Geschichte der EM: Holland triumphiert dank van Basten

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Teil sechs thematisiert die EM 1988 in Deutschland: Marco van Basten setzt sich gegen Jürgen Kohler durch und erzielt das Siegtor im Halbfinale von Hamburg. Später schießt der Superstürmer Holland zum ersten und einzigen Titel.

Erste EM in Deutschland

Nachdem Deutschland 1984 noch Frankreich den Vortritt ließ, durfte es nun die folgende EM ausrichten. Am 18. Februar 1985 votierte Organisationskomitee der UEFA für den Ausrichter Deutschland – mit 5:1 Stimmen. Nun musste nur noch das Exekutivkomitee am 15. März zustimmen, für gewöhnlich eine Formalität. Doch über der Entscheidung in Lissabon schwebte ein dunkler politischer Schatten, denn Bundesregierung und DFB wollten unbedingt Berlin, damals noch eine geteilte Stadt, einbinden.

Im Olympiastadion sollten EM-Spiele stattfinden. Das war mit den drei osteuropäischen Vertretern in der UEFA-Kommission nicht zu machen, in den letzten Tagen des Kalten Kriegs vertraten sie natürlich die politischen Interessen ihrer Länder und bewegten sich keinen Millimeter. So erklärte der DFB am Tag vor der Entscheidung seine Bereitschaft, auf Berlin zu verzichten und bekam zu diesem Preis die EM 1988.

Bundeskanzler Helmut Kohl kritisierte zwar den "sportpolitischen Fehler", aber die Sache hatte auch ihr Gutes, das bis in die Gegenwart strahlt. Als Entschädigung erhielt Berlin das Pokalfinale, zunächst für die nächsten fünf Jahre – aber so wie es heute aussieht, bis in alle Ewigkeit. Das jährliche Fest des deutschen Fußballs, das längst Kultstatus hat, hat seine Wurzeln in der Vorgeschichte zur Europameisterschaft 1988. Sie brachte dem DFB noch mehr Vorteile, denn natürlich musste die Elf des Gastgebers nicht in die Qualifikation.

Spielerische Steigerung nötig

So konnte Teamchef Franz Beckenbauer in aller Ruhe ein Team formen, dass trotz der Vize-Weltmeisterschaft in Mexiko dringend einer spielerischen Steigerung bedurfte. Die Zeit der Eders und Jakobs’ war vorbei, vor eigenem Publikum sollte auch wieder etwas gezaubert werden. Zumal man zwangsläufig zu den Favoriten gehörte.

Titelverteidiger Frankreich fand den Weg nach Deutschland nicht. Selbst gegen die vom Deutschen Siegfried Held trainierten Isländer kamen sie nicht über ein 0:0 hinaus, gegen die DDR gaben sie sogar drei Punkte ab (0:0, 0:1). Nie spielte ein Titelverteidiger eine schlechtere Qualifikation als die Auswahl der "Grande Nation", die in acht Spielen nur vier Tore schoss. So ging der Gruppensieg an die UdSSR, die zuvor zwei EM-Endrunden verpasst hatte. Die DDR wurde mit 11:5 Punkten beachtlicher Zweiter. Vize-Europameister Spanien hingegen setzte sich durch, musste aber vor dem Fernseher noch 90 Minuten zittern. Er verdankte seine EM-Teilnahme ganz wesentlich Österreichs Torwart Klaus Lindenberg, der sich beim 0:0 gegen Verfolger Rumänien selbst übertraf.

Italien, das als amtierender Weltmeister die EM 1984 verpasst hatte, wetzte die Scharte wieder aus und setzte sich mit seiner jungen Mannschaft gegen Schweden und Portugal durch. Gianluca Vialli schoss im Entscheidungsspiel gegen Schweden (2:1) beide Tore.

England dominiert alles

Eine klare Angelegenheit war das Rennen in Gruppe 4, in der England alles dominierte. Mit 19:1 Toren und 11:1 Punkten spazierten die Briten nach Deutschland, den einzigen Punkt ließen sie in der Türkei, wofür sie im Rückspiel (8:0) fürchterliche Rache nahmen. "England ist wieder da, die schlechten Tage sind vergessen", titelte Daily Telegraph. 1984 hatten die Briten noch zugesehen – ebenso wie die Niederlande. Aber auch die von Rinus Michels trainierte "Elftal" durfte bei der Gala der großen Fußball-Nationen nicht fehlen. Das Los meinte es gut mit den deutschen Nachbarn, Griechenland, Ungarn und Polen waren keine übermächtigen Gegner. Zypern schon gar nicht, doch mit dem Fußball-Zwerg gab es die meisten Probleme. Genauer gesagt mit den Fans, die sich das Spiel ansahen. Weil beim 8:0-Schützenfest in Rotterdam Rauchbomben aufs Feld flogen und eine den Gäste-Torwart verletzte, wurde das Resultat annulliert und zugunsten Zyperns gewertet (0:3). Die Niederländer gingen erfolgreich in Berufung und bekamen ein Wiederholungsspiel, das sie 4:0 gewannen. Aus Protest dagegen trat Griechenland im letzten Spiel gegen die Niederländer mit der Reserve an, was ein doppeltes Eigentor war. Die wollten selbst die Landsleute nicht sehen, nur 4000 erlebten in Rhodos eine 0:3-Pleite von "Hellas".

"Nie wieder sage ich ein schlechtes Wort über die Schotten"

Auch zwei Außenseiter, die für beste Stimmung auf den Rängen sorgen sollten, schafften die Qualifikation. Die Dänen bestätigten ihre Erfolge von 1984 und 1986 und erreichten zum dritten Mal in Serie ein großes Turnier. Aber etwas war anders: "Danish dynamite" war nass geworden, der Hurra-Fußball gehörte der Vergangenheit an. Die leicht überalterte Elf von Sepp Piontek erkannte die Vorzüge des abgeklärten, effizienten Spiels und schaffte mit einem Torverhältnis von 4:2 in sechs Spielen den Gruppensieg vor den Tschechen, die eine 0:3-Pleite bei Schlusslicht Finnland um die Deutschland-Reise brachte. Bliebe noch der Überraschungssieger der Gruppe 7, wo die Experten in der Favoritenfrage vorher zwischen Belgien, Bulgarien oder Schottland hin und her schwankten. Doch als im November 1987 abgerechnet wurde, hieß der EM-Teilnehmer erstmals überhaupt Irland. Die "Boys in Green" säumten nicht, sich bei den Schotten zu bedanken, die das für sie bedeutungslose Spiel in Bulgarien 1:0 gewannen. Irlands Trainer Jack Charlton, 1966 mit England Weltmeister, schickte zwei Kisten Champagner in das Land des Whiskeys und schwor: "Nie wieder sage ich ein schlechtes Wort über die Schotten." Für einen Engländer eine echte Herausforderung.

Die Teilnehmer standen also fest, nun galt es sie zusammen zu bringen. Am 12. Januar 1988 zog der Sohn von Ex-Nationalspieler Ulli Stielike, Christian, in Düsseldorf die in roten Plastikkugeln verpackten Lose. Deutschland als Kopf der Gruppe 1 freute sich bedingt über Angstgegner Italien, etwas mehr über Dänemark und die Spanier, an denen es Revanche zu üben galt für das Last-Minute-Aus von 1984.

Europa freute sich auf diese EM, das wurde alsbald klar. Bis zum Turnierstart am 10. Juni waren die meisten Spiele bereits ausverkauft, letztlich lag die Auslastung in den Stadien bei 95,5 Prozent. Absolut (849.844) als auch relativ (56.656 pro Spiel) sprengte die EM in Deutschland alle Zuschauerrekorde.

43,3 Millionen Mark für Stadiensanierung

Die Organisatoren hatten sich alle Mühe gegeben und 43,3 Millionen DM in die Sanierung der acht Stadien investiert. Auch hier gab es ein Gerangel um die Teilnahme, Städte wie Bochum und Dortmund blieben auf der Strecke, Hamburg schaffte es erst im zweiten Anlauf und bekam nach entsprechenden Ausbesserungen ein Halbfinale, von dem noch die Rede sein wird.

Gespielt wurde in Düsseldorf, Hannover, Stuttgart, Köln, Gelsenkirchen, Frankfurt, Hamburg und München. Die Spannung war groß, denn nur selten gab es mehr Titelkandidaten und im Umkehrschuss weniger klare Favoriten als vor dieser EM. Der Kicker schrieb vier Tage vor dem Start: "Eigentlich nur eine Mannschaft wird bei der Nennung von Favoriten nie aufgeführt: Irland." Und was sprach für Deutschland außer der Gastgeberrolle und dem Mythos einer Turniermannschaft.

