäuscht sein, für mich aber hat sich gezeigt dass England auf hohem taktischen Niveau spielen kann."

Die Angst vor dem frühen Aus dominierte die Vorrundenspiele besonders in dieser Gruppe. Erst Gastgeber Schweden brach den Unentschieden-Bann und feierte dank eines Treffers von Italien-Legionär Tomas Brolin in Stockholm einen 1:0-Erfolg über die Dänen, die nach zwei Partien noch torlos waren. Man bewunderte sie für ihren Kampfgeist, aber den kommenden Europameister sah noch niemand in der Mannschaft von Richard Möller-Nielsen. Vor dem letzten Spieltag in dieser Gruppe hatten alle Teams noch eine Halbfinal-Chance. Schweden reichte ein Punkt gegen England, das besser gewinnen sollte. Dänemark musste Frankreich schlagen. Der Fakt, dass bloßes Taktieren nicht allen weiterhalf, öffnete plötzlich die Tore. Nach zuvor nur drei Treffern in vier Partien fielen nun sechs in zweien.

Schweden siegt überraschend gegen England

Und zweimal staunte die Fußballwelt: Schweden schickte England sieglos nach hause. David Platt schoss die Engländer zwar schon nach vier Minuten in Front, doch nach der Pause trieben 29.000 im Rasunda-Stadion "Sverige" zum 2:1-Sieg. Wieder schoss Brolin das Siegtor, die EM hatte ihren ersten Star. England aber fuhr wie schon 1988 nach der Vorrunde heim und der Daily Mirror ätzte in Richtung des Trainers: "Wen willst du als nächsten blamieren, Taylor?"

Blamabel auch das Verhalten der englischen Hooligans, die ihren Frust in gewohnter Manier am Mobiliar und Ordnungskräften ausließen. Polizeibilanz: Zehn Verletzte, 64 Haftungen. Die Abreise der englischen Fans wurde von daher kaum bedauert.

Dass auch die Franzosen die Koffer packen mussten, wurde mit ungläubigem Staunen registriert. Bedeutete es doch, dass die "Urlauber" aus Dänemark das Halbfinale erreichten. Die Dänen stellten eine sportwissenschaftlichen Theorien in Frage und brüskierten die Vertreter der herrschenden Trainingslehre. Am Tag vor dem Spiel gingen sie zum Minigolf und zuweilen sah man sie in Kompaniestärke bei McDonalds. Dennoch hatten sie genug Erfolgs- und Torhunger, um Frankreich 2:1 zu besiegen.

Henrik Larsen gelang nach sieben Minuten das frühe 1:0, das "Les Bleues" erst in der 61. Minute durch Papin ausglich. Doch dann zündete wieder "Danish Dynmite", Joker Lars Elstrup schoss das vom Gros der Zuschauer umjubelte 2:1. Dass er in Dänemarks 2. Liga spielte, passte zum anarchischen Spiel der "Wikinger". Platini trat nach der Schmach von Malmö zurück, reichte die Schuld aber weiter: "Wir Franzosen träumen immer von der ganz großen Show und vielen Toren. Doch das war mit der Mannschaft, die mir hier zur Verfügung stand, nicht realistisch." L’Equipe klagte: "Ab nach Hause! Die Blauen sind tief gefallen". Während die etablierten Mächte des Kontinents die Koffer packen mussten, blieben die beiden Skandinavier im Turner. Ein schlicht unglaublicher Ausgang der Gruppe 1.

"Icke" Hässler rettet das Unentschieden

Die deutsche Mannschaft stritt sich in der Parallelgruppe mit dem alten Rivalen Niederlande, der zum dritten Mal in Folge bei einem Turnier Gegner war, um die Favoritenrolle. Auf die GUS und Schottland setzten die Wenigsten. Hier sollten die Experten recht bekommen, aber nur wenn man schlicht auf das Endergebnis sieht. Die Schotten waren in der Tat schon nach dem zweiten Spiel ausgeschieden – zum achten Mal beim achten Turnier war die Vorrunde auch Endstation für die Bravehearts. Dabei wehrten sie sich gegen den Titelverteidiger Niederlande tapfer, erst ein spätes Tor von Dennis Bergkamp (73.) brachte die Entscheidung. Rinus Michels schnaufte durch: "Unsere harte Vorbereitung hat sich ausgezahlt."

