Geschichte der EM: Das erste Elfmeter-Drama

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Fußball-Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück. Teil drei thematisiert die EM 1976, als Deutschland als Titelverteidiger im Elfmeterschießen scheitert.

Letztmals wurde eine Europameisterschafts-Endrunde mit nur vier Mannschaften ausgetragen. 32 Länder bewarben sich um die Plätze, nur Favoritenschreck Albanien blieb fern. Aber auch der nächste Fußballzwerg, den das Los in eine Gruppe mit dem Welt- und Europameister führte, hatte es in sich. Die besten Kicker der Mittelmeerinsel Malta wehrten sich am 22. Dezember 1974 auf dem Ascheplatz von Gzira mit Haut und Haaren. Sechs Monate nach dem WM-Triumph von München mühte sich die Elf von Bundestrainer Helmut Schön zu einem knappen 1:0-Sieg, den der Kölner Bernd Cullmann sicherte.

Wie 1972 sollte die Qualifikation für Deutschland kein Spaziergang werden. Zwar ungeschlagen, aber doch mit etlichen blauen Flecken (zwei Remis gegen Griechenland) erreichte der Titelverteidiger das Viertelfinale. Erst das wichtigste Länderspiel-Tor in der Karriere von Jupp Heynckes im November 1975 gegen die Bulgaren (1:0) beseitigte die Sorgen, das abschließende 8:0 gegen Malta, als Berti Vogts sein einziges Tor in 96 Länderspielen gelang, die letzten theoretischen Zweifel. Einige Skeptiker aber blieben der Schön-Elf erhalten: "Es ist schwer zu glauben, dass diese Mannschaft trotz aller guten Vorsätze und Ansätze sich so zu steigern vermag wie jene in der Europameisterschaft 1972", schrieb die Süddeutsche Zeitung.

Es war Klagen auf hohem Niveau. Andere große Fußball-Nationen hätten die Sorgen der Deutschen gerne gehabt. England, das schon die WM 1974 verpasst hatte, scheiterte in der Vorrunde ebenso wie der Europameister 1968, Italien. Auch der WM-Dritte Polen, vom Los in eine Todesgruppe mit den Niederlande und besagten Italienern geführt, blieb zuhause. England mochte sich noch damit trösten, dem späteren Europameister Tschechoslowakei in Wembley eine 3:0-Niederlage zugefügt zu haben. Doch im Rückspiel, das wegen dichten Nebels erst im zweiten Anlauf ordnungsgemäß durchgeführt werden konnte (der erste wurde nach 16 Minuten abgebrochen), behielten die Tschechen die Oberhand (2:1).

England in der Fußball-Krise

England war geschockt und musste sich seine Fußball-Krise allmählich eingestehen. Großbritannien entsandte dennoch einen Vertreter ins Viertelfinale. Ausgerechnet sein kleinster Verband, Wales, schaffte den Sieg in einer Gruppe mit Österreich und Ungarn. Ebenfalls im Viertelfinale: Jugoslawien, Belgien, Spanien und – Dynamo Kiew. Was wie ein schlechter Witz klingt, ist doch Fakt: aus organisatorischen Gründen verzichteten die Russen nach dem Aus in der WM-Qualifikation auf den Aufbau einer neuen Nationalmannschaft und schickten einfach ihren Meister als Vertreter der Sowjetunion ins Rennen. Und so kam es, dass ein Verein ins Viertelfinale einer EM einzog, denn Dynamo mit seinem Weltklassestürmer Oleg Blochin war 1975 Europapokalsieger geworden (Pokalsieger-Cup) und hatte auch das Super-Cup-Finale gegen die Bayern gewonnen. Da reichte es dann auch für die Türkei und Irland.

Wie 1972 kam auch das kleine Belgien wieder unter die letzten Acht, obwohl es sich im letzten Heimspiel eine Niederlage gegen die DDR (1:2) leistete. Den Ost-Deutschen, die auch das damals noch zweitklassige Frankreich schlugen (2:1), fehlte am Ende nur ein Punkt zum Gruppensieg. Als die Viertelfinals ausgelost wurden, brannte ein Land ganz besonders auf den Sieg: Jugoslawien hatte sich gleich am Tag nach der Qualifikation um die Ausrichtung der Endrunde beworben. Nun musste nur noch Außenseiter Wales eliminiert werden. Es schien die am wenigsten brisante Paarung zu werden. Dagegen versprach man sich von den Nachbarschaftsduellen zwischen Belgien und den Niederlanden sowie der Sowjetunion und den Tschechen mehr Spannung.

Deutschland traf auf Spanien, das damals weit ungefährlicher war als heute. Und doch machte die Paarung Jugoslawien – Wales letztlich die meisten Schlagzeilen. Den Jugoslawen schlug nach ihrem Hinspielsieg (2:0) in Cardiff Feindseligkeit entgegen, die man von britischen Sportplätzen bis dahin noch nicht gekannt hatte. Unentwegt flogen Flaschen, Büchsen und Klopapierrollen auf den Platz, und als der ostdeutsche Schiedsrichter Glöckner ein Waliser Tor wegen Abseits nicht anerkannte, stürmten Zuschauer das Feld. Fünf Minuten war das Spiel unterbrochen und auch danach gab es noch zahlreiche Störungen von den Rängen. Das half der eigenen Mannschaft aber nichts, sie schied aus (1:1) und – schlimmer noch – wurde wegen ihrer Fans von der Uefa von der nächsten EM ausgeschlossen.

"Die Hölle ist hinter uns", schrieb eine Zagreber Sport-Zeitung. Nun blickten sie voraus auf ein kleines, aber feines Spektakel im eigenen Land. Denn mit Deutschland und den Niederlanden hatten sich die WM-Finalisten von 1974 für die Spiele in Zagreb und Belgrad qualifiziert. Außerdem die Tschechen, von denen die Fachwelt trotz mittlerweile 19 Spielen ohne Niederlage nicht allzu viel erwartete. Noch waren die Panenkas und Nehodas unbeschriebene Blätter. Immerhin ertrotzten sie in Moskau vor 100.000 Zuschauern ein 2:2, was nach dem 2:0 im Hinspiel reichte. Die Russen hatten ihr Prinzip etwas aufgeweicht und "nur" neun Spieler von Dynamo Kiew aufs Feld geschickt. Noch deutlicher war das Polster der Niederländer, die Belgien in Rotterdam bereits 5:0 geschlagen hatten und noch neun WM-Finalisten einsetzten. In Brüssel überanstrengten sie sich am 22. Mai 1976 nicht und gewannen dennoch 2:1.

Comeback von Uli Hoeneß

Am gleichen Tag blickte Fußball-Deutschland nach München, wo die spanischen Wochen ihrem Höhepunkt entgegen strebten. Nachdem zunächst Meister Borussia Mönchengladbach recht unglücklich und danach Titelverteidiger Bayern München umso glücklicher gegen Real Madrid im Landesmeister-Cup die Klingen gekreuzt hatten, ging es nun um die EM-Fahrkarte. Sechs Real-Spieler bildeten das Gerüst der Nationalmannschaft, die Namen Camacho, Pirri und Santillana waren den deutschen TV-Zuschauern nach den Europacup-Schlachten nunmehr ein Begriff.