Nicht allzu viel. Der notwendige Umbruch nach der WM in Mexiko, als man zwar Zweiter wurde, aber notgedrungen Fußball von gestern spielte, war bei nur sechs Verbliebenen aus dem Mexiko-Kader vollzogen, gelungen war er nicht. Die Hoffnungen ruhten besonders auf Lothar Matthäus, der den kurz vor der EM verletzten Kapitän Klaus Allofs ablöste, auf den spielenden Libero Matthias Herget und Italien-Legionär Rudi Völler. Der klassische Spielmacher war nicht im Kader, den Beckenbauer nach alter Tradition Ende Mai 1988 in Malente zusammenzog. Weder der 22-jährige Olaf Thon von Absteiger Schalke 04 noch Kaiserslauterns Edel-Techniker Wolfram Wuttke oder Bayerns Talent Hansi Dorfner hatten bis dahin bewiesen oder beweisen können, diese Mannschaft mit ihrer Kreativität zu bereichern.

Tatsächlich war sie eine Woche vor Turnerstart in einem Loch und wurde auch nicht gerade von Euphorie im Umfeld getragen. Zum letzten Testspiel gegen die Jugoslawen (1:1), das die Reihe der Enttäuschungen des Frühjahrs 1988 fortsetzte, kamen nur 13.000 Zuschauer nach Bremen. Heute undenkbar. Der Kicker schrieb: "In vier Tagen geht sie los, die große Party. Euro 88, die Fußball-EM bei uns in Deutschland. Doch anstatt sich und die ganze Nation mit einem flotten Cocktail, einem Spiel, so rauschend wie Champagner, auf das große Fußballfest im eigenen Land einzustimmen, verabreichte die deutsche Nationalelf beim letzten EM-Test eher Magenbitter." Etwas analytischer stellte das Fachblatt sodann fest: "Kaum 100 Stunden vor dem Start in Düsseldorf gegen Italien weiß der geplagte Teamchef philosophisch nur, dass er immer noch nichts weiß. Die deutsche Elf steht zwar – aber auf wackeligen Beinen." Vorbei die Zeiten von Blockbildung, die so oft Erfolge garantierten: In Bremen standen Spieler aus neun Klubs in der Startelf. Vom Meister Werder Bremen hatten es nur zwei Spieler in den Kader geschafft, doch mit Uli Borowka und Gunar Sauer plante der Teamchef nicht wirklich. Auch die Bayern-Fraktion war ungewohnt klein: Matthäus und Brehme, beide künftige Mailänder, waren gesetzt, Hansi Dorfner und Hansi Pflügler Bankdrücker. Große Sorgen bereiteten die Italien-Legionäre. Rudi Völlers erstes Jahr in Rom verlief bescheiden und sein letztes Länderspiel-Tor lag neun Monate zurück. 472 Minuten ohne Tor brachten die Kritiker gegen ihn auf, aber Beckenbauer hielt ihm die Treue: "Wenn der Rudi spielen will, spielt er."

Beckenbauer hat "die Nase voll"

Weniger einfühlsam ging er mit Verteidiger Thomas Berthold (Hellas Verona) um, von dem er nach dem Jugoslawien-Spiel "die Nase voll" hatte. "Das Gegentor geht ganz klar auf seine Kappe. Es war wieder einmal die übliche Nachlässigkeit, das können wir nicht durchgehen lassen", grollte der "Kaiser", der in Bremen übrigens mit der Mode ging und die Nationalspieler erstmals nach einem Spiel auslaufen ließ.

Das Klima in Malente, wo die 22 Spieler traditionell ihr Quartier bezogen, war also getrübt – auch weil gleich sechs auch in der Olympiaauswahl tätige Spieler später kamen. Sie hatten das Ticket nach Seoul gelöst und in der Öffentlichkeit viel Kredit. Das provozierte vereinzelte Kampfansagen der Etablierten. So verlautete der Stuttgarter Guido Buchwald, er sei "besser als Borowka" und "nicht hier um Urlaub zu machen, sonst könnte ich auch mit meiner Frau nach Mallorca fliegen." Er bekam dafür einen Rüffel von den Kollegen, aber nicht vom in jenen Tagen so unberechenbaren Teamchef, der das "gesunde Selbstbewusstsein" Buchwalds gar goutierte.

Als die EM am 10. Juni mit dem Spiel gegen Italien eröffnet wurde, stand er prompt in der Startelf. Neben den anderen Sorgenkindern Thomas Berthold und Rudi Völler, der in Jürgen Klinsmann einen loyalen Sturmpartner an seiner Seite wusste. Die spannende Spielmacherfrage (Littbarski, Wuttke oder Thon?) ging zugunsten des Schalkers aus, aber auch Littbarski durfte auflaufen. Die Abwehr führte der Uerdinger Matthias Herget, obwohl sich Gunnar Sauer noch in der Nacht vor dem Spiel in der Elf sah, weil Beckenbauer ihm zurief: "Stell dich darauf ein, dass Du spielst." Dann kam es doch wieder anders. Keine Überraschung: Jürgen Kohler gab den Vorstopper.

Die 55-minütige Eröffnungsfeier wurde ein Kinderspiel. 1500 Kinder prägten das Bild der Feierlichkeiten und sangen ein rührendes Lied: "Wir freu’n uns auf ein Fußballfest, das nicht nur schön beginnt, bei dem nicht nur das beste Team, sondern auch der Sport gewinnt. Auf grünem Rasen grünes Licht für Tore und Ideen, die Rote Karte für Gewalt, die woll’n wir hier nicht sehen." So klangen die vordringlichsten Wünsche der Organisatoren aus Kindermund. Ob es daran lag, dass sie weitgehend in Erfüllung gingen? Die Ängste vor aggressiven Fans einerseits und defensiven Spielern andererseits erwiesen sich als überzogen, wenngleich nicht ganz unbegründet. 1200 Verhaftungen gab es während der zwei Turnierwochen, vorwiegend waren es deutsche und englische Hooligans, die die Gewalt suchten. Am Eröffnungstag gab es nur vier Festnahmen – und guten Sport.

"Wer hier verliert, kann sich gleich per Handschlag verabschieden"

Beckenbauer hatte noch geunkt: "Wer hier verliert, kann sich gleich per Handschlag verabschieden." Zur Pause des Klassikers stand es noch 0:0, dann unterlief dem an diesem Tage indisponierten und gnadenlos ausgepfiffenen Herget ein Leichtsinnsfehler, den Roberto Mancini zur Gästeführung nutzte. Beckenbauer grollte: "So ein Tor darf es einfach nicht geben." Das dachten sich die Italiener drei Minute später auch, als der englische Schiedsrichter Keith Hackett Walter Zenga beim Abschlag einen Schrittfehler attestierte – drei erlaubte die längst überholte Regel, Zenga machte vier. So gab es mitten im Strafraum indirekten Freistoß. Littbarski tickte an, Brehme schoss flach und fand ein Loch in der Mauer (56.). Bei diesem 1:1 blieb es, 68.000 im Rheinstadion und 300 Millionen vor den Bildschirmen in 73 Ländern sahen ausnahmsweise ein gutes Eröffnungsspiel – mit etwas Schatten. Bezeichnend Beckenbauers Fazit: "Wir haben 25 Minuten lang das Spiel bestimmt, ein richtiges Powerplay aufgezogen. Dann haben wir den Faden verloren, haben ihn wieder gefunden und wieder verloren. So ging es das ganze Spiel."

In Hannover ging es im zweiten Gruppenspiel noch turbulenter zu. Wie in den beiden Turnieren zuvor unterlag Dänemark trotz rund 40.000 Landsleuten auf den Rängen Spanien – diesmal mit 2:3. Wie in Mexiko 1986 fraß der Geier, "El Butre", wie sie Emanuel Butragueno nannten, die Dänen. Sein Tor zum 2:1 fiel aus klarer Abseitsposition und demoralisierte das Team von Sepp Piontek, der auf der Pressekonferenz sagte: "Bisher habe ich nie an einen Angstgegner geglaubt. Aber jetzt sage ich: Lasst mich in Zukunft mit den Spaniern zufrieden."

Lieber dachte er an seine Landsleute, denn gegen die Deutschen hatten die Dänen in Mexiko noch 2:0 gewonnen. Diesmal kam es umgekehrt. Jürgen Klinsmann (10.) und Lokalmatador Olaf Thon (87.) schossen in Gelsenkirchen die Tore, die schon das EM-Aus für die Dänen bedeuteten. Als das Stadion schon leer war, gab Thon immer noch Interviews. "Für mich war dieses Tor das Größte, denn einen schöneren Abschied vom Parkstadion kann ich mir nicht wünschen", sagte der künftige Bayern-Spieler.