Auch die Deutschen waren am Ende froh darüber, dass sie Luft für 90 Minuten hatten. Denn nach 89 lagen sie gegen die GUS in Norrköpping nach einem Dobrowolski-Elfmeter keineswegs unverdient zurück. Spielerisch lief wenig, hinzu kam der Schock in Rudi Völler nach Matthäus den zweiten Kapitän verloren zu haben – er brach sich nach 25 Minuten den linken Unterarm und reiste noch in der Nacht ab. Ein anderer Weltmeister wurde in diesen Momenten umso wertvoller. Dem deutschen Dauerdruck entsprang in besagter letzter Minute ein Freistoß, den der Spezialist für Kunstschüsse, Thomas Häßler, zum 1:1 verwandelte. Der Weltmeister kam mit einem blauen Auge davon und konnte sich nur mit dem Neid der Auslandspresse trösten. "Sie verlieren nie", seufzte Frankreichs L’Equipe und Dänemarks Politiken attestierte: "Typisch deutsch".

Doch es erforderte eine Steigerung und gegen die Schotten stellte sie sich ein. In Norrköpping siegte die DFB-Elf 2:0, Karl-Heinz Riedle (30.) und Stefan Effenberg (47.) mit einer abgefälschten Flanke schossen die Tore für die auf drei Positionen veränderte Elf. Für Stefan Reuter, Rudi Völler und Thomas Doll brachte Vogts Andreas Möller, Matthias Sammer und Jürgen Klinsmann. In Erinnerung bleibt vom besten deutschen Vorrundenspiel vor allem der Dauereinsatz der medizinischen Abteilung, die für Reuter und Buchwald Turbane wickeln musste. Riedle schied mit Nasenbeinbruch aus, sein Nachfolger Reuter sechs Minuten später mit blutender Platzwunde ebenfalls.

Es war ein wahrlich hart erkämpfter Sieg, die tapferen Schotten wehrten sich mit allen Mitteln gegen das vorzeitige EM-Aus. Eine Schlüsselrolle sollten sie dennoch spielen bei dieser Endrunde. Denn nachdem sich GUS und Niederländer 0:0 trennten, hatten noch drei Teams Chancen. Vor dem Gigantenduell zwischen Deutschen und Niederländern war die Ausgangslage so: Deutschland reichte als Tabellenführer ein Punkt, aber bei einer Niederlage durfte die Auswahl des zerfallenden Russenreichs nicht gewinnen, am besten sollte sie verlieren. Aber würden die chancenlosen Schotten sich noch mal reinhängen? Trainer Andy Roxburgh versprach zwar, man wolle "erhobenen Hauptes" abreißen, doch wer wollte sich darauf verlassen. Nun, an diesem 18. Juni 1992 gewannen die Schotten dem Fairplay-Gedanken eine Schlacht.

"Ich musste leider so laut wie noch nie bei der Nationalmannschaft werden"

Während Deutschland nach einer desolaten Defensivleistung, der Kicker sprach von einer "Abwehr wie ein Hühnerhaufen", den Niederländern 1:3 (Tor: Klinsmann) unterlag, überrannten die Bravehearts zeitgleich die Russen mit 3:0. Schon nach 17 Minuten hieß es 2:0, 2000 Fans feierten ihre Helden, die nicht mit leeren Händen auf ihre Insel zurückflogen: sie erhielten von der UEFA den Fairplay-Preis.

Im Halbfinale aber standen Europameister Niederlande und Weltmeister Deutschland – ganz wie es die Experten voraussagten. Aber diesen Verlauf sah dann doch niemand vorher. Vogts brach mit Teilen der Mannschaft, opferte die Frankfurter Binz (schon zur Halbzeit) und Möller und erzählte der Presse: "Ich musste leider so laut wie noch nie bei der Nationalmannschaft werden und habe harte Worte gebraucht, die ich Nationalspielern gegenüber nicht gerne benutze." Die Niederländer aber spielten wie der neue Europameister und waren nach den 90 Minuten von Göteborg der große Favorit. Zumal im Halbfinale "nur" die Dänen warteten. Doch zunächst spielten die Deutschen gegen den im Rasunda-Stadion noch ungeschlagenen Gastgeber.

Die Mittsommersonne erhellte auch bei dieser Partie die Szenerie, Flutlicht wurde trotz der Anstoßzeit von 20.15 Uhr (wie bei den meisten Partien) nicht gebraucht. Das gab dieser EM ihren eigenen Charakter, über Schweden lachte die Sonne.