Im Hinspiel von Madrid hatte man sich 1:1 getrennt, ein spektakulärer 35-Meter-Schuss des Berliners Erich Beer hatte für eine gute Ausgangslage gesorgt. Nun bangten 75.000 Zuschauer im Olympia-Stadion mit dem Titelverteidiger, der mittlerweile auf seine Spanien-Legionäre Paul Breitner und Günter Netzer verzichtete. Der DFB war das ewige Gerangel um die Freigabeerteilung, wozu es damals keine Verpflichtung gab (!), allmählich leid. Es ging auch ohne die Spanier – so war der Tenor jener Tage. Sieben Weltmeister standen beim Anpfiff auf dem Platz und einer ganz besonders im Blickpunkt: Uli Hoeneß.

Der Bayern-Star gab nach einjähriger Pause in Folge eines Kreuzbandrisses sein Comeback. Es geriet zur Sternstunde. Auf Rechtsaußen machte der 24-Jährige eines seiner allerbesten Länderspiele und ganz gewiss "das schönste Tor in Ulis Laufbahn", wie der Kicker schrieb. Kurz nachdem Spaniens Quini die Latte getroffen hatte, schraubte sich Hoeneß artistisch in die Lüfte und donnerte eine Flanke von Beer ins spanische Tor. Die Spanier waren wie vom Blitz getroffen. Was Petrus, der an diesem Tag ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über München entlud, nicht schaffte, das schaffte Uli Hoeneß. Später traf er noch den Pfosten und seine Spurts rissen das Publikum immer wieder zu Beifall hin. Der galt ohnehin der ganzen Elf.

Wie 1972 in Wembley bot Deutschland sein bestes Spiel im Viertelfinale, nun aber war es das Rückspiel. Es war beinahe schon entschieden, als der andere "Neuling" sein Tor machte. Während Hoeneß sein Comeback gab, gab der Kaiserslauterer Klaus Toppmöller auf der seit Gerd Müllers Rücktritt seit zwei Jahren vakanten Mittelstürmer-Position sein Debüt. In der 43. Minute hatte sich das Risiko, das Helmut Schön in solch einem wichtigen Spiel eingegangen war, schon gelohnt: Nach einem Beckenbauer-Schuss, den Miguel Angel nicht festhalten konnte, staubte "Toppi" ab. Das 2:0 war Pausen- und Endergebnis. Muhammad Ali, amtierender Box-Weltmeister, muss es geahnt haben. Er verließ das erste Fußballspiel seines Lebens mit Entourage schon zur Halbzeit mit einem nicht sehr sachkundigen Kommentar auf den Lippen: "Langweilig." Das war es nie.

Schön lobt den "hervorragenden Geist"

Im Platzregen riss danach freilich der Spielfluss auf beiden Seiten etwas ab und die wenigen spanischen Chancen meisterte Sepp Maier gewohnt sicher. Hinterher war der Jubel groß, der Kicker prophezeite: "So bestehen wir auch in Belgrad!"

Bundestrainer Helmut Schön lobte den "hervorragenden Geist" seiner Elf, dämpfte aber auch die Erwartungen: "Noch sind wir nicht die Mannschaft, die wir einmal waren, aber auf dem Weg dorthin." Kapitän Franz Beckenbauer dagegen gab den Pessimisten: "Ich bezweifele sehr, dass wir die unheimlich heimstarken Jugoslawen vor 100.000 Zuschauern in Belgrad schlagen können. Und falls wir das tatsächlich schaffen sollten, treffen wir im Endspiel bestimmt auf die Holländer, die mindestens so gut sind wie bei der WM und nun auf Revanche sinnen. Das wird also noch schwerer!"

Schon damals wagte dem Kaiser kaum jemand zu widersprechen und so musste ihn die Realität in allen Punkten widerlegen. Mitte Juni nahmen die Dinge ihren Lauf. Die Europameisterschafts-Endrunde war noch immer eine kleine Veranstaltung, auf die man sich vorbereitete wie auf eine Länderspielreise. Einen Tag nach Abschluss der Bundesliga-Saison 1975/76, aus der erneut Borussia Mönchengladbach als Meister hervorging, versammelte Helmut Schön 18 Spieler in der Sportschule Grünwald, wo sie bis einen Tag vor dem Halbfinale gegen die Jugoslawen blieb. Zwei weitere – Braunschweigs Torwart Bernd Franke und Münchens Dauerläufer Bernd Dürnberger – blieben auf Abruf bereit.

An Trainingslager, Regeneration oder Testspiele wurde kein Gedanke verschwendet, es war schlicht keine Zeit dafür. Am Mittwoch, den 16. Juni, vormittags um elf ging der Europameister in die Luft um wieder nach den Sternen zu greifen. Immerhin standen ja noch acht Weltmeister im Aufgebot und das bisher so segensreiche Prinzip der Blockbildung der BM-Mannschaften Bayern München und Borussia Mönchengladbach sollte wieder Früchte tragen. Je vier Spieler aus diesen Klubs liefen gegen die Jugoslawen auf, dazu ein Duisburger (Bernard Dietz), ein Frankfurter (Bernd Hölzenbein) und ein Berliner (Erich Beer). Beer, im Klub im Mittelfeld eingesetzt, war der nächste Versuch, die Müller-Nachfolge-Suche endlich ad acta zu legen. Shooting-Star Toppmöller hatte sich durch einen Autounfall noch selbst aus dem Kader katapultiert, Torschützenkönig Klaus Fischer von Schalke 04 war als Skandal-Sünder noch immer für Länderspiele gesperrt.

Dieter Müller fährt ohne Länderspiel-Erfahrung mit

Und so nahm Schön als Alternative den 22-jährigen Kölner Dieter Müller mit, der ebenso wie HSV-Verteidiger Peter Nogly ohne jegliche Länderspiel-Erfahrung war. Überhaupt war die zweite Reihe ziemlich grün: die sieben Reservisten kamen zusammen auf 26 Länderspiele, von denen Kölns Heinz Flohe alleine 19 bestritten hatte. Viel durfte also nicht passieren in Jugoslawien, aber für zwei Spiele schienen die Deutschen gewappnet. Dass es Dramen werden würden, die beide in die Verlängerung gingen, das ahnte wohl nicht mal Pessimist Beckenbauer. Der lehnte jedenfalls die Favoritenrolle ab: "Vor vier Jahren hatten wir es leichter, weil die Konkurrenz schwächer war."

Die Konkurrenz machte den ersten Schritt in diesem Mini-Turnier und als am 16. Juni 1976 nach zwei Stunden in Zagreb der Abpfiff erklang, hatte es seine erste Überraschung. Außenseiter Tschechoslowakei, vorwiegend aus Spielern von Meister Slovan Pressburg bestehend, schlug die Niederländer mit 3:1. Es war ein Skandalspiel, das die EM noch nicht gesehen hatte und so bald auch nicht mehr sehen würde. Der Waliser Unparteiische Clive Thomas sah sich zu drei Platzverweisen gezwungen; zwei gegen die Niederländer Johan Neeskens und Wim van Hanegem. Der große Johan Cruyff wurde wegen Schiedsrichter-Beleidigung verwarnt, weshalb er für das nächste Spiel gesperrt war. Was ihm nach der Niederlage herzlich egal gewesen sein dürfte. Er reiste sofort ab und stellte drei Bedingungen für seine Rückkehr: "Mehr Geld für Nationalspieler, weniger Training und weniger Trainingslager."