Es gab noch mehr Gewinner in der neuformierten Elf, aus der Berthold nun doch geflogen war. Der Leverkusener Wolfgang Rolff rückte nach und nutzte seine Chance, Matthias Herget ließ diesmal erst gar keine Pfiffe aufkommen und als Klinsmann sein Tor schoss, klatschte sogar "Kaiser Franz" Beifall. Aber es gab auch einen Verlierer: Für Guido Buchwald war die EM nach einem Muskelfaserriss zu Ende, Konkurrent Uli Borowka kam nach 33 Minuten in die Elf. Und Rudi Völler? Sammelte weitere 74 torlose und enttäuschende Minuten, sein Vertreter Frank Mill traf gleich den Pfosten. Diese Debatte verstummte auch nach diesem guten Spiel nicht. Wenn es irgendwo keine Debatte gab im deutschen Team, dann im Tor. Eike Immel machte keine Fehler, was gegen die Dänen aber schlicht ein Ding der Unmöglichkeit war. Mangels Beschäftigung gab ihm der Kölner Express eine 0 als Note für nicht teilgenommen. Es sagt alles über die Dänen, die es nicht an Selbstkritik fehlen ließen: "Die guten Jahre sind vorbei und wir haben vor allen Dingen nicht mehr die Kraft wie etwa die deutsche Mannschaft", sagte Sören Lerby. Franz Beckenbauer sagte gar nichts und flog eiligst per Hubschrauber zum Spiel der Spanier gegen Italien nach Frankfurt.

30.000 Azzuri jubeln

30.000 Azzuri trieben ihre junge Mannschaft zum Sieg, den Vialli in der 74. Minute herausschoss. Er war verdient und ließ auch den Kaiser schwelgen: "Ich bete den italienischen Fußball an." Für Italien-Legionär Hans-Peter Briegel avancierte die Elf von Azeglio Vicini "nach dieser Leistung zum Turnierfavorit." Vicini bremste nur sanft: "Wir sind auf dem richtigen Weg." Die bereits ausgeschiedenen Dänen würden ihn kaum verstellen – und so war es. In Köln wehrte sie sich zwar nach Kräften, aber dann wechselte Vicini den Sieg ein. 27 Sekunden brauchte Weltmeister Alessandro Altobelli für sein 1:0, Luigi De Agostini war etwas langsamer (143 Sekunden). Das 2:0 brachte Italien ins Halbfinale, Platz zwei war für Vicini kein Problem.

"Jetzt müssen wir nach Stuttgart statt nach Hamburg. Das ist nicht schlecht, Stuttgart liegt näher an Italien." Trainer-Logik. Kollege Sepp Piontek ließ sich derweil über den Kalender aus: "Normalerweise ist Weihnachten im Dezember, bei uns war es schon im Juni. Wir haben in jedem Spiel unsere Geschenke gemacht und verabschieden uns jetzt." Um die Mannschaft war es weniger schade als um die durchweg fröhlichen Fan-Horden, die mit ihren Wikinger-Helmen das Bild dieser EM mitprägten.

In München zog an diesem 17. Juni passend zum Nationalfeiertag auch die deutsche Elf ins Halbfinale ein. Zugespitzt kann man sagen: Rudi Völler schlug Spanien 2:0, denn endlich platzte der Knoten beim so lange torlosen Mittelstürmer. Nach 666 Minuten traf er wieder, auf Vorlage von Freund Klinsmann (30.). Das 2:0 legte ihm der überragende Kapitän Matthäus per Hacke auf (51.). Das Schöne am deutschen Sieg waren die Tore – denn sie waren glänzend herausgespielt. Und so weigerte sich Völler auch, sich Matchwinner nennen zu lassen. "Nein nein, ich sehe mich hier nicht als absoluten Matchwinner – das möchte ich betonen." Vielmehr dankte er Klinsmann, "er hat um mein Innenleben gewusst und mir immer gut zugeredet" und dem Münchner Publikum, das ihn mit "Rudi"- Sprechchören verabschiedete, "obwohl ich hier nicht nur Freunde gehabt habe."

Allenthalben herrschte Hochstimmung nach dem Sieg auf dem Platz und in der Gruppe. DFB-Präsident Hermann Neuberger: "Das war eine weitere ganz enorme Steigerung unserer Mannschaft. Jetzt ist es egal, auf wen wir im Halbfinale treffen."

Der Gegner schälte sich in Gruppe 2 erst in den letzten Minuten heraus. Sie begann gleich mit einer Sensation. Ray Houghton köpfte die irische Mannschaft in Stuttgart gegen England zum Sieg und setzte sich ein Denkmal. Und das, wo er eigentlich Engländer ist, aber irische Vorfahren hatte. Trainer Jack Charlton, gleichsam Engländer, versprach seinem Heimatland nun "auch die Russen zu schlagen. Damit tun wir den Engländern einen Gefallen und zweitens sind wir dann im Halbfinale." Natürlich hielt das die gefürchteten englischen Hooligans nicht davon ab, sich zu prügeln. Iren dagegen feierten in Stuttgart bis tief in die Nacht mit Guiness und fingen an, ihrem Trainer zu glauben. Der hatte bei der Landung gesagt: "Unser Ziel ist das Endspiel. Deshalb sind wir hier." Das verfolgten auch die Niederländer und doch verloren sie es nach den ersten 90 EM-Minuten schon aus den Augen: obwohl von 40.000 Landsleuten in Köln angefeuert, unterlagen sie den Russen 0:1. Rinat Dassajew hielt überragend, Rinus Michels sah noch einen Grund für die Niederlage: "Meine Stürmer brachten in der ersten Halbzeit nur 50 Prozent ihrer normalen Leistung. Vielleicht war der Druck doch zu groß." Unmittelbar nach dem Gegentor durch Vasilij Raz brachte er erst den noch nicht ganz fitten Marco van Basten, der an diesem Tag noch leer ausging. Noch. Für das Expertenlob konnten sich die Niederländer nichts kaufen (Beckenbauer: "Sie haben begonnen wie ein Weltmeister."), Michels stellte fest: "Wir haben jetzt einen Kater." Und so hatte das aus Sicherheitsgründen bereits bedenkliche Spiel zwischen den Niederlanden und den Engländern noch mehr Brisanz.

Der große Auftritt des Marco van Basten

Der Verlierer von Düsseldorf war zwangsläufig ausgeschieden. In weiser Voraussicht vernagelten die Wirte und Geschäftsleute in der Altstadt am 15. Juni ihre Fensterscheiben. Dieses Mittel war dem englischen Torwart Peter Shilton nicht gestattet und so kam Marco van Basten zu seinem großen Auftritt: Dreimal stand sein Name an der Anzeigetafel, der Stürmer des AC Mailand war der Mann des Tages beim 3:1-Sieg von Oranje. "Ich gebe gerne zu, dass ich in Sachen van Basten falsch lag", sagte Michels. Lange Zeit war die Partie offen, Briasn Robson, Namensvetter des Trainers Bobby Robson, glich in der 54. Minute aus und danach war sein Trainer "sicher, dass wir das Spiel noch gewinnen." Doch während Gary Lineker nur den Pfosten traf, hatten die Niederländer ihren van Basten, der binnen vier Minuten (72., 76.) die Partie entschied. Berti Vogts, Beobachter des DFB, lobte: "Das war das bisher beste Spiel der Euro. Hollands Erfolg war ein Sieg für den Fußball." Einer aber musste noch folgen, denn Iren und Russen trennten sich in Hannover 1:1 und nahmen die ersten beiden Plätze ein.

Wieder sorgten die Boys in Green für Furore, das Tor von Ronnie Whelan resultierte aus einem 30-Meter-Einwurf von Mick McCarthy. Andere flanken, die Iren werfen. Sie glänzten nicht bei dieser Euro, aber begeisterten trotzdem. Oleg Protassow rettete den Russen noch einen Punkt. Am letzten Spieltag trafen sie in Frankfurt für die ausgeschiedenen Engländer und hatten leichtes Spiel. Gleich der erste Schuss von Aleinikow (3.) war drin (3.), den Ausgleich von Tony Adams (16.) konterten Michailitschenko (28.) und Viktor Pasulko (73.). Trainer Valerij Lobanowski, der auch Dynamo Kiew coachte, drohte: "Bisher haben wir erst 60 Prozent unseres Leistungsvermögens gezeigt." Dann ließ er sich nach Mainz fahren, weil er dem ZDF-Sportstudio gerne ein Interview geben und der Welt sein Fußballverständnis erklären wollte. Etwa so: "Über Sieg und Niederlage entscheidet nicht die guten Laune des Trainers." Die Fernsehleute nahmen den ungeladene Gast freundlich auf, wie es sich für gute EM-Gastgeber gehört.