Über der Mannschaft an diesem Tag nicht mehr. Vogts baute eine neue Elf, um das Finale zu erreichen, was das Minimalziel des Weltmeisters war. Für Binz rückte Thomas Helmer, zuvor im Mittelfeld, auf den Libero-Posten. Matthias Sammer. Matthias Sammer, gegen die Niederländer noch Joker, bekam den Dirigentenstab in die Hand gedrückt und die genesenen Haudegen Guido Buchwald und Stefan Reuter kehrten in die Abwehr zurück. Für Eintagsfliege Michael Frontzeck und Andy Möller sowie den bedauernswerten Manfred Binz war die EM beendet.

[bild2]

DFB-Team eliminiert Gastgeber im Halbfinale

Der Erfolg gab Vogts Recht. In Stockholm überzeugte der Weltmeister endlich auch spielerisch, auch wenn wieder ein Standard zum 1:0 führte: Thomas Häßler, der in Schweden in der Form seines Lebens war, zirkelte einen Freistoß an Ravelli vorbei ins Netz (11.). Zur Pause hätte der Weltmeister weit höher führen können, doch Sammer, Klinsmann und Brehme, der die Latte traf, hatten Pech im Abschluss. Die erste Chance der konsternierten Schweden wurde in der 51. Minute registriert, als auch Bodo Illgner einmal gebraucht wurde. Ehe die Schweden daraus allzu viel Mut ziehen konnten, schlug Karl-Heinz Riedle, damals bei Lazio Rom, zu (60.).

Wie so oft bei EM-Endrunden gab es dann einen unberechtigten Elfmeter gegen die Deutschen, Helmers Attacke gegen Klas Ingeson galt dem Ball. Brolin vollstreckte, es war wieder spannend (65.). Erst in vorletzter Minute erlöste der starke Riedle mit seinem zweiten Treffer die Heimat. Ein Leichtsinnsfehler Illgners brachte den Schweden durch Kennet Andersson noch das 2:3, aber das Finale im eigenen Land verpassten sie dennoch. Stockholm sah die Auferstehung des Weltmeisters und der Kleinste war der Größte: Thomas Häßler erhielt allenthalben Lob, Italiens Gazetta dello Sport verglich ihn mit Maradona und Vogts fand: "Für mich ist er neben van Basten der beste Spieler des Turniers."

Da ahnte er noch nicht, welche Rolle Marco van Basten, Star der EM 1988, am nächsten Tag spielen würde. Vor der Partie sagte der Stürmer des AC Milan noch: "Ein K.o. gegen die Dänen wäre für uns die schlimmste Blamage. Dagegen wäre der Rausschmiss gegen die Vogts-Truppe ein Klacks gewesen." Van Basten selbst sorgte dann nach dem einzigen Spiel, das in die Verlängerung musste (2:2 nach 90 und 120 Minuten) für die Blamage. Beim Elfmeterschießen trafen neun von zehn Schützen, nur er scheiterte an Torwart-Hüne Peter Schmeichel, der "vom Fernsehen wusste, wohin Marco schießt".

Die Sensation war perfekt, Dänemarks "Big Mac-Truppe", wie sie in einer Mischung aus Respekt und Spott genannt wurde, stand im Finale. Nach nur einem Sieg in vier Spielen, sofern das Elfmeterschießen nicht zählt. Dennoch waren sich die Beobachter einig: die Besseren hatten sich durchgesetzt. Tribünengast Berti Vogts: "Sie haben mit Herz gekämpft und sich den Finaleinzug verdient." Zumal sie zur fehlenden Vorbereitung weitere Nachteile kompensierten. Henrik Andersen vom 1. FC Köln schied mit Kniescheibenbruch aus und zwei Kameraden (Sivebaek und Olsen) humpelten dem Abpfiff förmlich entgegen.

Dänemark bringt die Fußballwelt durcheinander

Der Torwart der enttäuschten Niederländer, Hans van Breukelen, räumte ihnen keine Chancen fürs Finale ein: "Die Dänen sind total kaputt. Die Deutschen sind bereits Weltmeister, jetzt werden sie auch noch diesen Titel holen. Dies wird für mich schlaflose Nächte bedeuten." So hört sich Frust an. Man konnte ihn auch sehen, etwa als nach der Partie Fans der Niederländer ihre bereits gekauften Final-Karten verbrannten. Dänemark brachte die ganze Fußballwelt durcheinander. Und die Heimat auch. Extrabladet titelte euphorisch: "Komm nur, Deutschland, wir nehmen das Gold. Die Favoritenkiller haben die Weltstars aus Holland bezwungen."