Die deutsche Mannschaft, die das Spiel im Belgrader 1200-Betten-Hotel "Jugoslawija" sah, verspürte wenig Mitleid mit den Nachbarn. Uli Hoeneß sagte: "Es wurde höchste Zeit dass Herr Cruyff einmal spürte, dass der Fußballplatz nicht dazu da ist, sich mit seinen Eitelkeiten zu produzieren. Mit seiner Sperre hat er die verdiente Quittung erhalten." Das Spiel entgleiste kurz nachdem Tschechen-Libero Ondrus für beide Mannschaften getroffen hatte – das 1:1 war ein Eigentor (73.). In der Verlängerung nutzten die überlegenen Tschechen die durch van Hanegemens Rot entstandene Überzahl aus, Nehoda und Vesely schossen den Vize-Weltmeister aus dem Titelrennen.

Deren deutscher Trainer Georg Kessler gestand: "Das war eine enttäuschende Leistung meiner Mannschaft. Außerdem muss ich auch sagen, dass unter diesen widrigen Umständen gar nicht hätte angepfiffen werden dürfen." Er meinte den Dauerregen, der an der dürftigen Kulisse (17.879) nicht ganz unschuldig gewesen sein dürfte. Die Tschechen platzten dagegen vor Stolz. Trainer Vaclav Jezek: "Wir haben prächtig gespielt. So haben wir auch im Finale eine Chance." Der Kicker bilanzierte ungewohnt poetisch: "Die CSSR, das Mauerblümchen dieser Europameisterschaft, ist plötzlich zur strahlenden Blume geworden."

Am nächsten Tag, man schrieb den 17. Juni und in der Bundesrepublik wurde der Tag der Deutschen Einheit gefeiert, wurde ihr Gegner ermittelt. Die Jugoslawen, die für Ihre EM extra die Saison unterbrochen hatten, brannten auf den Europameister. In Branko Oblak (Schalke) und Danilo Popivoda (Braunschweig) standen zwei Bundesliga-Gastarbeiter im Team, die Trainer Ante Mladinic wertvolle Tipps geben konnten. Popivoda machte sich auch anderweitig nützlich und brachte den Hexenkessel der 70.000 im Stadion von Roter Stern zum Kochen: nach 18 Minuten überwand er Sepp Maier zum 1:0. Die Deutschen waren geschockt, Angriff auf Angriff rollte auf ihr Tor und nach 32 Minuten traf auch Dzajic – 0:2 zur Pause.

Schön bringt Flohe für Danner

Schön brachte Flohe für den überforderten Mönchengladbacher Dietmar Danner. Ein guter Griff des Bundestrainers, wie sich bald zeigen wird. Flohe fand sofort ins Spiel, bereitete zwei Chancen vor und nach 65 Minuten traf er gar ins Tor – noch leicht abgefälscht von Hacki Wimmer. Die Minuten verrannen, ein Retter wurde gesucht. In der 79. Minute erhielt die DFB-Elf eine Ecke und bevor sie ausgeführt wurde, wechselte Schön Neuling Dieter Müller ein. Es folgte das spektakulärste Debüt in der über hundertjährigen Länderspiel-Geschichte Deutschlands. 40 Sekunden erst war Müller auf dem Feld, da segelte der Ball nach Bonhofs Ecke genau auf seinen Kopf. Niemand störte ihn, die Jugoslawen hatten ihn noch gar nicht wahr genommen. Ein schwerer, folgenreicher Fehler: mit seinem ersten Ballkontakt glich Müller aus. Nun hatte der Kölner Blut geleckt und in der Verlängerung schoss er nach Vorlagen von Hölzenbein und Bonhof noch zwei Tore (115., 119.). Was für ein Einstand! Ein Star war den Deutschen geboren und sein Name verhieß nichts Gutes für den Rest der Welt. Schon nach dem 3:2 herzte ihn Beckenbauer mit den Worten "Wir haben wieder einen Müller" und in der Kabine sagte Sepp Maier: „Es wird wieder gemüllert in der National-Elf!".

Die jugoslawische Zeitung "Borba" schrieb: "Ein Müller ist gegangen, ein anderer ist gekommen." Dass "ich auch viel Glück gehabt habe an dem Tag", gab Müller später noch oft zu. Es erscheint schon erstaunlich, wie frei ein Stürmer bei einem dermaßen bedeutenden Spiel zum Schuss kommen durfte – aber die demoralisierten Jugoslawen waren auch am Ende ihrer körperlichen Kräfte als der 22-jährige Müller erst so richtig los legte. Natürlich konnte Helmut Schön diesen Wunderknaben nicht aus der Elf nehmen, die am 20. Juni das Finale an gleicher Stelle bestreiten sollte.

Dass es nicht ausverkauft war, stand zu befürchten. Die Jugoslawen waren enttäuscht vom Aus ihrer Helden und ließen ihre bereits erworbenen Endspieltickets teilweise verfallen. Das Spiel um Platz drei straften sie mit Missachtung: die 2:3-Niederlage (n. V.) gegen die Niederländer sahen in Zagreb offiziell nur 6766 Zuschauer. 324.000 Tickets wurden für die vier Spiele angeboten, nur 106.000 erworben.

Kicker-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann schrieb schon zwei Tage vorher: "Hat die Europameister-schaft in ihrer jetzigen Form noch eine Zukunft? Ich meine, wenn man ein Finalturnier mit vier Mannschaften durchführt, dann soll jeder gegen jeden spielen. Zwei Halbfinalspiele, deren Sieger um den Titel und die Verlierer um den 3. Platz spielen zu lassen, das hat sich nicht bewährt. Ein Fest des europäischen Fußballs, so wie es die WM für die ganze Welt ist, wird eine Europameisterschaft so sicher nie werden." Mit seiner Meinung stand er nicht alleine - und sie sollte sich durchsetzen.

FIFA-Präsident Havelange: "Eine Werbung für den Fußball"

Einmal aber ging es noch wie bisher weiter und das Finale war alles andere als langweilig. FIFA-Präsident Joao Havelange kam sogar zu dem Urteil: "Eine Werbung für den Fußballsport. So wird der Fußball lange leben."

Die Erinnerung an die 120 Spielminuten mit Zusatzqual vom Elfmeterpunkt lebt bis heute in Deutschland, Tschechien und der Slowakei fort. Wann immer ein Elfmeter besonders raffiniert verwandelt oder unkonzentriert verschossen wird, schweifen die Gedanken jener, die das Drama erlebt haben, ab nach Belgrad. Dass es überhaupt zum bis dahin noch nie bei Turnieren ausgetragenen Elfmeterschießen kam, wurde erst am Vorabend auf DFB-Initiative beschlossen. Präsident Hermann Neuberger einigte sich mit den Tschechen und der UEFA darauf. Eigentlich hätte am Dienstag ein Wiederholungsspiel stattfinden sollen, aber das fand Helmut Schön "mörderisch".

Das Finale vor 35.000 Zuschauern sollte eigentlich zur erneuten Kaiserkrönung werden, schließlich bestritt Franz Beckenbauer als erster Deutscher überhaupt sein 100. Länderspiel. Nur mit einem Sieg wäre das Jubiläum perfekt, aber darauf nahmen die Tschechen natürlich keine Rücksicht. DFB-Präsident Neuberger tat das Seine, um die Spieler anzustacheln und erhöhte die Siegprämie spontan von 10.000 auf 15.000 D-Mark. Die Tschechen, witzelte Trainer Jezek, wären schon damit zufrieden gewesen, dass "wir am Dienstag oder Mittwoch von unserem Ministerpräsidenten empfangen werden. Das ist Belohnung genug für uns." Doch auf dem Feld sah man zunächst nicht, für wen es angeblich nur um die Ehre ging.