In Gelsenkirchen zitterte der kommende Europameister bis sieben Minuten vor Abpfiff um das Halbfinale. Dann fälschte Joker Wim Kieft einen verunglückten Koeman-Schuss mit dem Kopf ab – 1:0. Trauer bei den wackeren Iren, zumal Muhren bei dem Tor durchaus aktiv im Abseits stand. Torwart Paddy Bonner trug es mit Fassung: "Wir fahren erhobenen Hauptes nach Hause." In Dublin feierten 250.000 die Helden, die England geschlagen hatten, was wichtiger als alles andere zu sein schien. Im Halbfinale standen nun die Niederländer – der Gegner hieß Deutschland. Beckenbauer bedauerte: "Wir hätten es mit den Iren leichter gehabt." Ob er ahnte, was da kommen würde?

Am 21. Juni endete im Hamburger Volkspark-Stadion der Traum vom EM-Triumph im eigenen Land. In dem sich die Deutschen wohl selten so fremd gefühlt haben wie an diesem Tag. Das Volkspark-Stadion war atmosphärisch fest in holländischer Hand. Auch wenn unter den 61.000 nur 15.000 Niederländer waren, machten sie die Stimmung. "Schön wär`s gewesen, wenn wir heute in Deutschland gespielt hätten", sagte Frank Mill, der überraschend in die Elf gerutscht war. Auf den Aufstellungen stand überall Pierre Littbarski, doch dem verordnete der listige Beckenbauer "Magenschmerzen", die er nicht hatte. Es galt die Nachbarn zu überraschen. Beinahe wäre es gut gegangen, aber nur beinahe. Zur Pause stand es noch 0:0, es gab wenige Chancen. Dann legte Frank Rijkaard Klinsmann im Strafraum und Matthäus verwandelte den fälligen Elfmeter (55.). Klinsmann vergab die große Chance zum 2:0 und nun drehte die "Elftal" auf. Von Ruud Gullit angetrieben, erarbeitete sie sich Chance um Chance. Aber ehe ein Tor fiel, musste der rumänische Schiedsrichter mithelfen. Der sah ein Foul von Kohler an van Basten, "das keines war, ich schwöre es" (Kohler).

Elfmeter – Ronald Koeman überlistete Immel (74.). Die Verlängerung bahnte sich an, als Jan Wouters in den Strafraum spielte. Etwas zu ungenau auf van Basten, der den Ball nicht mehr annehmen kann. Dafür befördert er ihn eben mit langem Bein ins Tor, Kohler kommt eine Zehntelsekunde zu spät. 1:2 in der 88. Minute – es ist die Entscheidung. Es kommt auf dem Feld zu einigen unschönen Szenen, Häme überwiegt bei den Siegern. Koeman etwa wischt sich symbolisch den Hintern mit Thons Trikot ab. Es war mehr als nur ein Spiel, wie Rinus Michels zugab: "Vor allem ältere Menschen waren zum Weinen gerührt, das hatte noch etwas mit dem Krieg zu tun." Wer den nicht mehr erlebte, verspürte dennoch Genugtuung für die Niederlage im WM-Finale 1974. Hollands Seele tanzte vor Freude, fast neun Millionen Menschen sollen in dieser Nacht auf den Straßen gefeiert haben. Dabei sollte das Beste noch kommen.

"Totengräber des deutschen Fußballs"?

In Deutschland begann das übliche Jammern, Beckenbauer musste über sich lesen, er sei "der Totengräber des deutschen Fußballs". So schrieb es sein "Freund" Paul Breitner in einer Kolumne. Dieser Ansicht war sonst niemand. Der Kaiser blieb an der Macht, die Verlierer leckten kurz ihre Wunden und gratulierten fair. Präsident Neuberger: "Die bessere Mannschaft hat gewonnen."

Sie traf auf den Sieger des zweiten Halbfinales, das am kommenden Tag in Stuttgart stieg. Die Russen trotzten der Kulisse, 40.000 der 70.000 Zuschauer waren Italiener, und gewannen überraschend mit 2:0. Wieder gab es kein Mittel gegen ihr Forechecking und wieder hatten sie die Geduld, auf eigene Tore zu warten. Litowtshenko (60.) und Protassow (63.) trafen Italien ins Herz. Bayern-Manager Uli Hoeneß lobte auf der Tribüne: "Großartig, wie die Russen gespielt haben. Mit ihrem aggressiven Forechecking im Mittelfeld sind die Italiener nie zurecht gekommen." Spion Michels stellte über den Finalgegner fest: "Die Sowjets haben die Italiener ja förmlich eingemauert." Das Spiel um Platz drei gab es nicht mehr, nun durfte die Squadra Azzuri heim reisen. Nur geschlagen, nicht geknickt. Trainer Vicini: "Ich kann meiner Mannschaft keinen Vorwurf machen, sie hat alles gegeben."

Das Finale also hieß wie das erste Vorrundenspiel der Gruppe 2 – Niederlande gegen UdSSR. Die Stuttgarter Nahrichten freuten sich: "Das Duell der Denker, der großen Strategen Lobanowski und Michels, verspricht ein Fest".

Und sie hielten das Versprechen. Am 25. Juni sahen 62.770 Zuschauer im Münchner Olympiastadion ein würdiges Finale einer EM mit fast ausnehmend guten Spielen. Auf dem Schwarzmarkt wurden am Spieltag bis zu 450 Mark für Tickets gefordert und gezahlt. 35.000 Niederländer wollten dabei sein, wie an der Stätte der größten, weil so unnötigen Niederlage im WM-Finale 1974 nun der größte Triumph entstehen würde. Und diesmal machte sich der "Heimvorteil" bezahlt. Das bis dahin ausgeglichene Spiel kippte nach 33 Minuten zugunsten der "Elftal", als der überragende Ruud Gullit das 1:0 köpfte. Die Vorlage gab Marco van Basten, dessen größter Auftritt noch kommen sollte.

Eines der unglaublichsten Tore der Geschichte

Man schrieb die 54. Minute, als eines der unglaublichsten Tore der Fußball-Historie fiel: Arnold Muhren flankte von links beinahe schon ein bisschen zu weit, van Basten bekam den ball kurz vor der Auslinie und drosch volley aus unmöglichem Winkel. Es gab nur eine einzige Flugbahn, die der Ball nehmen konnte, um Dassajew zu überwinden. Der Russe stand eigentlich richtig, doch er war zu überrascht. Ehe er de Fäuste oben hatte, schlug der Ball im Winkel ein – 2:0! Der Kaiser adelte den Schützen höchstselbst: "Ein Wundertor, das schwierigste Tor, das ich je gesehen habe." Die Russen wehrten sich nach dem ersten Schock, trafen den Pfosten und erhielten noch einen Elfmeter. Doch der spätere Möchengladbacher Igor Belanow, überragend zwar im Turnier, aber nicht an diesem Tag, verschoss.

"Sonst schieße ich die Penalties immer hoch ins Eck. Diesmal hatte ich Angst, der Ball könnte übers Tor fliegen, deshalb schoss ich ganz flach." Torwart Hans van Breukelen war es recht, seine Parade krönte die Galaleistung der Niederlande. Die FAZ schrieb: "Diese jungen Meister aus Holland präsentierten mit ihrem Hochgeschwindigkeitsfußball auf höchstem spieltechnischen Niveau schon so etwas wie den Fußball der neunziger Jahre."

Die Frankfurter Abendpost dachte schon weiter: "Oh Schreck! Vermasseln uns diese starken Holländer auch die WM?" Das Los hatte die Rivalen in eine Qualifikationsgruppe für die WM in Italien geführt, aber bekanntlich ging das Unterfangen äußerst gut aus für die Deutschen. 1988 aber war Oranje die Mode-Farbe Europas. Der Züricher "Sport" bilanzierte die 15 EM-Tage treffend: "Holland und der Fußball – die großen Sieger einer Super-EM."

Zum Zuschauerrekord kamen gute und vor allem faire Spiele ohne einen einzigen Platzverweis und die UEFA freute sich über einen Gewinn von rund 35 Millionen DM. So konnte es weiter gehen mit der Europameisterschaft!