Fehlten also nur noch die Deutschen. Der Fußball hatte schon damals kaum noch Geheimnisse, auch wenn es die letzte EM vor dem Internet war. Aber dass in John Jensen (zuvor HSV), Brian Laudrup (Bayern), Fleming Povlsen (Dortmund) und Bent Christensen (Schalke) nebst dem verletzten Kölner Andersen fünf bundesligaerfahrene Spieler im Kader standen, konnte nichts schaden. Überraschen konnte die deutsche Elf diese Dänen nicht, zumal Vogts sie nicht mehr änderte.

Vor 37.800 Zuschauer trafen die Nachbarländer im Ullevi-Stadion von Göteborg, das wegen der Halbfinal-Pleite 1958 gegen Schweden kein gutes Omen zu sein schien, am 26. Juni 1992 aufeinander. Die Dänen hatten ein gefühltes Heimspiel, Rot-Weiß dominierte auf den Rängen. Und schon bald auch auf dem Platz. Vor der Pause ließen die Dänen nur drei Chancen zu, Reuter und Effenberg scheiterten an Schmeichel, Klinsmann verzog knapp.

Der erste dänische Schuss freilich war drin: Kim Vilfort, zwischenzeitlich wegen seiner an Leukämie erkrankten Tochter abgereist, erkämpfte nicht ganz fern den Ball von Brehme und bediente John Jensen. "Schieß, schieß, wenn der Keeper hält, ist es egal", will er sich vor dem Hammer aus 17 Metern gedacht haben. Effenberg warf sich ihm noch auf groteske Weise wie ein Skispringer entgegen. Doch der Ball schlug unhaltbar neben Illgner ein. "Nicht auszudenken, wenn die Dänen Europameister werden", sprach ARD-Kommentator Heribert Fassbender ins Mikrofon. Er meinte das gar nicht so sehr aus deutscher Sicht, sondern ganz allgemein. Eben weil es doch undenkbar war, dass eine Mannschaft ohne Vorbereitung Europameister wird. Aber sie wurden es.

Dänen feiern ihren "Triumph der Intelligenz"

"Vor diesem Tor waren wir alle müde und nervös, anschließend waren wir wach", erzählte Jensen. Die Deutschen waren vor allem wütend, noch auf dem Gang in die Kabine beschwerte sich Brehme bei Bruno Galler wegen des nichtgeahndeten Fouls an ihm.

Berti Vogts reagierte und wechselte Thomas Doll für Sammer ein. Doch es besserte sich nichts, erst in der 72. Minute bot sich die Ausgleichschance, aber Klinsmann scheiterte an Schmeichel. In der 78. Minute wurde das Finale entschieden. Vilfort überwand Illgner aus rund 20 Metern, keineswegs unhaltbar und leider erneut irregulär. Vimfort nahm zuvor die Hand zur Hilfe. Vogts verhalf noch Andreas Thom zu seinem EM-Debüt, aber der Leverkusener konnte in neun Minuten auch nichts mehr retten. Die Deutschen fanden einfach kein Mittel gegen die Dänen, denen Extrabladet einen "Triumph der Intelligenz" attestierte.

Auch Vogts huldigte dem Sieger: "Wer gegen England nicht verliert, wer Frankreich, Holland und Deutschland besiegt, ist ein würdiger Europameister." In Kopenhagen feierten am nächsten Tag rund eine Million Menschen die größte Sensation bei einem großen Fußballturnier, die erst von den Griechen 2004 in den Schatten gestellt werden sollte.

"Wir haben Geschichte geschrieben. Das wird es nie mehr geben, dass eine Mannschaft mit acht Tagen Vorbereitung Europameister wird", sagte Brian Laudrup. In der Tat. Und das machte den verdienten und noch immer einmaligen Triumph der Dänen vom ersten Moment an so besonders. Die Deutschen, die nunmehr EM-Rekordfinalist waren (vier Teilnahmen), leckten ihre Wunden. Berti Vogts sah es gelassener als ein Teil der Öffentlichkeit: "Wir sind Vize-Europameister, deshalb bin ich nicht enttäuscht. Wir müssen zufrieden sein mit dem was wir hier erreicht haben." 1996 durfte es dann noch ein bisschen mehr sein.

Kaum Steigerungsbedarf propagierte dagegen die UEFA, die einen Rekordgewinn 55,08 Millionen Schweizer Franken einfuhr. Die EM-Idee erklomm immer höhere Gipfel.