Wie im Halbfinale verschlief die Schön-Elf den Start gehörig: und noch früher als am Donnerstag hieß es an jenem Sonntag 0:2. Svehlik (8.) und Dobias (25.) nutzten Abwehrfehler des Welt- und Europameisters, die man lange nicht gesehen hatte. Stand doch mit Ausnahme des Duisburger Linksverteidigers Bernard Dietz die Abwehrkette von München auf dem Platz. Aber wiederzuerkennen war sie nicht. Aber, auch das andere, kämpferische, Gesicht der Nationalelf trat wieder zutage. Und wieder bewies Dieter Müller seinen Torinstinkt: drei Minuten nach dem 0:2 verwandelte er eine Vorlage von Rainer Bonhof. Zweites Länderspiel, viertes Tor – und das bei einer EM-Endrunde. So hat noch keine Länderspielkarriere begonnen.

Derwall sucht die Elfer-Schützen

Nach der Pause entwickelte sich ein dramatisches Spiel, beide Seiten trafen den Pfosten. Schön wechselte erneut Heinz Flohe und nach 80 Minuten den Schalker Hannes Bongartz ein, der erst sein zweites Länderspiel bestritt. In der 83. Minute versuchte Beckenbauer sein Jubiläum zu retten und drang in den Strafraum ein, wo er von Dobias gefoult wurde. Aber der italienische Schiedsrichter Gonella pfiff nicht.

Die letzte Minute: es gab noch einmal Ecke für Deutschland, Bonhof schoss sie scharf in den Fünfmeterraum. Nah ans Tor, zu nah eigentlich. Der phantastische Tschechentorwart Ivo Viktor kam zu spät, Bernd Hölzenbein erwischte den Ball mit dem Kopf einen Tick vor ihm und plötzlich hieß es 2:2. Ein Last-Minute-Tor, wie es Schnellinger in Mexiko oder Weber in Wembley gelungen war. Es wurde gar nicht mehr angepfiffen, Verlängerung. In selbiger schwanden die Kräfte auf beiden Seiten, immer wieder gab es Unterbrechungen wegen Wadenkrämpfen. Nur Tore gab es keine mehr und so musste der DFB erstmals in seiner Historie in ein Elfmeterschießen. Was neu ist, konnte noch nicht eingeübt sein und so mangelte es an willigen Schützen. Co-Trainer Jupp Derwall machte sich auf die Suche. In einem Jahrbuch des Copress-Verlags sind die Antworten der von Derwall angesprochenen Spieler dokumentiert.

Bernard Dietz: "Nein, ich nicht. Ich fall auf der Stelle um. Ich bin kaputt."

Franz Beckenbauer: "Oje, ich weiß nicht, ob ich mit meiner verletzten Schulter (!) schießen kann."

Uli Hoeneß: "Ich kann nicht. Ich bin völlig ausgepumpt."

Katsche Schwarzenbeck: "Ich habe neun Jahre keinen Elfmeter geschossen. Warum soll ich ausgerechnet heute?"

Sepp Maier meldet sich freiwillig: "Dann schieße eben ich."

Beckenbauer: Kommt nicht in Frage. Du gehst ins Tor. Basta, ich schieße schon."

Maier: "Dann schieße ich für den Uli."

Hoeneß: "Lass mal Sepp. Ich schieße schon."

Noch sind es nicht genug, da fragt Helmut Schön Dieter Müller.

Müller: "Ich hab nicht die Nerven dazu. Das ist doch erst mein zweites Länderspiel."

Heinz Flohe: "Ich fühle mich sicher."

Nun sind es mit Bonhof, den keiner fragen musste, Hoeneß, Flohe und Beckenbauer vier. Da meldet sich Hannes Bongartz: "Okay, ich bin auch dabei."

Wer den über die Jahrzehnte gewachsenen Ruf von den eiskalten deutschen Elfmeterschützen kennt, die seit 1976 ein solches Stechen nie mehr verloren haben, muss sich doch etwas wundern über die Anfänge in dieser Spezial-Disziplin. Leider bestätigte sich an diesem Tag jedoch der Ruf von Sepp Maier, kein ausgewiesener Elfmeterkiller zu sein. So reaktionsschnell "die Katze von Anzing" auch war, beim Pokerspiel vom Punkt lag sie leider meist daneben. Und so war es auch in Belgrad. Masny, Nehoda, Ondrus und Jurkemik überwanden ihn, auf deutscher Seite glichen Bonhof, Flohe und Bongartz dreimal aus. Dann kam Uli Hoeneß an die Reihe. Der Mann, der nicht schießen wollte, es aber tat "weil sich kein anderer fand und ich der Verantwortung nicht ausweichen wollte."

Hoeneß donnert den Ball in den "Belgrader Nachthimmel"

Aber er war ihr mehr körperlich denn geistig nicht gewachsen. Hoeneß erzählte den Reportern treuherzig: "Normalerweise achte ich auf den Torwart und schiebe den Ball in die Ecke. Weil ich jedoch so ausgelaugt war, wollte ich kein Risiko eingehen und den Ball mit voller Wucht ins Tor jagen." Nun, er schoss ihn ein bisschen zu wuchtig und vor allem zu hoch. Gar nicht so deutlich über das Tor, wie es in der Rückschau gern dargestellt wird, wenn gewitzelt wird, dass man den in den "Belgrader Nachthimmel" geschossenen Ball immer noch suche.

Natürlich schoss er ihn nicht aus dem Stadion, aber eben so offensichtlich unkonzentriert, dass sein Schuss als Prototyp des missratenen Elfmeters durchgeht. Genau das hoffte er nicht, als er am nächsten Morgen im Hotel einem Reporter sagte: "Nun muss ich mich aber wohl nicht hundert Jahre mit Vorwürfen plagen?"

Aber weil es das einzige Elfmeterschießen war, das eine deutsche Mannschaft bei Turnieren je verloren hat, muss er sich öfter daran erinnern, als ihm lieb ist. Die Niederlage perfekt machte jedoch ein anderer Elfmeter. Der Schuss von Antonin Panenka war der Gegenentwurf zur Hoeneß-Methode. Frech bis zur Dreistigkeit schnippelte Panenka den Ball in die Tormitte, im Vertrauen darauf, dass Maier sich schon eine Ecke suchen würde. Und so war es – 5:3. Ende. Aus. Vorbei. Die Tschechen waren erstmals Europameister, ein Land war aus dem Häuschen. Zehntausende erwarteten die Helden bei der Landung in Prag und feierten "die Meisterelf aus dem Nichts", wie sie genannt wurde.

Die Deutschen hatten nichts zu feiern, aber natürlich gab es noch einen Umtrunk im Mannschaftskreis. Immerhin waren sie Vize-Europameister geworden und zumindest Franz Beckenbauer kehrte nicht mit leeren Händen heim. Der DFB schenkte ihm für sein 100. Länderspiel eine Skulptur aus Gold und Silber, die eine Spirale darstellte – die seinen Aufstieg symbolisierte. Dass der Silberpokal, für den sie nach Jugoslawien gekommen waren, nicht danebenstand, verzieh er Sünder Uli Hoeneß schon am nächsten Morgen am Flughafen. Kameradschaftlich sagte der Kaiser: "Uli, das hätte mir auch passieren können."