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Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Teil sechs thematisiert die EM 1988 in Deutschland: Marco van Basten setzt sich gegen Jürgen Kohler durch und erzielt das Siegtor im Halbfinale von Hamburg. Später schießt der Superstürmer Holland zum ersten und einzigen Titel.

Erste EM in Deutschland

Nachdem Deutschland 1984 noch Frankreich den Vortritt ließ, durfte es nun die folgende EM ausrichten. Am 18. Februar 1985 votierte Organisationskomitee der UEFA für den Ausrichter Deutschland – mit 5:1 Stimmen. Nun musste nur noch das Exekutivkomitee am 15. März zustimmen, für gewöhnlich eine Formalität. Doch über der Entscheidung in Lissabon schwebte ein dunkler politischer Schatten, denn Bundesregierung und DFB wollten unbedingt Berlin, damals noch eine geteilte Stadt, einbinden.

Im Olympiastadion sollten EM-Spiele stattfinden. Das war mit den drei osteuropäischen Vertretern in der UEFA-Kommission nicht zu machen, in den letzten Tagen des Kalten Kriegs vertraten sie natürlich die politischen Interessen ihrer Länder und bewegten sich keinen Millimeter. So erklärte der DFB am Tag vor der Entscheidung seine Bereitschaft, auf Berlin zu verzichten und bekam zu diesem Preis die EM 1988.

Bundeskanzler Helmut Kohl kritisierte zwar den "sportpolitischen Fehler", aber die Sache hatte auch ihr Gutes, das bis in die Gegenwart strahlt. Als Entschädigung erhielt Berlin das Pokalfinale, zunächst für die nächsten fünf Jahre – aber so wie es heute aussieht, bis in alle Ewigkeit. Das jährliche Fest des deutschen Fußballs, das längst Kultstatus hat, hat seine Wurzeln in der Vorgeschichte zur Europameisterschaft 1988. Sie brachte dem DFB noch mehr Vorteile, denn natürlich musste die Elf des Gastgebers nicht in die Qualifikation.

Spielerische Steigerung nötig

So konnte Teamchef Franz Beckenbauer in aller Ruhe ein Team formen, dass trotz der Vize-Weltmeisterschaft in Mexiko dringend einer spielerischen Steigerung bedurfte. Die Zeit der Eders und Jakobs’ war vorbei, vor eigenem Publikum sollte auch wieder etwas gezaubert werden. Zumal man zwangsläufig zu den Favoriten gehörte.

Titelverteidiger Frankreich fand den Weg nach Deutschland nicht. Selbst gegen die vom Deutschen Siegfried Held trainierten Isländer kamen sie nicht über ein 0:0 hinaus, gegen die DDR gaben sie sogar drei Punkte ab (0:0, 0:1). Nie spielte ein Titelverteidiger eine schlechtere Qualifikation als die Auswahl der "Grande Nation", die in acht Spielen nur vier Tore schoss. So ging der Gruppensieg an die UdSSR, die zuvor zwei EM-Endrunden verpasst hatte. Die DDR wurde mit 11:5 Punkten beachtlicher Zweiter. Vize-Europameister Spanien hingegen setzte sich durch, musste aber vor dem Fernseher noch 90 Minuten zittern. Er verdankte seine EM-Teilnahme ganz wesentlich Österreichs Torwart Klaus Lindenberg, der sich beim 0:0 gegen Verfolger Rumänien selbst übertraf.

Italien, das als amtierender Weltmeister die EM 1984 verpasst hatte, wetzte die Scharte wieder aus und setzte sich mit seiner jungen Mannschaft gegen Schweden und Portugal durch. Gianluca Vialli schoss im Entscheidungsspiel gegen Schweden (2:1) beide Tore.

England dominiert alles

Eine klare Angelegenheit war das Rennen in Gruppe 4, in der England alles dominierte. Mit 19:1 Toren und 11:1 Punkten spazierten die Briten nach Deutschland, den einzigen Punkt ließen sie in der Türkei, wofür sie im Rückspiel (8:0) fürchterliche Rache nahmen. "England ist wieder da, die schlechten Tage sind vergessen", titelte Daily Telegraph. 1984 hatten die Briten noch zugesehen – ebenso wie die Niederlande. Aber auch die von Rinus Michels trainierte "Elftal" durfte bei der Gala der großen Fußball-Nationen nicht fehlen. Das Los meinte es gut mit den deutschen Nachbarn, Griechenland, Ungarn und Polen waren keine übermächtigen Gegner. Zypern schon gar nicht, doch mit dem Fußball-Zwerg gab es die meisten Probleme. Genauer gesagt mit den Fans, die sich das Spiel ansahen. Weil beim 8:0-Schützenfest in Rotterdam Rauchbomben aufs Feld flogen und eine den Gäste-Torwart verletzte, wurde das Resultat annulliert und zugunsten Zyperns gewertet (0:3). Die Niederländer gingen erfolgreich in Berufung und bekamen ein Wiederholungsspiel, das sie 4:0 gewannen. Aus Protest dagegen trat Griechenland im letzten Spiel gegen die Niederländer mit der Reserve an, was ein doppeltes Eigentor war. Die wollten selbst die Landsleute nicht sehen, nur 4000 erlebten in Rhodos eine 0:3-Pleite von "Hellas".

"Nie wieder sage ich ein schlechtes Wort über die Schotten"

Auch zwei Außenseiter, die für beste Stimmung auf den Rängen sorgen sollten, schafften die Qualifikation. Die Dänen bestätigten ihre Erfolge von 1984 und 1986 und erreichten zum dritten Mal in Serie ein großes Turnier. Aber etwas war anders: "Danish dynamite" war nass geworden, der Hurra-Fußball gehörte der Vergangenheit an. Die leicht überalterte Elf von Sepp Piontek erkannte die Vorzüge des abgeklärten, effizienten Spiels und schaffte mit einem Torverhältnis von 4:2 in sechs Spielen den Gruppensieg vor den Tschechen, die eine 0:3-Pleite bei Schlusslicht Finnland um die Deutschland-Reise brachte. Bliebe noch der Überraschungssieger der Gruppe 7, wo die Experten in der Favoritenfrage vorher zwischen Belgien, Bulgarien oder Schottland hin und her schwankten. Doch als im November 1987 abgerechnet wurde, hieß der EM-Teilnehmer erstmals überhaupt Irland. Die "Boys in Green" säumten nicht, sich bei den Schotten zu bedanken, die das für sie bedeutungslose Spiel in Bulgarien 1:0 gewannen. Irlands Trainer Jack Charlton, 1966 mit England Weltmeister, schickte zwei Kisten Champagner in das Land des Whiskeys und schwor: "Nie wieder sage ich ein schlechtes Wort über die Schotten." Für einen Engländer eine echte Herausforderung.

Die Teilnehmer standen also fest, nun galt es sie zusammen zu bringen. Am 12. Januar 1988 zog der Sohn von Ex-Nationalspieler Ulli Stielike, Christian, in Düsseldorf die in roten Plastikkugeln verpackten Lose. Deutschland als Kopf der Gruppe 1 freute sich bedingt über Angstgegner Italien, etwas mehr über Dänemark und die Spanier, an denen es Revanche zu üben galt für das Last-Minute-Aus von 1984.

Europa freute sich auf diese EM, das wurde alsbald klar. Bis zum Turnierstart am 10. Juni waren die meisten Spiele bereits ausverkauft, letztlich lag die Auslastung in den Stadien bei 95,5 Prozent. Absolut (849.844) als auch relativ (56.656 pro Spiel) sprengte die EM in Deutschland alle Zuschauerrekorde.

43,3 Millionen Mark für Stadiensanierung

Die Organisatoren hatten sich alle Mühe gegeben und 43,3 Millionen DM in die Sanierung der acht Stadien investiert. Auch hier gab es ein Gerangel um die Teilnahme, Städte wie Bochum und Dortmund blieben auf der Strecke, Hamburg schaffte es erst im zweiten Anlauf und bekam nach entsprechenden Ausbesserungen ein Halbfinale, von dem noch die Rede sein wird.

Gespielt wurde in Düsseldorf, Hannover, Stuttgart, Köln, Gelsenkirchen, Frankfurt, Hamburg und München. Die Spannung war groß, denn nur selten gab es mehr Titelkandidaten und im Umkehrschuss weniger klare Favoriten als vor dieser EM. Der Kicker schrieb vier Tage vor dem Start: "Eigentlich nur eine Mannschaft wird bei der Nennung von Favoriten nie aufgeführt: Irland." Und was sprach für Deutschland außer der Gastgeberrolle und dem Mythos einer Turniermannschaft.