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Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Fußball-Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück. Teil drei thematisiert die EM 1976, als Deutschland als Titelverteidiger im Elfmeterschießen scheitert.

Letztmals wurde eine Europameisterschafts-Endrunde mit nur vier Mannschaften ausgetragen. 32 Länder bewarben sich um die Plätze, nur Favoritenschreck Albanien blieb fern. Aber auch der nächste Fußballzwerg, den das Los in eine Gruppe mit dem Welt- und Europameister führte, hatte es in sich. Die besten Kicker der Mittelmeerinsel Malta wehrten sich am 22. Dezember 1974 auf dem Ascheplatz von Gzira mit Haut und Haaren. Sechs Monate nach dem WM-Triumph von München mühte sich die Elf von Bundestrainer Helmut Schön zu einem knappen 1:0-Sieg, den der Kölner Bernd Cullmann sicherte.

Wie 1972 sollte die Qualifikation für Deutschland kein Spaziergang werden. Zwar ungeschlagen, aber doch mit etlichen blauen Flecken (zwei Remis gegen Griechenland) erreichte der Titelverteidiger das Viertelfinale. Erst das wichtigste Länderspiel-Tor in der Karriere von Jupp Heynckes im November 1975 gegen die Bulgaren (1:0) beseitigte die Sorgen, das abschließende 8:0 gegen Malta, als Berti Vogts sein einziges Tor in 96 Länderspielen gelang, die letzten theoretischen Zweifel. Einige Skeptiker aber blieben der Schön-Elf erhalten: "Es ist schwer zu glauben, dass diese Mannschaft trotz aller guten Vorsätze und Ansätze sich so zu steigern vermag wie jene in der Europameisterschaft 1972", schrieb die Süddeutsche Zeitung.

Es war Klagen auf hohem Niveau. Andere große Fußball-Nationen hätten die Sorgen der Deutschen gerne gehabt. England, das schon die WM 1974 verpasst hatte, scheiterte in der Vorrunde ebenso wie der Europameister 1968, Italien. Auch der WM-Dritte Polen, vom Los in eine Todesgruppe mit den Niederlande und besagten Italienern geführt, blieb zuhause. England mochte sich noch damit trösten, dem späteren Europameister Tschechoslowakei in Wembley eine 3:0-Niederlage zugefügt zu haben. Doch im Rückspiel, das wegen dichten Nebels erst im zweiten Anlauf ordnungsgemäß durchgeführt werden konnte (der erste wurde nach 16 Minuten abgebrochen), behielten die Tschechen die Oberhand (2:1).

England in der Fußball-Krise

England war geschockt und musste sich seine Fußball-Krise allmählich eingestehen. Großbritannien entsandte dennoch einen Vertreter ins Viertelfinale. Ausgerechnet sein kleinster Verband, Wales, schaffte den Sieg in einer Gruppe mit Österreich und Ungarn. Ebenfalls im Viertelfinale: Jugoslawien, Belgien, Spanien und – Dynamo Kiew. Was wie ein schlechter Witz klingt, ist doch Fakt: aus organisatorischen Gründen verzichteten die Russen nach dem Aus in der WM-Qualifikation auf den Aufbau einer neuen Nationalmannschaft und schickten einfach ihren Meister als Vertreter der Sowjetunion ins Rennen. Und so kam es, dass ein Verein ins Viertelfinale einer EM einzog, denn Dynamo mit seinem Weltklassestürmer Oleg Blochin war 1975 Europapokalsieger geworden (Pokalsieger-Cup) und hatte auch das Super-Cup-Finale gegen die Bayern gewonnen. Da reichte es dann auch für die Türkei und Irland.

Wie 1972 kam auch das kleine Belgien wieder unter die letzten Acht, obwohl es sich im letzten Heimspiel eine Niederlage gegen die DDR (1:2) leistete. Den Ost-Deutschen, die auch das damals noch zweitklassige Frankreich schlugen (2:1), fehlte am Ende nur ein Punkt zum Gruppensieg. Als die Viertelfinals ausgelost wurden, brannte ein Land ganz besonders auf den Sieg: Jugoslawien hatte sich gleich am Tag nach der Qualifikation um die Ausrichtung der Endrunde beworben. Nun musste nur noch Außenseiter Wales eliminiert werden. Es schien die am wenigsten brisante Paarung zu werden. Dagegen versprach man sich von den Nachbarschaftsduellen zwischen Belgien und den Niederlanden sowie der Sowjetunion und den Tschechen mehr Spannung.

Deutschland traf auf Spanien, das damals weit ungefährlicher war als heute. Und doch machte die Paarung Jugoslawien – Wales letztlich die meisten Schlagzeilen. Den Jugoslawen schlug nach ihrem Hinspielsieg (2:0) in Cardiff Feindseligkeit entgegen, die man von britischen Sportplätzen bis dahin noch nicht gekannt hatte. Unentwegt flogen Flaschen, Büchsen und Klopapierrollen auf den Platz, und als der ostdeutsche Schiedsrichter Glöckner ein Waliser Tor wegen Abseits nicht anerkannte, stürmten Zuschauer das Feld. Fünf Minuten war das Spiel unterbrochen und auch danach gab es noch zahlreiche Störungen von den Rängen. Das half der eigenen Mannschaft aber nichts, sie schied aus (1:1) und – schlimmer noch – wurde wegen ihrer Fans von der Uefa von der nächsten EM ausgeschlossen.

"Die Hölle ist hinter uns", schrieb eine Zagreber Sport-Zeitung. Nun blickten sie voraus auf ein kleines, aber feines Spektakel im eigenen Land. Denn mit Deutschland und den Niederlanden hatten sich die WM-Finalisten von 1974 für die Spiele in Zagreb und Belgrad qualifiziert. Außerdem die Tschechen, von denen die Fachwelt trotz mittlerweile 19 Spielen ohne Niederlage nicht allzu viel erwartete. Noch waren die Panenkas und Nehodas unbeschriebene Blätter. Immerhin ertrotzten sie in Moskau vor 100.000 Zuschauern ein 2:2, was nach dem 2:0 im Hinspiel reichte. Die Russen hatten ihr Prinzip etwas aufgeweicht und "nur" neun Spieler von Dynamo Kiew aufs Feld geschickt. Noch deutlicher war das Polster der Niederländer, die Belgien in Rotterdam bereits 5:0 geschlagen hatten und noch neun WM-Finalisten einsetzten. In Brüssel überanstrengten sie sich am 22. Mai 1976 nicht und gewannen dennoch 2:1.

Comeback von Uli Hoeneß

Am gleichen Tag blickte Fußball-Deutschland nach München, wo die spanischen Wochen ihrem Höhepunkt entgegen strebten. Nachdem zunächst Meister Borussia Mönchengladbach recht unglücklich und danach Titelverteidiger Bayern München umso glücklicher gegen Real Madrid im Landesmeister-Cup die Klingen gekreuzt hatten, ging es nun um die EM-Fahrkarte. Sechs Real-Spieler bildeten das Gerüst der Nationalmannschaft, die Namen Camacho, Pirri und Santillana waren den deutschen TV-Zuschauern nach den Europacup-Schlachten nunmehr ein Begriff.