Nicht allzu viel. Der notwendige Umbruch nach der WM in Mexiko, als man zwar Zweiter wurde, aber notgedrungen Fußball von gestern spielte, war bei nur sechs Verbliebenen aus dem Mexiko-Kader vollzogen, gelungen war er nicht. Die Hoffnungen ruhten besonders auf Lothar Matthäus, der den kurz vor der EM verletzten Kapitän Klaus Allofs ablöste, auf den spielenden Libero Matthias Herget und Italien-Legionär Rudi Völler. Der klassische Spielmacher war nicht im Kader, den Beckenbauer nach alter Tradition Ende Mai 1988 in Malente zusammenzog. Weder der 22-jährige Olaf Thon von Absteiger Schalke 04 noch Kaiserslauterns Edel-Techniker Wolfram Wuttke oder Bayerns Talent Hansi Dorfner hatten bis dahin bewiesen oder beweisen können, diese Mannschaft mit ihrer Kreativität zu bereichern.

Tatsächlich war sie eine Woche vor Turnerstart in einem Loch und wurde auch nicht gerade von Euphorie im Umfeld getragen. Zum letzten Testspiel gegen die Jugoslawen (1:1), das die Reihe der Enttäuschungen des Frühjahrs 1988 fortsetzte, kamen nur 13.000 Zuschauer nach Bremen. Heute undenkbar. Der Kicker schrieb: "In vier Tagen geht sie los, die große Party. Euro 88, die Fußball-EM bei uns in Deutschland. Doch anstatt sich und die ganze Nation mit einem flotten Cocktail, einem Spiel, so rauschend wie Champagner, auf das große Fußballfest im eigenen Land einzustimmen, verabreichte die deutsche Nationalelf beim letzten EM-Test eher Magenbitter." Etwas analytischer stellte das Fachblatt sodann fest: "Kaum 100 Stunden vor dem Start in Düsseldorf gegen Italien weiß der geplagte Teamchef philosophisch nur, dass er immer noch nichts weiß. Die deutsche Elf steht zwar – aber auf wackeligen Beinen." Vorbei die Zeiten von Blockbildung, die so oft Erfolge garantierten: In Bremen standen Spieler aus neun Klubs in der Startelf. Vom Meister Werder Bremen hatten es nur zwei Spieler in den Kader geschafft, doch mit Uli Borowka und Gunar Sauer plante der Teamchef nicht wirklich. Auch die Bayern-Fraktion war ungewohnt klein: Matthäus und Brehme, beide künftige Mailänder, waren gesetzt, Hansi Dorfner und Hansi Pflügler Bankdrücker. Große Sorgen bereiteten die Italien-Legionäre. Rudi Völlers erstes Jahr in Rom verlief bescheiden und sein letztes Länderspiel-Tor lag neun Monate zurück. 472 Minuten ohne Tor brachten die Kritiker gegen ihn auf, aber Beckenbauer hielt ihm die Treue: "Wenn der Rudi spielen will, spielt er."

Beckenbauer hat "die Nase voll"

Weniger einfühlsam ging er mit Verteidiger Thomas Berthold (Hellas Verona) um, von dem er nach dem Jugoslawien-Spiel "die Nase voll" hatte. "Das Gegentor geht ganz klar auf seine Kappe. Es war wieder einmal die übliche Nachlässigkeit, das können wir nicht durchgehen lassen", grollte der "Kaiser", der in Bremen übrigens mit der Mode ging und die Nationalspieler erstmals nach einem Spiel auslaufen ließ.

Das Klima in Malente, wo die 22 Spieler traditionell ihr Quartier bezogen, war also getrübt – auch weil gleich sechs auch in der Olympiaauswahl tätige Spieler später kamen. Sie hatten das Ticket nach Seoul gelöst und in der Öffentlichkeit viel Kredit. Das provozierte vereinzelte Kampfansagen der Etablierten. So verlautete der Stuttgarter Guido Buchwald, er sei "besser als Borowka" und "nicht hier um Urlaub zu machen, sonst könnte ich auch mit meiner Frau nach Mallorca fliegen." Er bekam dafür einen Rüffel von den Kollegen, aber nicht vom in jenen Tagen so unberechenbaren Teamchef, der das "gesunde Selbstbewusstsein" Buchwalds gar goutierte.

Als die EM am 10. Juni mit dem Spiel gegen Italien eröffnet wurde, stand er prompt in der Startelf. Neben den anderen Sorgenkindern Thomas Berthold und Rudi Völler, der in Jürgen Klinsmann einen loyalen Sturmpartner an seiner Seite wusste. Die spannende Spielmacherfrage (Littbarski, Wuttke oder Thon?) ging zugunsten des Schalkers aus, aber auch Littbarski durfte auflaufen. Die Abwehr führte der Uerdinger Matthias Herget, obwohl sich Gunnar Sauer noch in der Nacht vor dem Spiel in der Elf sah, weil Beckenbauer ihm zurief: "Stell dich darauf ein, dass Du spielst." Dann kam es doch wieder anders. Keine Überraschung: Jürgen Kohler gab den Vorstopper.

Die 55-minütige Eröffnungsfeier wurde ein Kinderspiel. 1500 Kinder prägten das Bild der Feierlichkeiten und sangen ein rührendes Lied: "Wir freu’n uns auf ein Fußballfest, das nicht nur schön beginnt, bei dem nicht nur das beste Team, sondern auch der Sport gewinnt. Auf grünem Rasen grünes Licht für Tore und Ideen, die Rote Karte für Gewalt, die woll’n wir hier nicht sehen." So klangen die vordringlichsten Wünsche der Organisatoren aus Kindermund. Ob es daran lag, dass sie weitgehend in Erfüllung gingen? Die Ängste vor aggressiven Fans einerseits und defensiven Spielern andererseits erwiesen sich als überzogen, wenngleich nicht ganz unbegründet. 1200 Verhaftungen gab es während der zwei Turnierwochen, vorwiegend waren es deutsche und englische Hooligans, die die Gewalt suchten. Am Eröffnungstag gab es nur vier Festnahmen – und guten Sport.

"Wer hier verliert, kann sich gleich per Handschlag verabschieden"

Beckenbauer hatte noch geunkt: "Wer hier verliert, kann sich gleich per Handschlag verabschieden." Zur Pause des Klassikers stand es noch 0:0, dann unterlief dem an diesem Tage indisponierten und gnadenlos ausgepfiffenen Herget ein Leichtsinnsfehler, den Roberto Mancini zur Gästeführung nutzte. Beckenbauer grollte: "So ein Tor darf es einfach nicht geben." Das dachten sich die Italiener drei Minute später auch, als der englische Schiedsrichter Keith Hackett Walter Zenga beim Abschlag einen Schrittfehler attestierte – drei erlaubte die längst überholte Regel, Zenga machte vier. So gab es mitten im Strafraum indirekten Freistoß. Littbarski tickte an, Brehme schoss flach und fand ein Loch in der Mauer (56.). Bei diesem 1:1 blieb es, 68.000 im Rheinstadion und 300 Millionen vor den Bildschirmen in 73 Ländern sahen ausnahmsweise ein gutes Eröffnungsspiel – mit etwas Schatten. Bezeichnend Beckenbauers Fazit: "Wir haben 25 Minuten lang das Spiel bestimmt, ein richtiges Powerplay aufgezogen. Dann haben wir den Faden verloren, haben ihn wieder gefunden und wieder verloren. So ging es das ganze Spiel."

In Hannover ging es im zweiten Gruppenspiel noch turbulenter zu. Wie in den beiden Turnieren zuvor unterlag Dänemark trotz rund 40.000 Landsleuten auf den Rängen Spanien – diesmal mit 2:3. Wie in Mexiko 1986 fraß der Geier, "El Butre", wie sie Emanuel Butragueno nannten, die Dänen. Sein Tor zum 2:1 fiel aus klarer Abseitsposition und demoralisierte das Team von Sepp Piontek, der auf der Pressekonferenz sagte: "Bisher habe ich nie an einen Angstgegner geglaubt. Aber jetzt sage ich: Lasst mich in Zukunft mit den Spaniern zufrieden."

Lieber dachte er an seine Landsleute, denn gegen die Deutschen hatten die Dänen in Mexiko noch 2:0 gewonnen. Diesmal kam es umgekehrt. Jürgen Klinsmann (10.) und Lokalmatador Olaf Thon (87.) schossen in Gelsenkirchen die Tore, die schon das EM-Aus für die Dänen bedeuteten. Als das Stadion schon leer war, gab Thon immer noch Interviews. "Für mich war dieses Tor das Größte, denn einen schöneren Abschied vom Parkstadion kann ich mir nicht wünschen", sagte der künftige Bayern-Spieler.

Es gab noch mehr Gewinner in der neuformierten Elf, aus der Berthold nun doch geflogen war. Der Leverkusener Wolfgang Rolff rückte nach und nutzte seine Chance, Matthias Herget ließ diesmal erst gar keine Pfiffe aufkommen und als Klinsmann sein Tor schoss, klatschte sogar "Kaiser Franz" Beifall. Aber es gab auch einen Verlierer: Für Guido Buchwald war die EM nach einem Muskelfaserriss zu Ende, Konkurrent Uli Borowka kam nach 33 Minuten in die Elf. Und Rudi Völler? Sammelte weitere 74 torlose und enttäuschende Minuten, sein Vertreter Frank Mill traf gleich den Pfosten. Diese Debatte verstummte auch nach diesem guten Spiel nicht. Wenn es irgendwo keine Debatte gab im deutschen Team, dann im Tor. Eike Immel machte keine Fehler, was gegen die Dänen aber schlicht ein Ding der Unmöglichkeit war. Mangels Beschäftigung gab ihm der Kölner Express eine 0 als Note für nicht teilgenommen. Es sagt alles über die Dänen, die es nicht an Selbstkritik fehlen ließen: "Die guten Jahre sind vorbei und wir haben vor allen Dingen nicht mehr die Kraft wie etwa die deutsche Mannschaft", sagte Sören Lerby. Franz Beckenbauer sagte gar nichts und flog eiligst per Hubschrauber zum Spiel der Spanier gegen Italien nach Frankfurt.

30.000 Azzuri jubeln

30.000 Azzuri trieben ihre junge Mannschaft zum Sieg, den Vialli in der 74. Minute herausschoss. Er war verdient und ließ auch den Kaiser schwelgen: "Ich bete den italienischen Fußball an." Für Italien-Legionär Hans-Peter Briegel avancierte die Elf von Azeglio Vicini "nach dieser Leistung zum Turnierfavorit." Vicini bremste nur sanft: "Wir sind auf dem richtigen Weg." Die bereits ausgeschiedenen Dänen würden ihn kaum verstellen – und so war es. In Köln wehrte sie sich zwar nach Kräften, aber dann wechselte Vicini den Sieg ein. 27 Sekunden brauchte Weltmeister Alessandro Altobelli für sein 1:0, Luigi De Agostini war etwas langsamer (143 Sekunden). Das 2:0 brachte Italien ins Halbfinale, Platz zwei war für Vicini kein Problem.

"Jetzt müssen wir nach Stuttgart statt nach Hamburg. Das ist nicht schlecht, Stuttgart liegt näher an Italien." Trainer-Logik. Kollege Sepp Piontek ließ sich derweil über den Kalender aus: "Normalerweise ist Weihnachten im Dezember, bei uns war es schon im Juni. Wir haben in jedem Spiel unsere Geschenke gemacht und verabschieden uns jetzt." Um die Mannschaft war es weniger schade als um die durchweg fröhlichen Fan-Horden, die mit ihren Wikinger-Helmen das Bild dieser EM mitprägten.

In München zog an diesem 17. Juni passend zum Nationalfeiertag auch die deutsche Elf ins Halbfinale ein. Zugespitzt kann man sagen: Rudi Völler schlug Spanien 2:0, denn endlich platzte der Knoten beim so lange torlosen Mittelstürmer. Nach 666 Minuten traf er wieder, auf Vorlage von Freund Klinsmann (30.). Das 2:0 legte ihm der überragende Kapitän Matthäus per Hacke auf (51.). Das Schöne am deutschen Sieg waren die Tore – denn sie waren glänzend herausgespielt. Und so weigerte sich Völler auch, sich Matchwinner nennen zu lassen. "Nein nein, ich sehe mich hier nicht als absoluten Matchwinner – das möchte ich betonen." Vielmehr dankte er Klinsmann, "er hat um mein Innenleben gewusst und mir immer gut zugeredet" und dem Münchner Publikum, das ihn mit "Rudi"- Sprechchören verabschiedete, "obwohl ich hier nicht nur Freunde gehabt habe."

Allenthalben herrschte Hochstimmung nach dem Sieg auf dem Platz und in der Gruppe. DFB-Präsident Hermann Neuberger: "Das war eine weitere ganz enorme Steigerung unserer Mannschaft. Jetzt ist es egal, auf wen wir im Halbfinale treffen."

Der Gegner schälte sich in Gruppe 2 erst in den letzten Minuten heraus. Sie begann gleich mit einer Sensation. Ray Houghton köpfte die irische Mannschaft in Stuttgart gegen England zum Sieg und setzte sich ein Denkmal. Und das, wo er eigentlich Engländer ist, aber irische Vorfahren hatte. Trainer Jack Charlton, gleichsam Engländer, versprach seinem Heimatland nun "auch die Russen zu schlagen. Damit tun wir den Engländern einen Gefallen und zweitens sind wir dann im Halbfinale." Natürlich hielt das die gefürchteten englischen Hooligans nicht davon ab, sich zu prügeln. Iren dagegen feierten in Stuttgart bis tief in die Nacht mit Guiness und fingen an, ihrem Trainer zu glauben. Der hatte bei der Landung gesagt: "Unser Ziel ist das Endspiel. Deshalb sind wir hier." Das verfolgten auch die Niederländer und doch verloren sie es nach den ersten 90 EM-Minuten schon aus den Augen: obwohl von 40.000 Landsleuten in Köln angefeuert, unterlagen sie den Russen 0:1. Rinat Dassajew hielt überragend, Rinus Michels sah noch einen Grund für die Niederlage: "Meine Stürmer brachten in der ersten Halbzeit nur 50 Prozent ihrer normalen Leistung. Vielleicht war der Druck doch zu groß." Unmittelbar nach dem Gegentor durch Vasilij Raz brachte er erst den noch nicht ganz fitten Marco van Basten, der an diesem Tag noch leer ausging. Noch. Für das Expertenlob konnten sich die Niederländer nichts kaufen (Beckenbauer: "Sie haben begonnen wie ein Weltmeister."), Michels stellte fest: "Wir haben jetzt einen Kater." Und so hatte das aus Sicherheitsgründen bereits bedenkliche Spiel zwischen den Niederlanden und den Engländern noch mehr Brisanz.

Der große Auftritt des Marco van Basten

Der Verlierer von Düsseldorf war zwangsläufig ausgeschieden. In weiser Voraussicht vernagelten die Wirte und Geschäftsleute in der Altstadt am 15. Juni ihre Fensterscheiben. Dieses Mittel war dem englischen Torwart Peter Shilton nicht gestattet und so kam Marco van Basten zu seinem großen Auftritt: Dreimal stand sein Name an der Anzeigetafel, der Stürmer des AC Mailand war der Mann des Tages beim 3:1-Sieg von Oranje. "Ich gebe gerne zu, dass ich in Sachen van Basten falsch lag", sagte Michels. Lange Zeit war die Partie offen, Briasn Robson, Namensvetter des Trainers Bobby Robson, glich in der 54. Minute aus und danach war sein Trainer "sicher, dass wir das Spiel noch gewinnen." Doch während Gary Lineker nur den Pfosten traf, hatten die Niederländer ihren van Basten, der binnen vier Minuten (72., 76.) die Partie entschied. Berti Vogts, Beobachter des DFB, lobte: "Das war das bisher beste Spiel der Euro. Hollands Erfolg war ein Sieg für den Fußball." Einer aber musste noch folgen, denn Iren und Russen trennten sich in Hannover 1:1 und nahmen die ersten beiden Plätze ein.

Wieder sorgten die Boys in Green für Furore, das Tor von Ronnie Whelan resultierte aus einem 30-Meter-Einwurf von Mick McCarthy. Andere flanken, die Iren werfen. Sie glänzten nicht bei dieser Euro, aber begeisterten trotzdem. Oleg Protassow rettete den Russen noch einen Punkt. Am letzten Spieltag trafen sie in Frankfurt für die ausgeschiedenen Engländer und hatten leichtes Spiel. Gleich der erste Schuss von Aleinikow (3.) war drin (3.), den Ausgleich von Tony Adams (16.) konterten Michailitschenko (28.) und Viktor Pasulko (73.). Trainer Valerij Lobanowski, der auch Dynamo Kiew coachte, drohte: "Bisher haben wir erst 60 Prozent unseres Leistungsvermögens gezeigt." Dann ließ er sich nach Mainz fahren, weil er dem ZDF-Sportstudio gerne ein Interview geben und der Welt sein Fußballverständnis erklären wollte. Etwa so: "Über Sieg und Niederlage entscheidet nicht die guten Laune des Trainers." Die Fernsehleute nahmen den ungeladene Gast freundlich auf, wie es sich für gute EM-Gastgeber gehört.