Im Hinspiel von Madrid hatte man sich 1:1 getrennt, ein spektakulärer 35-Meter-Schuss des Berliners Erich Beer hatte für eine gute Ausgangslage gesorgt. Nun bangten 75.000 Zuschauer im Olympia-Stadion mit dem Titelverteidiger, der mittlerweile auf seine Spanien-Legionäre Paul Breitner und Günter Netzer verzichtete. Der DFB war das ewige Gerangel um die Freigabeerteilung, wozu es damals keine Verpflichtung gab (!), allmählich leid. Es ging auch ohne die Spanier – so war der Tenor jener Tage. Sieben Weltmeister standen beim Anpfiff auf dem Platz und einer ganz besonders im Blickpunkt: Uli Hoeneß.

Der Bayern-Star gab nach einjähriger Pause in Folge eines Kreuzbandrisses sein Comeback. Es geriet zur Sternstunde. Auf Rechtsaußen machte der 24-Jährige eines seiner allerbesten Länderspiele und ganz gewiss "das schönste Tor in Ulis Laufbahn", wie der Kicker schrieb. Kurz nachdem Spaniens Quini die Latte getroffen hatte, schraubte sich Hoeneß artistisch in die Lüfte und donnerte eine Flanke von Beer ins spanische Tor. Die Spanier waren wie vom Blitz getroffen. Was Petrus, der an diesem Tag ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über München entlud, nicht schaffte, das schaffte Uli Hoeneß. Später traf er noch den Pfosten und seine Spurts rissen das Publikum immer wieder zu Beifall hin. Der galt ohnehin der ganzen Elf.

Wie 1972 in Wembley bot Deutschland sein bestes Spiel im Viertelfinale, nun aber war es das Rückspiel. Es war beinahe schon entschieden, als der andere "Neuling" sein Tor machte. Während Hoeneß sein Comeback gab, gab der Kaiserslauterer Klaus Toppmöller auf der seit Gerd Müllers Rücktritt seit zwei Jahren vakanten Mittelstürmer-Position sein Debüt. In der 43. Minute hatte sich das Risiko, das Helmut Schön in solch einem wichtigen Spiel eingegangen war, schon gelohnt: Nach einem Beckenbauer-Schuss, den Miguel Angel nicht festhalten konnte, staubte "Toppi" ab. Das 2:0 war Pausen- und Endergebnis. Muhammad Ali, amtierender Box-Weltmeister, muss es geahnt haben. Er verließ das erste Fußballspiel seines Lebens mit Entourage schon zur Halbzeit mit einem nicht sehr sachkundigen Kommentar auf den Lippen: "Langweilig." Das war es nie.

Schön lobt den "hervorragenden Geist"

Im Platzregen riss danach freilich der Spielfluss auf beiden Seiten etwas ab und die wenigen spanischen Chancen meisterte Sepp Maier gewohnt sicher. Hinterher war der Jubel groß, der Kicker prophezeite: "So bestehen wir auch in Belgrad!"

Bundestrainer Helmut Schön lobte den "hervorragenden Geist" seiner Elf, dämpfte aber auch die Erwartungen: "Noch sind wir nicht die Mannschaft, die wir einmal waren, aber auf dem Weg dorthin." Kapitän Franz Beckenbauer dagegen gab den Pessimisten: "Ich bezweifele sehr, dass wir die unheimlich heimstarken Jugoslawen vor 100.000 Zuschauern in Belgrad schlagen können. Und falls wir das tatsächlich schaffen sollten, treffen wir im Endspiel bestimmt auf die Holländer, die mindestens so gut sind wie bei der WM und nun auf Revanche sinnen. Das wird also noch schwerer!"

Schon damals wagte dem Kaiser kaum jemand zu widersprechen und so musste ihn die Realität in allen Punkten widerlegen. Mitte Juni nahmen die Dinge ihren Lauf. Die Europameisterschafts-Endrunde war noch immer eine kleine Veranstaltung, auf die man sich vorbereitete wie auf eine Länderspielreise. Einen Tag nach Abschluss der Bundesliga-Saison 1975/76, aus der erneut Borussia Mönchengladbach als Meister hervorging, versammelte Helmut Schön 18 Spieler in der Sportschule Grünwald, wo sie bis einen Tag vor dem Halbfinale gegen die Jugoslawen blieb. Zwei weitere – Braunschweigs Torwart Bernd Franke und Münchens Dauerläufer Bernd Dürnberger – blieben auf Abruf bereit.

An Trainingslager, Regeneration oder Testspiele wurde kein Gedanke verschwendet, es war schlicht keine Zeit dafür. Am Mittwoch, den 16. Juni, vormittags um elf ging der Europameister in die Luft um wieder nach den Sternen zu greifen. Immerhin standen ja noch acht Weltmeister im Aufgebot und das bisher so segensreiche Prinzip der Blockbildung der BM-Mannschaften Bayern München und Borussia Mönchengladbach sollte wieder Früchte tragen. Je vier Spieler aus diesen Klubs liefen gegen die Jugoslawen auf, dazu ein Duisburger (Bernard Dietz), ein Frankfurter (Bernd Hölzenbein) und ein Berliner (Erich Beer). Beer, im Klub im Mittelfeld eingesetzt, war der nächste Versuch, die Müller-Nachfolge-Suche endlich ad acta zu legen. Shooting-Star Toppmöller hatte sich durch einen Autounfall noch selbst aus dem Kader katapultiert, Torschützenkönig Klaus Fischer von Schalke 04 war als Skandal-Sünder noch immer für Länderspiele gesperrt.

Dieter Müller fährt ohne Länderspiel-Erfahrung mit

Und so nahm Schön als Alternative den 22-jährigen Kölner Dieter Müller mit, der ebenso wie HSV-Verteidiger Peter Nogly ohne jegliche Länderspiel-Erfahrung war. Überhaupt war die zweite Reihe ziemlich grün: die sieben Reservisten kamen zusammen auf 26 Länderspiele, von denen Kölns Heinz Flohe alleine 19 bestritten hatte. Viel durfte also nicht passieren in Jugoslawien, aber für zwei Spiele schienen die Deutschen gewappnet. Dass es Dramen werden würden, die beide in die Verlängerung gingen, das ahnte wohl nicht mal Pessimist Beckenbauer. Der lehnte jedenfalls die Favoritenrolle ab: "Vor vier Jahren hatten wir es leichter, weil die Konkurrenz schwächer war."

Die Konkurrenz machte den ersten Schritt in diesem Mini-Turnier und als am 16. Juni 1976 nach zwei Stunden in Zagreb der Abpfiff erklang, hatte es seine erste Überraschung. Außenseiter Tschechoslowakei, vorwiegend aus Spielern von Meister Slovan Pressburg bestehend, schlug die Niederländer mit 3:1. Es war ein Skandalspiel, das die EM noch nicht gesehen hatte und so bald auch nicht mehr sehen würde. Der Waliser Unparteiische Clive Thomas sah sich zu drei Platzverweisen gezwungen; zwei gegen die Niederländer Johan Neeskens und Wim van Hanegem. Der große Johan Cruyff wurde wegen Schiedsrichter-Beleidigung verwarnt, weshalb er für das nächste Spiel gesperrt war. Was ihm nach der Niederlage herzlich egal gewesen sein dürfte. Er reiste sofort ab und stellte drei Bedingungen für seine Rückkehr: "Mehr Geld für Nationalspieler, weniger Training und weniger Trainingslager."