In Gelsenkirchen zitterte der kommende Europameister bis sieben Minuten vor Abpfiff um das Halbfinale. Dann fälschte Joker Wim Kieft einen verunglückten Koeman-Schuss mit dem Kopf ab – 1:0. Trauer bei den wackeren Iren, zumal Muhren bei dem Tor durchaus aktiv im Abseits stand. Torwart Paddy Bonner trug es mit Fassung: "Wir fahren erhobenen Hauptes nach Hause." In Dublin feierten 250.000 die Helden, die England geschlagen hatten, was wichtiger als alles andere zu sein schien. Im Halbfinale standen nun die Niederländer – der Gegner hieß Deutschland. Beckenbauer bedauerte: "Wir hätten es mit den Iren leichter gehabt." Ob er ahnte, was da kommen würde?

Am 21. Juni endete im Hamburger Volkspark-Stadion der Traum vom EM-Triumph im eigenen Land. In dem sich die Deutschen wohl selten so fremd gefühlt haben wie an diesem Tag. Das Volkspark-Stadion war atmosphärisch fest in holländischer Hand. Auch wenn unter den 61.000 nur 15.000 Niederländer waren, machten sie die Stimmung. "Schön wär`s gewesen, wenn wir heute in Deutschland gespielt hätten", sagte Frank Mill, der überraschend in die Elf gerutscht war. Auf den Aufstellungen stand überall Pierre Littbarski, doch dem verordnete der listige Beckenbauer "Magenschmerzen", die er nicht hatte. Es galt die Nachbarn zu überraschen. Beinahe wäre es gut gegangen, aber nur beinahe. Zur Pause stand es noch 0:0, es gab wenige Chancen. Dann legte Frank Rijkaard Klinsmann im Strafraum und Matthäus verwandelte den fälligen Elfmeter (55.). Klinsmann vergab die große Chance zum 2:0 und nun drehte die "Elftal" auf. Von Ruud Gullit angetrieben, erarbeitete sie sich Chance um Chance. Aber ehe ein Tor fiel, musste der rumänische Schiedsrichter mithelfen. Der sah ein Foul von Kohler an van Basten, "das keines war, ich schwöre es" (Kohler).

Elfmeter – Ronald Koeman überlistete Immel (74.). Die Verlängerung bahnte sich an, als Jan Wouters in den Strafraum spielte. Etwas zu ungenau auf van Basten, der den Ball nicht mehr annehmen kann. Dafür befördert er ihn eben mit langem Bein ins Tor, Kohler kommt eine Zehntelsekunde zu spät. 1:2 in der 88. Minute – es ist die Entscheidung. Es kommt auf dem Feld zu einigen unschönen Szenen, Häme überwiegt bei den Siegern. Koeman etwa wischt sich symbolisch den Hintern mit Thons Trikot ab. Es war mehr als nur ein Spiel, wie Rinus Michels zugab: "Vor allem ältere Menschen waren zum Weinen gerührt, das hatte noch etwas mit dem Krieg zu tun." Wer den nicht mehr erlebte, verspürte dennoch Genugtuung für die Niederlage im WM-Finale 1974. Hollands Seele tanzte vor Freude, fast neun Millionen Menschen sollen in dieser Nacht auf den Straßen gefeiert haben. Dabei sollte das Beste noch kommen.

"Totengräber des deutschen Fußballs"?

In Deutschland begann das übliche Jammern, Beckenbauer musste über sich lesen, er sei "der Totengräber des deutschen Fußballs". So schrieb es sein "Freund" Paul Breitner in einer Kolumne. Dieser Ansicht war sonst niemand. Der Kaiser blieb an der Macht, die Verlierer leckten kurz ihre Wunden und gratulierten fair. Präsident Neuberger: "Die bessere Mannschaft hat gewonnen."

Sie traf auf den Sieger des zweiten Halbfinales, das am kommenden Tag in Stuttgart stieg. Die Russen trotzten der Kulisse, 40.000 der 70.000 Zuschauer waren Italiener, und gewannen überraschend mit 2:0. Wieder gab es kein Mittel gegen ihr Forechecking und wieder hatten sie die Geduld, auf eigene Tore zu warten. Litowtshenko (60.) und Protassow (63.) trafen Italien ins Herz. Bayern-Manager Uli Hoeneß lobte auf der Tribüne: "Großartig, wie die Russen gespielt haben. Mit ihrem aggressiven Forechecking im Mittelfeld sind die Italiener nie zurecht gekommen." Spion Michels stellte über den Finalgegner fest: "Die Sowjets haben die Italiener ja förmlich eingemauert." Das Spiel um Platz drei gab es nicht mehr, nun durfte die Squadra Azzuri heim reisen. Nur geschlagen, nicht geknickt. Trainer Vicini: "Ich kann meiner Mannschaft keinen Vorwurf machen, sie hat alles gegeben."

Das Finale also hieß wie das erste Vorrundenspiel der Gruppe 2 – Niederlande gegen UdSSR. Die Stuttgarter Nahrichten freuten sich: "Das Duell der Denker, der großen Strategen Lobanowski und Michels, verspricht ein Fest".

Und sie hielten das Versprechen. Am 25. Juni sahen 62.770 Zuschauer im Münchner Olympiastadion ein würdiges Finale einer EM mit fast ausnehmend guten Spielen. Auf dem Schwarzmarkt wurden am Spieltag bis zu 450 Mark für Tickets gefordert und gezahlt. 35.000 Niederländer wollten dabei sein, wie an der Stätte der größten, weil so unnötigen Niederlage im WM-Finale 1974 nun der größte Triumph entstehen würde. Und diesmal machte sich der "Heimvorteil" bezahlt. Das bis dahin ausgeglichene Spiel kippte nach 33 Minuten zugunsten der "Elftal", als der überragende Ruud Gullit das 1:0 köpfte. Die Vorlage gab Marco van Basten, dessen größter Auftritt noch kommen sollte.

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Eines der unglaublichsten Tore der Geschichte

Man schrieb die 54. Minute, als eines der unglaublichsten Tore der Fußball-Historie fiel: Arnold Muhren flankte von links beinahe schon ein bisschen zu weit, van Basten bekam den ball kurz vor der Auslinie und drosch volley aus unmöglichem Winkel. Es gab nur eine einzige Flugbahn, die der Ball nehmen konnte, um Dassajew zu überwinden. Der Russe stand eigentlich richtig, doch er war zu überrascht. Ehe er de Fäuste oben hatte, schlug der Ball im Winkel ein – 2:0! Der Kaiser adelte den Schützen höchstselbst: "Ein Wundertor, das schwierigste Tor, das ich je gesehen habe." Die Russen wehrten sich nach dem ersten Schock, trafen den Pfosten und erhielten noch einen Elfmeter. Doch der spätere Möchengladbacher Igor Belanow, überragend zwar im Turnier, aber nicht an diesem Tag, verschoss.

"Sonst schieße ich die Penalties immer hoch ins Eck. Diesmal hatte ich Angst, der Ball könnte übers Tor fliegen, deshalb schoss ich ganz flach." Torwart Hans van Breukelen war es recht, seine Parade krönte die Galaleistung der Niederlande. Die FAZ schrieb: "Diese jungen Meister aus Holland präsentierten mit ihrem Hochgeschwindigkeitsfußball auf höchstem spieltechnischen Niveau schon so etwas wie den Fußball der neunziger Jahre."

Die Frankfurter Abendpost dachte schon weiter: "Oh Schreck! Vermasseln uns diese starken Holländer auch die WM?" Das Los hatte die Rivalen in eine Qualifikationsgruppe für die WM in Italien geführt, aber bekanntlich ging das Unterfangen äußerst gut aus für die Deutschen. 1988 aber war Oranje die Mode-Farbe Europas. Der Züricher "Sport" bilanzierte die 15 EM-Tage treffend: "Holland und der Fußball – die großen Sieger einer Super-EM."

Zum Zuschauerrekord kamen gute und vor allem faire Spiele ohne einen einzigen Platzverweis und die UEFA freute sich über einen Gewinn von rund 35 Millionen DM. So konnte es weiter gehen mit der Europameisterschaft!