Die deutsche Mannschaft, die das Spiel im Belgrader 1200-Betten-Hotel "Jugoslawija" sah, verspürte wenig Mitleid mit den Nachbarn. Uli Hoeneß sagte: "Es wurde höchste Zeit dass Herr Cruyff einmal spürte, dass der Fußballplatz nicht dazu da ist, sich mit seinen Eitelkeiten zu produzieren. Mit seiner Sperre hat er die verdiente Quittung erhalten." Das Spiel entgleiste kurz nachdem Tschechen-Libero Ondrus für beide Mannschaften getroffen hatte – das 1:1 war ein Eigentor (73.). In der Verlängerung nutzten die überlegenen Tschechen die durch van Hanegemens Rot entstandene Überzahl aus, Nehoda und Vesely schossen den Vize-Weltmeister aus dem Titelrennen.

Deren deutscher Trainer Georg Kessler gestand: "Das war eine enttäuschende Leistung meiner Mannschaft. Außerdem muss ich auch sagen, dass unter diesen widrigen Umständen gar nicht hätte angepfiffen werden dürfen." Er meinte den Dauerregen, der an der dürftigen Kulisse (17.879) nicht ganz unschuldig gewesen sein dürfte. Die Tschechen platzten dagegen vor Stolz. Trainer Vaclav Jezek: "Wir haben prächtig gespielt. So haben wir auch im Finale eine Chance." Der Kicker bilanzierte ungewohnt poetisch: "Die CSSR, das Mauerblümchen dieser Europameisterschaft, ist plötzlich zur strahlenden Blume geworden."

Am nächsten Tag, man schrieb den 17. Juni und in der Bundesrepublik wurde der Tag der Deutschen Einheit gefeiert, wurde ihr Gegner ermittelt. Die Jugoslawen, die für Ihre EM extra die Saison unterbrochen hatten, brannten auf den Europameister. In Branko Oblak (Schalke) und Danilo Popivoda (Braunschweig) standen zwei Bundesliga-Gastarbeiter im Team, die Trainer Ante Mladinic wertvolle Tipps geben konnten. Popivoda machte sich auch anderweitig nützlich und brachte den Hexenkessel der 70.000 im Stadion von Roter Stern zum Kochen: nach 18 Minuten überwand er Sepp Maier zum 1:0. Die Deutschen waren geschockt, Angriff auf Angriff rollte auf ihr Tor und nach 32 Minuten traf auch Dzajic – 0:2 zur Pause.

Schön bringt Flohe für Danner

Schön brachte Flohe für den überforderten Mönchengladbacher Dietmar Danner. Ein guter Griff des Bundestrainers, wie sich bald zeigen wird. Flohe fand sofort ins Spiel, bereitete zwei Chancen vor und nach 65 Minuten traf er gar ins Tor – noch leicht abgefälscht von Hacki Wimmer. Die Minuten verrannen, ein Retter wurde gesucht. In der 79. Minute erhielt die DFB-Elf eine Ecke und bevor sie ausgeführt wurde, wechselte Schön Neuling Dieter Müller ein. Es folgte das spektakulärste Debüt in der über hundertjährigen Länderspiel-Geschichte Deutschlands. 40 Sekunden erst war Müller auf dem Feld, da segelte der Ball nach Bonhofs Ecke genau auf seinen Kopf. Niemand störte ihn, die Jugoslawen hatten ihn noch gar nicht wahr genommen. Ein schwerer, folgenreicher Fehler: mit seinem ersten Ballkontakt glich Müller aus. Nun hatte der Kölner Blut geleckt und in der Verlängerung schoss er nach Vorlagen von Hölzenbein und Bonhof noch zwei Tore (115., 119.). Was für ein Einstand! Ein Star war den Deutschen geboren und sein Name verhieß nichts Gutes für den Rest der Welt. Schon nach dem 3:2 herzte ihn Beckenbauer mit den Worten "Wir haben wieder einen Müller" und in der Kabine sagte Sepp Maier: „Es wird wieder gemüllert in der National-Elf!".

Die jugoslawische Zeitung "Borba" schrieb: "Ein Müller ist gegangen, ein anderer ist gekommen." Dass "ich auch viel Glück gehabt habe an dem Tag", gab Müller später noch oft zu. Es erscheint schon erstaunlich, wie frei ein Stürmer bei einem dermaßen bedeutenden Spiel zum Schuss kommen durfte – aber die demoralisierten Jugoslawen waren auch am Ende ihrer körperlichen Kräfte als der 22-jährige Müller erst so richtig los legte. Natürlich konnte Helmut Schön diesen Wunderknaben nicht aus der Elf nehmen, die am 20. Juni das Finale an gleicher Stelle bestreiten sollte.

Dass es nicht ausverkauft war, stand zu befürchten. Die Jugoslawen waren enttäuscht vom Aus ihrer Helden und ließen ihre bereits erworbenen Endspieltickets teilweise verfallen. Das Spiel um Platz drei straften sie mit Missachtung: die 2:3-Niederlage (n. V.) gegen die Niederländer sahen in Zagreb offiziell nur 6766 Zuschauer. 324.000 Tickets wurden für die vier Spiele angeboten, nur 106.000 erworben.

Kicker-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann schrieb schon zwei Tage vorher: "Hat die Europameister-schaft in ihrer jetzigen Form noch eine Zukunft? Ich meine, wenn man ein Finalturnier mit vier Mannschaften durchführt, dann soll jeder gegen jeden spielen. Zwei Halbfinalspiele, deren Sieger um den Titel und die Verlierer um den 3. Platz spielen zu lassen, das hat sich nicht bewährt. Ein Fest des europäischen Fußballs, so wie es die WM für die ganze Welt ist, wird eine Europameisterschaft so sicher nie werden." Mit seiner Meinung stand er nicht alleine - und sie sollte sich durchsetzen.

FIFA-Präsident Havelange: "Eine Werbung für den Fußball"

Einmal aber ging es noch wie bisher weiter und das Finale war alles andere als langweilig. FIFA-Präsident Joao Havelange kam sogar zu dem Urteil: "Eine Werbung für den Fußballsport. So wird der Fußball lange leben."

Die Erinnerung an die 120 Spielminuten mit Zusatzqual vom Elfmeterpunkt lebt bis heute in Deutschland, Tschechien und der Slowakei fort. Wann immer ein Elfmeter besonders raffiniert verwandelt oder unkonzentriert verschossen wird, schweifen die Gedanken jener, die das Drama erlebt haben, ab nach Belgrad. Dass es überhaupt zum bis dahin noch nie bei Turnieren ausgetragenen Elfmeterschießen kam, wurde erst am Vorabend auf DFB-Initiative beschlossen. Präsident Hermann Neuberger einigte sich mit den Tschechen und der UEFA darauf. Eigentlich hätte am Dienstag ein Wiederholungsspiel stattfinden sollen, aber das fand Helmut Schön "mörderisch".

Das Finale vor 35.000 Zuschauern sollte eigentlich zur erneuten Kaiserkrönung werden, schließlich bestritt Franz Beckenbauer als erster Deutscher überhaupt sein 100. Länderspiel. Nur mit einem Sieg wäre das Jubiläum perfekt, aber darauf nahmen die Tschechen natürlich keine Rücksicht. DFB-Präsident Neuberger tat das Seine, um die Spieler anzustacheln und erhöhte die Siegprämie spontan von 10.000 auf 15.000 D-Mark. Die Tschechen, witzelte Trainer Jezek, wären schon damit zufrieden gewesen, dass "wir am Dienstag oder Mittwoch von unserem Ministerpräsidenten empfangen werden. Das ist Belohnung genug für uns." Doch auf dem Feld sah man zunächst nicht, für wen es angeblich nur um die Ehre ging.

Wie im Halbfinale verschlief die Schön-Elf den Start gehörig: und noch früher als am Donnerstag hieß es an jenem Sonntag 0:2. Svehlik (8.) und Dobias (25.) nutzten Abwehrfehler des Welt- und Europameisters, die man lange nicht gesehen hatte. Stand doch mit Ausnahme des Duisburger Linksverteidigers Bernard Dietz die Abwehrkette von München auf dem Platz. Aber wiederzuerkennen war sie nicht. Aber, auch das andere, kämpferische, Gesicht der Nationalelf trat wieder zutage. Und wieder bewies Dieter Müller seinen Torinstinkt: drei Minuten nach dem 0:2 verwandelte er eine Vorlage von Rainer Bonhof. Zweites Länderspiel, viertes Tor – und das bei einer EM-Endrunde. So hat noch keine Länderspielkarriere begonnen.

Derwall sucht die Elfer-Schützen

Nach der Pause entwickelte sich ein dramatisches Spiel, beide Seiten trafen den Pfosten. Schön wechselte erneut Heinz Flohe und nach 80 Minuten den Schalker Hannes Bongartz ein, der erst sein zweites Länderspiel bestritt. In der 83. Minute versuchte Beckenbauer sein Jubiläum zu retten und drang in den Strafraum ein, wo er von Dobias gefoult wurde. Aber der italienische Schiedsrichter Gonella pfiff nicht.

Die letzte Minute: es gab noch einmal Ecke für Deutschland, Bonhof schoss sie scharf in den Fünfmeterraum. Nah ans Tor, zu nah eigentlich. Der phantastische Tschechentorwart Ivo Viktor kam zu spät, Bernd Hölzenbein erwischte den Ball mit dem Kopf einen Tick vor ihm und plötzlich hieß es 2:2. Ein Last-Minute-Tor, wie es Schnellinger in Mexiko oder Weber in Wembley gelungen war. Es wurde gar nicht mehr angepfiffen, Verlängerung. In selbiger schwanden die Kräfte auf beiden Seiten, immer wieder gab es Unterbrechungen wegen Wadenkrämpfen. Nur Tore gab es keine mehr und so musste der DFB erstmals in seiner Historie in ein Elfmeterschießen. Was neu ist, konnte noch nicht eingeübt sein und so mangelte es an willigen Schützen. Co-Trainer Jupp Derwall machte sich auf die Suche. In einem Jahrbuch des Copress-Verlags sind die Antworten der von Derwall angesprochenen Spieler dokumentiert.

Bernard Dietz: "Nein, ich nicht. Ich fall auf der Stelle um. Ich bin kaputt."

Franz Beckenbauer: "Oje, ich weiß nicht, ob ich mit meiner verletzten Schulter (!) schießen kann."

Uli Hoeneß: "Ich kann nicht. Ich bin völlig ausgepumpt."

Katsche Schwarzenbeck: "Ich habe neun Jahre keinen Elfmeter geschossen. Warum soll ich ausgerechnet heute?"

Sepp Maier meldet sich freiwillig: "Dann schieße eben ich."

Beckenbauer: Kommt nicht in Frage. Du gehst ins Tor. Basta, ich schieße schon."

Maier: "Dann schieße ich für den Uli."

Hoeneß: "Lass mal Sepp. Ich schieße schon."

Noch sind es nicht genug, da fragt Helmut Schön Dieter Müller.

Müller: "Ich hab nicht die Nerven dazu. Das ist doch erst mein zweites Länderspiel."

Heinz Flohe: "Ich fühle mich sicher."

Nun sind es mit Bonhof, den keiner fragen musste, Hoeneß, Flohe und Beckenbauer vier. Da meldet sich Hannes Bongartz: "Okay, ich bin auch dabei."

Wer den über die Jahrzehnte gewachsenen Ruf von den eiskalten deutschen Elfmeterschützen kennt, die seit 1976 ein solches Stechen nie mehr verloren haben, muss sich doch etwas wundern über die Anfänge in dieser Spezial-Disziplin. Leider bestätigte sich an diesem Tag jedoch der Ruf von Sepp Maier, kein ausgewiesener Elfmeterkiller zu sein. So reaktionsschnell "die Katze von Anzing" auch war, beim Pokerspiel vom Punkt lag sie leider meist daneben. Und so war es auch in Belgrad. Masny, Nehoda, Ondrus und Jurkemik überwanden ihn, auf deutscher Seite glichen Bonhof, Flohe und Bongartz dreimal aus. Dann kam Uli Hoeneß an die Reihe. Der Mann, der nicht schießen wollte, es aber tat "weil sich kein anderer fand und ich der Verantwortung nicht ausweichen wollte."

Hoeneß donnert den Ball in den "Belgrader Nachthimmel"

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Aber er war ihr mehr körperlich denn geistig nicht gewachsen. Hoeneß erzählte den Reportern treuherzig: "Normalerweise achte ich auf den Torwart und schiebe den Ball in die Ecke. Weil ich jedoch so ausgelaugt war, wollte ich kein Risiko eingehen und den Ball mit voller Wucht ins Tor jagen." Nun, er schoss ihn ein bisschen zu wuchtig und vor allem zu hoch. Gar nicht so deutlich über das Tor, wie es in der Rückschau gern dargestellt wird, wenn gewitzelt wird, dass man den in den "Belgrader Nachthimmel" geschossenen Ball immer noch suche.

Natürlich schoss er ihn nicht aus dem Stadion, aber eben so offensichtlich unkonzentriert, dass sein Schuss als Prototyp des missratenen Elfmeters durchgeht. Genau das hoffte er nicht, als er am nächsten Morgen im Hotel einem Reporter sagte: "Nun muss ich mich aber wohl nicht hundert Jahre mit Vorwürfen plagen?"

Aber weil es das einzige Elfmeterschießen war, das eine deutsche Mannschaft bei Turnieren je verloren hat, muss er sich öfter daran erinnern, als ihm lieb ist. Die Niederlage perfekt machte jedoch ein anderer Elfmeter. Der Schuss von Antonin Panenka war der Gegenentwurf zur Hoeneß-Methode. Frech bis zur Dreistigkeit schnippelte Panenka den Ball in die Tormitte, im Vertrauen darauf, dass Maier sich schon eine Ecke suchen würde. Und so war es – 5:3. Ende. Aus. Vorbei. Die Tschechen waren erstmals Europameister, ein Land war aus dem Häuschen. Zehntausende erwarteten die Helden bei der Landung in Prag und feierten "die Meisterelf aus dem Nichts", wie sie genannt wurde.

Die Deutschen hatten nichts zu feiern, aber natürlich gab es noch einen Umtrunk im Mannschaftskreis. Immerhin waren sie Vize-Europameister geworden und zumindest Franz Beckenbauer kehrte nicht mit leeren Händen heim. Der DFB schenkte ihm für sein 100. Länderspiel eine Skulptur aus Gold und Silber, die eine Spirale darstellte – die seinen Aufstieg symbolisierte. Dass der Silberpokal, für den sie nach Jugoslawien gekommen waren, nicht danebenstand, verzieh er Sünder Uli Hoeneß schon am nächsten Morgen am Flughafen. Kameradschaftlich sagte der Kaiser: "Uli, das hätte mir auch passieren können."